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Kapitel 6

La Verdad, Juli 1998

Im Morgengrauen schleppte sie sich aus der Dusche und betrachtete ihr Gesicht im Badezimmerspiegel.

Nicht so gut, entschied sie, während sie in ihre eigenen schläfrigen Augen sah. Missmutig strich sie sich über die Wangen. Sie hatte Hautpflege nie für Luxus oder Zeitverschwendung gehalten. Das war schlicht etwas, das sie routinemäßig tat, genau wie jeden Morgen die Pferde zu versorgen.

Carmela hatte in der letzten Zeit die grundsätzlichsten Dinge vernachlässigt, fand sie, und zupfte an den Stirnfransen. Es zeigte sich, und es wurde Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Nachdem sie ein Handtuch um ihre feuchten Haare geschlungen hatte, öffnete sie den Spiegelschrank. Der nächste Kosmetiksalon war etliche Kilometer entfernt. Doch es gab Zeiten, da musste man die Dinge eben selbst in die Hand nehmen, sagte Carmela sich, während sie eine Algenmaske auflegte.

Sie spülte gerade die Hände ab, als sie schnelles, hohes Bellen hörte. Dieser Hund will sein Frühstück, dachte Carmela trocken. In ihrem Frotteebademantel mit dem zerschlissenen Saum, ein kariertes Handtuch um ihre Haare geschlungen, ging sie nach unten, um sich um Rambo zu kümmern. Laura war bereits unterwegs zur Schule. Carmela erreichte den untersten Treppenabsatz, als ein Klopfen an der Tür den putzigen West Highland Terrier in Hektik ausbrechen ließ.

„Reg dich ab, Rambo“, befahl sie und klemmte ihn unter einen Arm. „Bestimmt ist das Laura, weil Señorita wieder mal etwas vergessen hat.“ Rambo senkte den Kopf und knurrte, als sie die Haustür öffnen wollte. Doch die klemmte. Fluchend setzte Carmela den Hund ab und zerrte mit beiden Händen.

Plötzlich flog sie auf, der Schwung ließ Carmela ein paar Schritte zurücktaumeln. Der Hund jagte durch die nächste Pforte, schob seinen Kopf um den Holzrahmen herum und knurrte, als meinte er es todernst. Enrique starrte auf Carmela, die keuchend in der Diele stand. Sie stieß den Atem aus und fragte sich, was als Nächstes passieren konnte.

„Ich dachte immer, das Landleben wäre friedlich.“

Enrique hakte grinsend seine Daumen in die Taschen seiner Jeans. „Nicht unbedingt. Habe ich dich geweckt?“

„Sehr witzig. Ich bin schon eine ganze Weile auf“, antwortete sie leichthin.

„Mhm.“ Sein Blick wanderte über ihre Beine, die sich unter dem kurzen Bademantel zeigten, bevor er sich auf den in der Tür kauernden Rambo richtete. „Der kann einem ja Angst einflößen.“

Carmela blickte auf den Terrier, dem drohende Laute aus der Kehle rollten, der aber trotzdem sorgfältig auf Abstand achtete.

„Lauras Liebling.“

„Wie heißt er?“

Carmela warf dem sich duckenden Vierbeiner einen trockenen Blick zu. „Rambo.“

Enrique sah zu, wie der kleine Hund hinter der Wand verschwand. „Sehr passend. Willst du ihn als Wachhund ausbilden?“

„Ich werde ihm beibringen, wie man besserwisserische Mannsbilder anfällt.“

Sie hob die Hand, um sich durch die Haare zu streichen – eine alte Gewohnheit –, und stieß auf das Handtuch.

„O nein“, murmelte Carmela, als Enriques Grinsen breiter wurde. „Oh, verdammt!“ Sie drehte sich um und jagte zur Treppe. „Nur einen Moment.“

Zehn Minuten später kam sie völlig gefasst wieder nach unten. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden. Auf ihrem Gesicht hatte sie eine leicht getönte Tagescreme aufgetragen. Sie hatte das Erstbeste angezogen, was ihr in ihrem Zimmer in die Hände gefallen war. Die engen schwarzen Jeans bildeten einen interessanten Kontrast zu dem weiten grauen Sweatshirt. Enrique saß auf der untersten Stufe und versetzte einen feigen Terrier in Ekstase, indem er ihm den Bauch kraulte. Carmela blickte stirnrunzelnd auf Enriques Kopf herunter.

