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Kapitel 1

La Verdad, März 1998

Die Tierwelt erwachte in der morgendlichen Stille der Coto de Doñana, als sich die Sonne langsam über die Hügel erhob und mit goldenen Fingern einen Himmel abtastete, der sich innerhalb kürzester Zeit fast purpurrot färbte. Das Laub der Bäume rauschte leise, von einem Lüftchen bewegt, während Carmela reglos im Gras stand und zusah, wie der leuchtende Himmel in satter Farbenpracht zersprang. Einige Augenblicke schienen die Vögel zu verstummen, fast so, als empfänden sie Ehrfurcht vor der Schönheit dieses Anblicks. Üppiges Weideland, auf dem Vieh graste, erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Die Finca der Familie Alfaro-Sánchez umfasste viertausend Hektar Land, auf dem Pferde- und Rinderzucht die Gewinne einbrachten. Der Landbesitz grenzte direkt an den Naturpark Coto de Doñana. Seit hundert Jahren warf die Finca La Verdad stattliche Erträge ab, doch Carmela liebte dieses Gut nicht aus diesem Grund. Sie liebte es, weil ihr ganzes Herz daran hing. Es war, als spräche sie wortlos mit den Geistern, von deren Vorhandensein sie allein wusste. Carmelas Blick verfing sich in den silberfarbigen Olivenzweigen, die sich sanft in der Morgenbrise wiegten, die Sonne schien warm auf Carmelas schwarzblaues Haar, und sie fing leise zu summen an. Sie lief zum Fluss, und ihre Füße versanken in einem Blumenteppich, und der betäubende Duft wilder Kräuter umhüllte sie. Carmela hockte sich auf einen glatten grauen Stein und ließ das eisige Wasser über ihre Füße laufen. Sie beobachtete, wie die Sonnenstrahlen sich immer näher an die Felsen heranschoben. Sie liebte es, den Sonnenaufgang zu erleben. Carmela genoss es, dazusitzen und in der Morgenstille zu meditieren.

Auf dem Landgut gab es Vorarbeiter, Unterverwalter, Hilfskräfte, Pferdepfleger und Stallburschen. Doch es gab niemanden, der das Land so innig liebte wie sie, ihre Tochter Laura und ihr Vater José Sánchez. Hier waren sie und ihre Tochter zur Welt gekommen, und eines Tages, wenn sie sehr alt sein würde, älter vielleicht, als ihr Vater jetzt war, würde sie hier sterben wollen. Sie liebte diese Finca und diese Landschaft von ganzem Herzen. Carmela ging zu ihren Lieblingen, stellte sich an die Koppel und erwärmte sich beim Anblick der anmutigen, lebensfrohen Tiere, indem sie den Pferden beim Grasen zusah. Ortega, Großmutters dreißigjähriger Hengst, erspähte sie und kam zu ihr herübergetrottet. Er streckte seinen Kopf über den Zaun, weil er gestreichelt werden wollte. Carmela kraulte Ortega hinter den Ohren und sprach mit leiser, singender Stimme auf ihn ein; doch mit den Gedanken war sie ganz woanders, ihre Worte kamen einfach automatisch. Ihm schien das nichts weiter auszumachen, seine Augen waren halb geschlossen, und er schnaubte selig. Carmela dachte an ihre verstorbene Großmutter Ricarda. Sie war eine Pferdeheilerin, und Carmela hatte ihre Gabe geerbt und führte dieses Vermächtnis fort. Sie musste lächeln, die Erinnerung war so präsent, als wäre es gestern gewesen. Carmela erzählte ganz aufgeregt ihrer Großmutter, sie war gerade erst vierzehn Jahre alt, wie sie die Hitze und ein Prickeln fühlte, wenn sie kranke Pferde berührte. Carmela spürte damals, wo die Pferde Schmerzen oder Energieblockaden hatten.

„Dann ist es jetzt so weit“, hörte Carmela ihre Großmutter sagen. Ricarda verfeinerte die Fähigkeiten ihrer Enkelin Tag für Tag. Sie lernte, durch Handauflegung Schmerzregionen aufzuspüren und zwischen emotionalen und körperlichen Blockaden zu unterscheiden. Ohne es zu ahnen, überschritt Carmela eines Tages eine weitere Grenze und konnte sich auf den Geist eines Pferdes einstimmen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie in den Boxen und auf den Weiden mitten unter ihnen gelebt. Sie war ihrer Großmutter bis heute dankbar, dankbar für diese wunderbare Gabe. Oft musste Carmela an die Worte denken, die ihre Großmutter am Sterbebett zu allen Anwesenden gesagt hatte. „Carmela ist ein ungewöhnliches Kind.“

Sie hatte ihre Enkelin gebeten, näher zu kommen. „In dir setzt sich eine lange Tradition fort. Du trägst das alte Spanien in dir, aber auch das neue, wie immer es aussehen wird. Lebe wohl und sei so stark und mutig, wie ich es einmal war. Gib mir deine Hand …“ Carmela erinnerte sich, dass sie bei ihrer Großmutter bis zu ihrem letzten Atemzug gesessen hatte. Sie starb friedlich, ohne Kampf. Carmelas Mann Leon dagegen starb grausam. Er wurde während eines Stierkampfs von einem Stier getötet. Bereits vor ihrer Großmutter war Carmelas Mutter gestorben. Sie litt schon als Kind unter Asthma, ihr Herz war dadurch sehr geschwächt. Als dann zum dritten Mal ein Sarg in die oberirdische Grabkammer geschoben wurde, dachte Carmela, dass ein großer Teil ihrer Vergangenheit schon in dieser Gedenkstätte ruhte: ihre Mutter Elena, Großmutter Ricarda und dann ihr Mann Leon, ihre erste große Liebe. Das war die Vergangenheit. Jetzt blieben nur noch ihre Tochter Laura und ihr Vater.

Carmela öffnete die Augen, die sie kurz geschlossen hatte, und sah zu, wie die Sonne höher stieg. Es wurde Zeit, dass sie sich auf den Heimweg machte. In einer Stunde kam ein neuer Patient. Ein Wallach. Seine Besitzerin war eine Bankerin aus Sevilla, die von Carmelas psychokinetischer Begabung gehört hatte. Señora Vegas’ Pferd ließ kaum noch jemanden an sich heran. So war es Carmelas Aufgabe, dem Tier die Angst zu nehmen. Carmela musste daran denken, welche Skepsis man ihr und ihrer Arbeit jahrelang entgegengebracht hatte und wie viele Jahre es gebraucht hatte, bis man ihre Fähigkeiten ernst genommen hatte. Auch heute würde sie vermutlich wieder auf diese Vorbehalte stoßen, aber Carmela sah der Aufgabe gelassen entgegen. „Lassen wir uns überraschen“, murmelte sie.

Sie ging zurück, vorbei an den Stallungen, die unmittelbar in der Nähe des Haupthauses lagen. Mit gewohnter Routine ließ Carmela ihren Blick – oder ihre Handfläche – über jedes einzelne Pferd gleiten, um sich zu vergewissern, dass es ihnen gut ging. Dann ging sie die Kiesauffahrt hinauf zum Haus, blieb kurz stehen und sah zu ihrem Geburtshaus „La Verdad“ hinüber. Die Schichten der Zeit konnte man förmlich fühlen. Jeder einzelne Bewohner hatte ein wenig von sich zurückgelassen. Die klassische Fassade mit einem Säuleneingang und vielen Mauerbögen, Dachschrägen mit Tonziegeln und die vielen bunten Fliesen, die überall zu sehen waren.

Von Weitem konnte sie ihre elfjährige Tochter Laura auf der Terrasse erkennen, wie sie mit schlurfenden Schritten zum Frühstückstisch ging. Sie trug einen Schlafanzug, der ihr zwei Nummern zu klein war. Die strahlenden dunklen Augen eines Nachthimmels, das dichte schwarze Haar und die langgliedrige, anmutige Gestalt hatten sich in direkter Linie von Vater José über Carmela auf Laura vererbt. Ihre Tochter hatte nichts Gekünsteltes an sich, nicht die Andeutung von Koketterie, sie besaß nur eine umwerfende Schönheit, derer sie sich noch nicht bewusst war. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Für Carmela würde ihre Tochter immer das kleine Mädchen bleiben.

„Hallo, Liebes.“

„Na, warst du wieder auf deiner Meditour?“

Carmela überhörte die Anspielung ihrer Tochter auf ihr morgendliches Ritual.

„Wo ist dein Großvater? Ich habe ihn noch gar nicht gesehen.“

Laura sah sie mit verschlafenen Augen über ihren Tassenrand hinweg an. Sie zuckte mit den Schultern.

„Ist er nicht im Stall?“, kam dann die Frage.

„Nein.“

„Na, irgendwo muss er ja sein“, meinte Laura und vertiefte sich in ihren Milchkaffee.