„Du hättest kein Wort gesagt, nicht wahr?“

Er kraulte weiterhin den Vierbeiner, ohne sich die Mühe zu machen, aufzublicken. „Worüber?“

Carmela kniff die Augen zusammen und verschränkte ihre Arme. „Nichts. Wolltest du etwas mit mir besprechen?“

„Willst du immer noch einen gesonderten Corral?“

„Ja, selbstverständlich“, antwortete sie unfreundlich. „Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, ständig meine Meinung zu ändern.“

„Fein. Dann werden wir den Bereich der neuen Koppel heute Nachmittag einzäunen.“ Er stand auf und sah sie an, während der Hund erwartungsvoll vor seinen Füßen saß.

„Sonst noch was?“ Carmela neigte den Kopf und trat näher. „Oder ist das alles, Chef?“ Enrique erkannte eine Herausforderung, wenn er eine hörte. Impulsiv legte er seine Hand auf ihr Haar. Sie zuckte nicht zusammen und zog sich auch nicht zurück, sondern hielt ganz still.

„Schönes Haar“, murmelte er. „Sehr hübsch. Du kümmerst dich darum, Carmela. Ich kümmere mich um deine Koppel.“

Damit ließ er sie so zurück, wie sie war – die Arme verschränkt, den Kopf zurückgelegt, die Augen erstaunt geweitet.

Vor dem Abladen des Wallachs ging Carmela zu Enrique. Sie gingen zusammen zum Stall, wo sich wenig später auch ein Pferdepfleger einfand. Die Ankunft des Pferdes hatte ihn neugierig gemacht.

Das Fell des Wallachs war feucht vom Schweiß der Aufregung und seine bebenden Nüstern weit geöffnet. „Schönes Pferd“, sagte der Pferdepfleger, als Carmela ihn vom Hänger führte.

Enrique nickte. Carmela hatte Mühe, den Wallach am Strick zu halten. Sie führte ihn im Kreis, bis er sich etwas beruhigt hatte, und brachte ihn dann in einen gesonderten Stall. Er war fast leer. Nur noch ein alter Wallach und ein Kabardiner standen in den beiden hinteren Boxen.

„Ist der Besitzer nicht anwesend?“, fragte Enrique interessiert.

„Nein. Er vertraut mir, da er mir bereits in der Vergangenheit zwei seiner Tiere in Behandlung gegeben hatte.“ Carmela tätschelte seinen Hals. „Ja, ist ja gut, mein Junge. Wir werden dich jetzt schön trocken reiben, und dann gehen wir zur Koppel und schauen mal, was wir dir Gutes tun können.“

„Wie heißt er?“ Enrique beobachte Carmela aufmerksam. Er fühlte etwas Unbehagen, als er sah, wie zutraulich Carmela mit diesem kranken Pferd umging.

„Er heißt Eliot.“

„Hättest du was dagegen, wenn ich nachher auf der Koppel anwesend bin?“

„Nein. Solange du hinter dem Zaun bleibst.“

„Einverstanden. Ich werde nur zuschauen. Es interessiert mich, wie du mit … nun ja, verstörten Pferden arbeitest.“

Carmela trocknete Eliot vorsichtig ab, redete beruhigend auf ihn ein und sah sich um. Ein Pferdepfleger putzte Acado, Vaters Lieblingspferd. Laura war mit Laluna beschäftigt.

„Hier ist man ja richtig fleißig!“, sagte Carmela.

Laura lächelte zuerst ihrer Mutter zu und dann Enrique.

„Ist doch bei uns so üblich“, warf ihr Laura über Lalunas Rücken zu.

„Was machen deine Hausaufgaben?“

„Ist nicht viel, hat bis heute Abend Zeit.“

„Ich werde dich daran erinnern.“

Laura nickte nur.