„Nur wo?“

„Bestimmt überprüft er, pingelig, wie er ist, ob die Sattelkammer aufgeräumt ist, ob die Strohballen richtig in einer Reihe liegen, die Boxen exakt ausgemistet sind, und raubt dabei den Pferdepflegern den letzten Nerv.“

„Laura“, rief Carmela mit gespielter Empörung.

„Da kommt er ja.“

„Ich sag es doch. Hier geht niemand verloren.“ Laura grinste ihre Mutter an, und Carmela verzog spöttisch ihr Gesicht.

José sah seinen beiden Frauen entgegen, als er die Stufen der Veranda erreichte. Seine Tochter und seine Enkelin frühstückten genüsslich unter Gelächter und Geplapper. Unwillkürlich wurde er an das frühere Familienleben der Alfaro-Sánchez erinnert, als seine Frau und Carmelas Schwester Savanna und ihr Bruder Marco hier an diesem Tisch gesessen hatten. Nach dem Tod seiner Frau hatte sich die Familie entzweit, und ihm war nur Carmela geblieben. Seine älteste Tochter und sein Sohn hatten ihm im Streit vorgeworfen, dass er schuld sei am Tod ihrer Mutter. José hatte es nie geschafft, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er hatte seit dieser Zeit nichts mehr von ihnen gehört außer den üblichen Grußkarten zum Geburtstag und an Weihnachten. Jahrelang hatte er versucht, zu seinen beiden älteren Kindern Kontakt zu halten, und sich Mühe gegeben, gefühlsmäßig mehr Raum zu schaffen, und immer war es Carmela gewesen, die sein Herz erfreute. Carmela mit ihrer warmherzigen Art, mit ihrer ungezwungenen Anmut, mit der sie ihm überallhin folgte. Wie seine Enkelin. Sie drei lebten in ihrer vertrauten kleinen Welt. Nur José bemerkte langsam sein Alter, und er brauchte Hilfe. Er wollte nicht alles Carmela überlassen, und so hatte er sich nach einem neuen Verwalter umgeschaut. Er würde noch im Laufe des Tages mit seiner Tochter darüber sprechen müssen. Aber jetzt würden sie erst gemeinsam frühstücken. Er ging auf seine Enkelin zu und küsste ihre Wange. „Hübsch siehst du aus in deinem Designerschlafanzug.“

„Ja, ja. Mach dich nur lustig über mich“, sagte Laura und biss in ihr Schokocroissant. José sah seine Tochter an, die ihm zuzwinkerte.

Carmela ging zur Hofeinfahrt, um zu schauen, ob der Pferdetransporter mit ihrem Patienten schon eingetroffen war.

Da kommt er ja, dachte Carmela und freute sich.

Schwerfällig bog das Auto mit dem Anhänger von der Landstraße ein, rumpelte auf dem Zufahrtsweg in ihre Richtung.

Der Fahrer kletterte heraus, sprach kein Wort und machte sich daran, die Tür an der Rückwand zu öffnen.

„Alles gut gegangen?“

„Klar.“

Die Rampe klappte herunter, und da sah sie schon die Ohren des Wallachs über der Zwischenwand.

„Das ist also Opus.“

Das Ausladen war ein Kinderspiel. Carmela hatte darin das größte Problem gesehen. Es hatte wunderbar geklappt. Das Pferd wurde losgebunden, ein Stallbursche nahm den Wallach am Halfter, und er kam zuerst etwas zaghaft, dann entschlossener rückwärts die Rampe herunter. Da war er. Stand da und schaute sich um. Bog den schlanken Hals, reckte den Kopf und öffnete die Nüstern. Er schien immer noch aufgeregt zu sein, und alles war natürlich fremd und seltsam.

„Opus!“, sagte Carmela, streichelte seinen Hals, legte ihre Wange an das Seidenfell. „Du bist das schönste Pferd weit und breit, stolz, geradezu arrogant. Ich kenne jedenfalls niemanden, der so hochnäsige Nüstern machen kann wie du, wenn dir etwas nicht passt. Wir beide, Opus, wir verstehen uns. Ich mag dich sehr, und ich dachte, du magst mich auch ein wenig. Aber wie sich nun zeigt: Du hast noch kein richtiges Vertrauen zu mir.“ Sie tätschelte den Pferdekopf liebevoll. Carmela betrachtete den Wallach von allen Seiten, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Dann nahm sie das Pferd am Halfter und führte es direkt zur Therapiekoppel.