Carmela zog den Anbindestrick über Eliots Ohren und führte ihn langsam aus der Box. Sie spähte zu Enrique hinüber. Er unterhielt sich mit einem Arbeiter über die Stiere, die für den Stierkampf auszuwählen waren. Und sie sprachen über die Aufteilung der Crew.„Okay, bis später!“, rief Enrique und wandte sich Carmela zu. „Auf geht’s. Bin schon gespannt.“

Sie verließen den Stall, und Carmela ging langsam neben Eliot in den Corral. Enrique schloss das Gatter hinter ihr und stützte beide Unterarme auf die oberste Holzbohle.

Carmela fing mit ihrem üblichen Programm an, das Pferd einige Runden galoppieren zu lassen. Dann sah sie Eliot zu, wie er sich im Sand wälzte. Sein pechschwarzes Fell war grau, als er sich in einer Staubwolke auf die Hufe stemmte und schüttelte. Carmela ging langsam auf ihn zu und streichelte ihn. Sie spürte, wie der Wallach eine Verbindung zu ihr herstellte. „Du bist ein intelligentes und misstrauisches Pferd“, sagte Carmela. „Du bist getäuscht worden, und ich werde dir das Vertrauen wiedergeben.“ Carmelas Stimme hatte diesen lang gezogenen, dunklen Klang. Die Ohren des Pferdes schoben sich langsam nach vorn. Carmelas Tonfall wurde sanft, einschmeichelnd, es war die Stimme, die sie für Opus hatte, für die übrigen Pferde, mit denen sie arbeitete, es war die Stimme, die Eliot heute aus dem Transporter gelockt hatte. Nun stellte sich Carmela vor den Wallach. Eliot streckte den Kopf weit vor und atmete den Geruch dieser Fremden ein. Carmela bemerkte an ihm keine Spur von Angst mehr. Er ließ seine Ohren spielen. Er war entspannt. „Komm nur, Junge. Komm zu mir.“

Eliot reckte den Kopf nach ihr. Carmela trat einen halben Schritt zurück, und der Wallach folgte ihr.

Ein ganzer Schritt rückwärts. Eliot zauderte, scharrte, warf einen prüfenden Blick auf seine Umgebung, dann konzentrierte er sich wieder auf Carmela. „Komm, mein Junge, komm zu mir.“

Das Pferd schnaubte, scheute halbherzig mit kaum erhobenen Vorderläufen, aber seine Augen waren beständig auf Carmela gerichtet. Dann stand er still, am ganzen Leibe zitternd vor Spannung über dieses unerklärliche, nie da gewesene Ereignis; und der Wallach, das erkannte Carmela, fühlte nicht den Wunsch zu kämpfen, sondern vielmehr Vertrauen. Das Trauma war beseitigt.

Sie gab Enrique ein Zeichen, dass er die Koppel betreten sollte. Carmela trat neben ihn und sah ihm tief in die Augen. „Jetzt bist du dran. Gewöhn ihn an einen Reiter.“

Eliot scharrte ungeduldig mit dem Huf auf dem Sandboden. Carmela ruckte ein bisschen an dem Strick, bis der Wallach sich beruhigte.

Er beobachtete, wie Carmela, Laura und an ihrer Seite José Sánchez über den Sand gingen, schließlich den Bohlenzaun erreichten, der das Trainingsareal umgrenzte, und die Unterarme auf die oberste Stange stützten. Enrique lehnte sich ohne Sattel nach vorn. „Das war haarig, aber wir machen das schon. Die drei werden eine hübsche Vorstellung kriegen. Vergiss sie einfach. Ich bin ja da.“ Ein leichter Schenkeldruck, und der Wallach setzte sich in Bewegung. Zuerst ritt Enrique ihn in einem kleinen Kreis, in sicherer Entfernung von den Zuschauern. Allmählich weitete er den Durchmesser des Kreises aus. Er sprach auf den Wallach ein und beruhigte ihn, bis er die Gestalten jenseits des Areals kaum mehr beachtete, und dann ließ er ihn zunächst, versuchshalber, eine Volte traben, die gut gelang. Er wechselte darauf von Mitteltrab in gestreckten Trab, und das Pferd war geschmeidig und konzentriert unter ihm. Er legte die Schenkel fester an das Pferd. Und aus leicht scheinendem fließenden Trab vollzog sich mühelos die Wandlung zu den kurzen, hohen, anmutigen Bewegungen einer Piaffe, in der das Pferd unter sich tritt, gesammelt, ganz auf den Wunsch des Reiters eingestellt.