Wenn Opus so schlimm dran war, wie Carmela annahm, würde es nicht ausbleiben, dass er sich massiv wehrte, wenn Carmela ihn zuerst in eine Box gebracht hätte. Pferde waren hochempfindsam und sammelten, vor allem während eines Transportes, vielfältige Frustrationen an. Sie mussten ihr Gleichgewicht ausbalancieren. Sie waren eingesperrt und konnten nicht in die Ferne schauen und wurden von ihren Artgenossen getrennt. Deshalb ging Carmela nach dem Verlassen des Transporters mit dem Pferd sofort zur Koppel, damit das Tier seine angestauten Gefühle abbauen und sich frei bewegen konnte. Der Wallach galoppierte sofort los, quer durch die Koppel. Carmela stand am Ende des Corrals und beobachtete unterdessen, welche Störungen bei dem Patienten vorliegen könnten. Das war in der Anfangsphase einer Behandlung, während sie ein Gespür für das Pferd entwickeln musste, immer ein schwer einschätzbares Risiko: Wie weit ging die Bereitschaft des Pferdes, sich selbst zu verletzen, nur um von den Menschen fortzukommen? Sie hatte Pferde kennengelernt – und Opus gehörte möglicherweise dazu –, die eher bereit waren, sich sämtliche Knochen im Leibe zu zerschlagen, als sich noch einmal auf Menschen einzulassen; genau wie ein Fuchs in der Falle bereit ist, sein eigenes Bein abzubeißen. Sie hatte auch Pferde erlebt, die ausschlugen, Drohgebärden zeigten und Angst. Die meisten Menschen reagierten darauf mit Zwang und Brutalität. Natürlich wandten die Pferde, die sich weder artikulieren noch die Situation für sich verändern konnten, dies in ein stilles Leiden um. Diese Missstände führten dann zu Verhaltensauffälligkeiten und Krankheiten. Es dauerte seine Zeit, bis die Tiere Vertrauen fassten. Es war manchmal ein langwieriger Lernprozess; und es blieb nicht aus, dass es in der Anfangsphase zu massiven Reaktionen des Pferdes kommen konnte.

Opus war verkrampft, wenn Fremde in der Nähe waren, und stärker noch als Carmela spürte das Pferd, dass die Besitzerin, die sich der Koppel näherte, eine Spannung mitgebracht hatte. Als Carmela Opus zart über den Rücken strich, sah sie, dass der Wallach in seiner Haut kleiner zu werden schien.

„Ist das alles, was Sie mit meinem Pferd machen? Das wirkt auf mich wie Hokuspokus“, polterte die Besitzerin Señora Vegas plötzlich los, so ganz gegen ihre sonstige Art, wie Carmela sie beim ersten Telefongespräch kennengelernt hatte.

Die laute hohe Stimme war zu viel für Opus. Die Besitzerin streckte die Hand nach dem Halfter aus. Ihre Bewegung war fahrig, ein wenig grob, und das Pferd scheute. Der Wallach erhob sich mit einem wilden Schnauben auf die Hinterbeine. Mit starren Augen und weiten, roten Nüstern warf er sich herum, um zu fliehen. Der Schrecken ergriff wieder von ihm Besitz. Menschengesichter, wahrgenommen als helle Flecken, laute Stimmen, drängende Stimmen.

Carmela gestattete dem Wallach seinen freien Willen. Sie spürte, dass Opus ihr nichts tun würde. Nach ein paar Minuten blieb Opus einige Schritte vor Carmela stehen und blickte ihr gespannt entgegen. Carmela beruhigte das Tier mit ihrer Stimme und ging langsam auf es zu. Dann streckte sie langsam ihre Hände aus und wartete. Opus ließ es zu. Sie streichelte ganz sachte über sein seidiges Fell. Er blieb ganz ruhig. Carmela sah zur Besitzerin, die eine Pferdelänge von ihnen getrennt stand. Sie erkannte deren Ungeduld in den Augen. Carmela hielt den Zeigefinger an die Lippen und sagte dann: „Bitte bleiben Sie ruhig, und nur zuschauen.“

„Wenn ich nur am Zaun stehen bleibe und kein Wort sage, denken Sie, dass Sie dann mit ihm arbeiten können?“, flüsterte die Besitzerin leise.

Carmela nickte nur.

Sie schlug Opus leicht auf den Schenkel, damit er losgaloppierte, um sich auszutoben.