„Schön.“ Enrique brauchte nicht nach den Gestalten da am Zaun zu blicken, um ihrer Anerkennung, ja ihrer Bewunderung sicher zu sein. „Jetzt werden wir noch ein kleines Extra dazugeben“, murmelte er, lenkte Eliot in die Mitte der Bahn. Enrique verlagerte sein Gewicht, und es schien, als spiele er mit seiner Mähne. Der Wallach hob sich scheinbar schwerelos in eine vollendete Levade. Und verharrte in dieser Position sekundenlang unter seinem Reiter, bis dieser seine Mähne losließ, gleichzeitig die Schenkel fester nahm – und aus der graziösen Levade wurde eine kriegerisch anmutende Kapriole.

„Wunderbar, Señor, wunderbar hast du das gemacht – wunderbar, und das vor Zuschauern! Vielleicht gar nicht schlecht, dass sie da sind, da gewöhnst du dich gleich wieder ein bisschen an Fremde – na, haben dir die da drüben was getan? Haben sie nicht. Du hattest keine Angst vor ihnen, musstest du ja auch wirklich nicht. Und so wie die da – so sind eigentlich alle, die zusehen. Das wirst du lernen – wieder lernen –, wenn du vor großem Publikum arbeitest.“ Der Wallach schnaubte. Sein Fell war jetzt trocken. In der Konzentration auf die Arbeit hatte er seine Angst vergessen. Er war entspannt: Sein Reiter war zufrieden mit ihm; er wusste, er hatte seine Sache gut gemacht. „Jetzt“, sagte die Stimme über ihm, „jetzt noch ein kleiner Galopp, um dich zu lockern, dann Trockenreiten – und Box. Also los!“ Die Stimme war auffordernd, und er fiel auf den intensiven Schenkeldruck seines Reiters in einen zunächst zögernden, dann mehr und mehr raumgreifenden Galopp entlang des Geheges. Enrique klopfte anerkennend seinen Hals. „Wunderbar, wunderbar. Wollen wir jetzt langsam Feierabend machen? Feierabend.“

Der Wallach fiel auf das vertraute Wort hin in leichten Trab und kam dann zum Stehen. „Schön. Sehr fein. Nun noch ein paar Runden im Schritt.“

Danach schnoberte er in den Sand, sein Körper wurde lang und entspannt, die Schritte wurden nachlässig wie die eines weidenden Pferdes.

Aus der Entfernung konnte Enrique gerade noch hören, was da drüben am Zaun gesprochen wurde.

„Wunderbar“, sagte ein Pferdepfleger, der sich zu ihnen gesellte, an Carmela gewandt. „Du sagtest doch, dieses Pferd sei völlig verstört gewesen, als es gebracht wurde. Und jetzt – jetzt! Es ist wieder ein perfektes Reitpferd!“

„Solange Enrique auf ihm sitzt. Er gewinnt schnell das Vertrauen verstörter Pferde, ich weiß nicht, wie er’s macht, er scheint sie irgendwie zu verstehen, so wie du, Carmela, und du dann weißt, wie du sie behandeln musst. – Aber es kostet noch mal so viel Zeit, wie er braucht, diese Tiere unter ihm reitbar zu machen, um sie dazu zu bringen, auch unter einem anderen gut zu gehen“, sagte José Sánchez.

„Es ist einen Versuch wert“, sagte Carmela entschlossen. „Gott!“ Sie schwieg einen Augenblick, und ihre Augen wanderten verloren über den sandigen Boden, hoben sich schließlich von den trockenen, schmalen Fesseln Eliots bis zu der glatten Stirn und dem dunklen Haar seines Reiters. „Du weißt es ja, Vater, es geht mir darum, das Pferd im Ganzen zu heilen. Aber so, wie es jetzt ist, ist es für den Anfang ein großer Erfolg. Er lässt sich anfassen und reiten.“

„Ja, ja, ich weiß, ein Jammer, wenn er morgen wieder in seinen alten Zustand verfallen würde.“ José tätschelte Carmelas Hand.

„Ich glaube, er hat die größten Blockaden abgebaut, und morgen werden wir noch ein kleines Update machen, und dann kann ihn sein Besitzer wieder abholen lassen.“ Carmela fühlte sich entspannt.

„Enrique könnte es, mit dir gemeinsam, denke ich. Das sagte ich dir ja schon am Anfang.“ José lachte wohl wissend.

„Ja, jetzt, wo ich ihn beobachtet habe, denke ich das auch. Und du glaubst, er wird sich mit dieser Arbeit zufriedengeben?“

„Das müssen wir ihn selbst fragen, Liebes. Ich denke, er wird es tun. Pferde liebt er über alles. Ich sagte ja schon, er kann manchmal furchtbar eigensinnig sein.“

Laura mischte sich mit einem Lächeln ein und sagte: „Ich mag diesen Mann. Es gefällt mir, wie er mit den Pferden umgeht. Ich glaube, der gibt nicht so leicht auf.“ Sie sah ihre Mutter an. „Wie du. Du gibst auch nie auf. Wenn du dich festgebissen hast, arbeitest du immer weiter. Jedes Pferd, und sei es noch so verstört, hast du wieder hingekriegt.“

Carmela war von dem Kompliment ihrer Tochter geschmeichelt. Ja, es stimmte. Pferde waren die Liebe ihres Lebens, und was für ein unverschämtes Glück war es, dass die Arbeit mit ihnen ihr den Lebensunterhalt für sie und Laura sicherte. Spezialisiert, wie sie auf Pferde war, auf ihre typischen Krankheiten und Anfälligkeiten und auf ihre Psychosen und Neurosen, hoffte sie, dass die Arbeit mit ihnen genügend Geld einbringen würde, um auch in schwierigen Zeiten die Finca finanziell am Leben zu halten. Was ihr fehlte, war ein Diplom, das sie in einem Rahmen hinter Glas an die Wand hängen konnte. Aber das würde sie auch noch bekommen, und wenn es vom spanischen König persönlich ausgestellt wurde. Carmela lächelte vor sich hin.

Die Pferde wieherten leise, als Enrique den dunklen Stall betrat. Er drückte auf den ersten Schalter, und die Hälfte der Leuchtstoffröhren erhellte das Gebäude. Einige Hengste scharrten unruhig in ihren Boxen, während draußen der Wind um die Ecke pfiff. Eliot schob den Kopf über das Gatter und schnaubte.

„Ja, ja, ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Enrique zog den Apfel aus der Tasche, den er aus der Küche stibitzt hatte, und ging zur Box des Wallachs. Er schob sich den Hut in den Nacken und hob den Kopf, sodass er dem lebhaften Pferd in die Augen schauen konnte. „Antonia backt zwar gerade einen Kuchen, aber ich glaube, auf einen Apfel kann sie verzichten.“ Er öffnete die flache Hand und fügte hinzu: „Und wenn nicht, dann wissen wir beide, dass sie mich bei lebendigem Leibe rösten wird. Wegen des Diebstahls.“ Weiche Lippen suchten den Apfel in seiner Handfläche. „Ein Grund mehr, Freundschaft zu schließen, nicht wahr?“

Das Pferd warf den Kopf hin und her. In seinen dunklen Augen funkelte immer noch eine Wildheit, die kein Mensch jemals würde zähmen können. Noch nicht einmal ein Enrique Zafón.

„Das habe ich mir gedacht.“

Enrique rieb die breite Stirn des Wallachs und ließ den Blick über die gegenüberliegenden Kabinen schweifen. „Ich komm morgen wieder und verabschiede mich von dir.“

Seine Schritte hallten auf dem Betonboden zwischen den Boxen. Er lächelte, denn er liebte diese Pferde. Ein kühler Luftzug strömte in den Stall, als die Tür knarrend geöffnet wurde. Carmela trat ein. Ihr Haar war vom Wind zerzaust.

„Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde“, grüßte sie und ging auf ihn zu. „Das hast du heute Nachmittag ganz toll gemacht mit Eliot. Respekt.“

„Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?“, meinte er spöttisch.

„Eigentlich wollte ich nur mal sehen, wie es Eliot geht.“

„Uns beiden geht es gut. Warum sollte es uns schlecht gehen?“ Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem Grinsen.