Opus stand nahe am Zaun und rupfte ein paar Grashalme. Er schien sehr entspannt zu sein. Carmela beobachtete ihn bei seinem ruhigen Grasen. Dann näherte sie sich dem Pferd Schritt für Schritt und sprach es an. Die aufmerksamen Ohren wendeten sich ihr zu. Carmela blieb stehen und wartete. Sie sah Opus dabei nicht an, sondern stand ein wenig abgewandt von ihm, ließ den Blick schweifen, um jegliche Spannung zwischen ihnen zu vermeiden. Opus hob schließlich den Kopf, während die Kiefer langsam weitermahlten. Der Wallach schien unschlüssig. Dann tat er einen kleinen Schritt vorwärts, verharrte; das Pferd atmete schwer, als sei es schnell gelaufen, und Carmela musste sich beherrschen, um ihr Lächeln zu verbergen. Dieser Moment hatte etwas Rührendes, wie der Wallach sich langsam näherte und dabei versuchte, ganz unbeteiligt zu tun. Da Carmela sich immer noch nicht rührte, nicht einmal in die Richtung sah, wurde sie vertrauensvoll und vorsichtig von Opus angestoßen. „Hallo, mein Junge“, sagte Carmela. Sie drehte sich spielerisch zu ihm um und hielt ihm die flachen gespreizten Hände entgegen, die der Wallach beschnupperte. Dann begann er, mit seiner rauen Zunge die Handflächen zu lecken. Carmela hielt still, obwohl das Kitzeln bis zu ihren Zehen hinunterkribbelte. „Und jetzt werde ich dich von deinen Energieblockaden befreien.“

Carmelas beherrschte Stimme war leise und weich. Opus stellte neugierig die Ohren nach vorn, als fragte er Carmela, was sie meinte. Carmela erzählte dem Wallach ein spanisches Märchen, nur um zu reden, und strich währenddessen über sein Gesicht, dann seinen Hals, seine Beine und lehnte sich schließlich gegen seinen Rumpf, die Arme locker auf seinem Hals liegend.

Carmela sprach jetzt nicht mehr. Es war nicht nötig. Sie lehnte ihre Wange an den seidigen Hals. Dann löste sie langsam die Umarmung. „Schön hier in der Sonne, nicht wahr?“, murmelte sie leise vor sich hin. Opus machte halb die Augen zu und senkte immer häufiger den Kopf. Carmela schloss die Augen, fing an sich zu konzentrieren, bis sie das Gefühl tiefer Trance empfand. Als sie ihre Handballen auf Opus’ Hals legte, fühlte sie Wellen der Traurigkeit und Angst. Sie konnte spüren, wie aufgewühlt das Pferd war. Carmela stellte sich vor, dass ihre Hand ein Zitronenfalter sei, der gerade sachte auf dem Fell von Opus landete. Er war die symbolische Verbindung zur Heilenergie, und Carmela musste sie mit dem Pferd verbinden. Sie öffnete ihren Geist und ließ die Energie einfach dorthin fließen, wo Opus sie brauchen würde. Dann begann die Ausleitungsphase. Augenblicke später strich Carmelas glatte Hand über das glänzende Fell. Sie hatte die negativen Energien gebündelt und von Opus wegbewegt. Sie wartete auf ein Zeichen, dass die heilende Energie bei Opus auch angekommen war. Carmela beobachtete sein Gesicht. Kein Flattern seiner Augen, keine angelegten Ohren. Der Wallach erschauerte wohlig, und Carmela lächelte zufrieden. Das Pferd stupste sie zart an. Carmela wusste, dass Opus ihr damit Freundschaft und Vertrauen entgegenbrachte. Sie nahm das Halfter und legte es Opus behutsam an, bestieg den Wallach langsam ohne Sattel und ließ sich leicht und unbeschwert über die Koppel tragen. „Das ist ja nicht zu glauben! Ich kann es nicht fassen!“

Señora Vegas war ganz außer sich vor Freude.

„Ja, das ist meine Tochter. Sie ist eine Heilerin“, sagte José mit stolzer Stimme. Er hatte eine Weile aus einer gewissen Entfernung zugesehen und sich dann erst zu Señora Vegas gesellt.

Carmela kam langsam mit Opus auf Señora Vegas zu. Sie streckte ihre Hand nach ihrem Wallach aus. Es gab kein Zurückweichen, keine Aggressionen, nur ein friedliches Pferd, das sich vertrauensvoll von seiner Besitzerin streicheln ließ.

„Oh! O Gott, das … ich kann es kaum glauben!“ Señora Vegas barg das Gesicht in beiden Händen und begann zu schluchzen wie ein Kind.

Das Tageslicht schrumpfte langsam zusammen. Irgendwo über den dichten Laubkronen der Kork- und Steineichen glitt die Sonne gen Westen. Carmela war zufrieden.

Ricardas Erbe

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