Carmela schenkte Enrique ein zuckersüßes Lächeln. „Ich wollte mich vergewissern, ob Eliot morgen wieder zurückkann.“ Sie tätschelte den Pferdehals. „Na, siehst du, mein Großer“, sagte sie, „war doch gar nicht so schlimm.“

Enrique schien davon überzeugt zu sein, dass sie ihm nicht lange würde widerstehen können, und Carmela musste zugeben, dass er in diesem so uralten Spiel der Geschlechter eindeutig die Oberhand hatte. Sie musste nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen sich selbst ankämpfen, gegen ihre sexuellen Reaktionen, die plötzlich zum Leben erwacht waren. Körperlich fühlte sie sich magisch zu ihm hingezogen; mental wollte sie keine Affäre, wollte keine erotischen Verwicklungen. Sie war alleine stark und überlebensfähig. Nein, eine Liebesbeziehung brächte nur Komplikationen. Nicht nur das, seine Selbstgefälligkeit ging ihr gewaltig gegen den Strich. Er war so sicher, sie früher oder später rumzukriegen, dass er es nicht mal zu verbergen versuchte. Seine Haltung zeigte sich in jedem unverschämten Grinsen, in dem sündigen Funkeln in seinen dunklen Augen. Ihr Widerstand war eine Herausforderung für ihn, doch genauso seine Selbstgefälligkeit für sie. Ja, ihr weiblicher Stolz hatte sich sofort auf eine längere Belagerung eingestellt und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Alles an ihm schien zu sagen: „Dich krieg ich“, und ihre instinktive Antwort darauf war ein trotziges „Ach ja?“.

„Ich denke schon. Eliot macht einen entspannten Eindruck.“ Enrique lächelte.

Die Situation wurde Carmela zu brenzlig. „Gehst du mit ins Haus?“, fragte sie tonlos. „Die anderen haben bestimmt bereits gegessen. Mal sehen, was sie uns übrig gelassen haben.“

„Ist gut. Duschen und umziehen. Halbe Stunde?“ Carmela nickte und verschwand als Erste.

„Tortilla?“

„Wunderbar.“

„Also ehrlich, weshalb bist du wirklich hier?“, fragte sie. „Ich dachte, du arbeitest für die Domingos. Die haben doch viel bessere Pferde als wir.“

„Das ist richtig. Aber sie haben mich hinausgeworfen. Ziemlich plötzlich.“

„Weshalb?“

Er zögerte.

„Weil ich … ähm … eine Affäre mit einer verheirateten Frau hatte.“

„Klingt ein wenig altmodisch, nicht? Das dürfte sich ja wohl kaum darauf auswirken, wie du reitest.“

„Dem Alten gefiel es nicht.“

Carmela kramte in ihrem Gedächtnis nach den Klatschgeschichten. Hatte Zafón nicht mit der Tochter der Domingos zusammengelebt …?

„Verstehe“, meinte Carmela. „Und dann hast du meinen Vater getroffen?“

Sie versuchte ihren anschwellenden Zorn zu unterdrücken. Wie konnte er nur? „Er sagte, wenn es mich hier herunter verschlägt, solle ich mich mit ihm in Verbindung setzen“, sagte Enrique ungezwungen.

Carmela empfand das als Schlag in die Magengrube. Ihr Vater hatte also nicht spontan gehandelt, sondern das Ganze von langer Hand geplant.

Die Tortilla wurde trocken in ihrem Mund, und sie spülte sie hastig mit einem Schluck Wein hinunter. „Er hat mir nie etwas davon gesagt. Hat er mich überhaupt erwähnt?“, fragte sie.

Enrique sah sie überrascht an. „Dich?“

„Was hat er gesagt?“

„Hm, na ja, was alle sagen.“

„Und das wäre?“ Carmela stählte sich, denn sie wusste, gleich würde er von ihren schwierigen Anfängen als Pferdeheilerin reden. Und davon, dass sie nach dem Tod ihres Mannes niemals mehr eine Beziehung eingegangen war.

Enrique suchte offenbar nach Worten.

„Man sagt, äh, dass du, äh …“ Er ließ seinen Blick durch die Küche schweifen, als suche er nach einer Eingebung. „Man sagt, dass du sehr tüchtig bist“, schloss er.

„Tüchtig?“

„Na, du weißt schon, eben stark und praktisch.“ Er begann sich zu winden. „Du hast mich gefragt.“

„Ich sehe es förmlich vor mir, auf meinem Grabstein: ‚Hier ruht Carmela Fernández. Sie war sehr tüchtig.‘ Großartig. Ist das alles?“

Niemand würde ihre Schwester Savanna je als „tüchtig“ bezeichnen, dachte sie, oder ihren Bruder Marco. Nicht etwa weil die beiden nicht tüchtig gewesen wären, sondern weil es aufregendere Bezeichnungen für sie gab.

Enrique wirkte amüsiert und nahm sich noch eine Scheibe Weizenbrot. „Die Leute fragen sich, warum du nicht wieder geheiratet hast.“

Carmela war überrascht. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Ich sehe eigentlich keine Notwendigkeit, mich unmittelbar nach dem Tod meines Mannes in die nächste Beziehung zu stürzen“, sagte sie schließlich. „Außerdem habe ich eine Tochter, die in ihrem Leben keine Reihe von ‚Onkeln‘ braucht. Es ist erst …“ Carmela brach ab.

Enriques Blick traf sich mit ihrem.

„ … drei Jahre her“, sagte er. „Vor drei Jahren ist Leon Fernández gestorben. In demselben Jahr, als ich die Königliche Hofreitschule verließ. Ich erinnere mich genau, wie ich davon gelesen habe. Tut mir leid.“

„Das kann doch noch nicht so lange her sein“, sagte Carmela, obwohl das Datum tief in ihr Herz eingemeißelt war. Mit lautem Gekratze auf dem Teller warf sie ihre Tortilla in den Mülleimer und stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Sie hatte das Gefühl, dass er jede ihrer Bewegungen beobachtete.

„Ob st?“

Er nahm sich eine Orange und neigte den Kopf zur Seite. Auch wenn sein Gesicht von Erschöpfung gezeichnet war, leuchteten seine Augen unter den dunklen Brauen wie von innen heraus.

Ihm entgeht nichts, ging es ihr durch den Kopf.

Sie holte tief Luft.

„Weshalb ich nicht wieder geheiratet habe, geht niemanden etwas an“, sagte sie und biss sich wütend eine eingerissene Ecke vom Daumennagel ab. Dann füllte sie ihr Glas auf und mahnte sich zur Höflichkeit.

Das kam nur daher, weil ihr alles wehtat. Jede Faser ihres Körpers tat ihr weh. Leon war nicht mehr da. Sein Tod hatte eine unermessliche Lücke gerissen, ebenso unermesslich wie die Schuld und die Wut, die sie empfand.

„Nein“, stimmte er ihr gelassen zu. „Das geht niemanden etwas an.“ Er blickte sie unverwandt an, und sie fühlte sich befangen.

„Was ist los?“, fragte sie. „Habe ich Tortillareste im Gesicht?“

Lachend schüttelte er den Kopf. „Nein, ich dachte nur gerade, dass du sehr tapfer bist.“

„Offensichtlich nicht tapfer genug“, erwiderte sie in scharfem Ton. „Sonst hätte mein Vater keinen Verwalter einzustellen brauchen“, legte sie nach und sah ihn mit durchdringendem Blick an.

„Danke für die Tortilla.“

Enrique zuckte nur mit den Schultern und verließ den Raum.

Mit einem Mann zusammenzuarbeiten war schwierig. Nein, sie musste das umformulieren: Sie lebte in einer Welt, in der Männer und Frauen gleich waren. Doch es war anders, mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der in ihrem Alter war und ungefähr ihre Erfahrung besaß. Ihr Vater war älter und außerdem der Eigentümer. Bei den übrigen männlichen Wesen hatte es sich um Arbeiter gehandelt, die ihr mit Respekt begegnet waren. Theoretisch könnte nun sie das Sagen haben. Doch Enrique hatte seinen eigenen Kopf, und immer wenn sie aneinanderrasselten, spürte Carmela, wie ihr das Blut heiß zu Kopf stieg und wie sie vom Hals bis zu den Haarwurzeln errötete. Die passende Antwort fiel ihr immer erst drei Stunden später ein. Unentwegt grübelte sie darüber nach, ob Enriques Verhalten möglicherweise einen Übergriff auf ihre Autorität darstellte.

Ricardas Erbe

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