Читать книгу Ricardas Erbe - Christine Lawens - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
La Verdad, März 1998
Tau glitzerte auf dem Gras wie Tausende von kleinen Diamanten. Von der Veranda sah Carmela ihn funkeln. Bald würde die Sonne genug Kraft haben, um ihn verschwinden zu lassen.
Unten bei den Ställen wurde mit den Pferden bereits gearbeitet, Boxen ausmisten, Auskratzen der Hufe, die Tiere zur Weide führen und was sonst jeden Morgen anfiel. Ein Pferdepfleger hatte sich krankgemeldet, und Carmela hatte sich bereit erklärt, für ihn einzuspringen. Ihre Morgentour musste sie deshalb auf den Vormittag verlegen.
Es war gegen zwölf Uhr, als sie sich auf den Rückweg machte.
Hufschlag ließ sie aufhorchen. Sie drehte sich um und blickte zurück über die Wiese, die sie soeben überquert hatte. Weiter hinten auf dem Hügel bemerkte sie einen Reiter. Sie kannte ihn nicht. Ohne es eigentlich bewusst zu wollen, blieb Carmela stehen und blickte ihm hinterher.
Das Pferd war kein Andalusier. Es war größer und wirkte schwerer, aber ebenso geschmeidig. Das Gesicht des Reiters konnte Carmela auf diese Entfernung nicht erkennen. Ihr Blick hing an dem grauen Pferd, das nun in raumgreifendem Galopp über die Wiesen preschte. Der gleichmäßige Dreiklang des Galopps drang zu ihr herüber, und Carmela war gefesselt von der Einheit, die Pferd und Reiter bildeten. Der Reiter stand in den Steigbügeln, den Oberkörper über den Hals des Tieres gebeugt, die Hände im Takt des Pferdekopfes bewegend, und ließ sich vom Rhythmus des Galopps tragen. Sie schienen ein einziges Wesen zu sein, die vollendete Harmonie.
Carmela ging durch die knarrende Hintertür direkt in die Küche.
„Antonia, wann gibt es heute Mittagessen? Weißt du, wo José ist?“
„Nein.“ Antonia lächelte. Die ganze Familie verließ sich auf sie. Antonia hier, Antonia dort.
„Aber er müsste bald kommen.“ Sie sah auf die Wanduhr über dem Küchenbord.
„Mir fällt gerade ein: Heute Morgen hat dein Vater erwähnt, dass er die Zäune nachsehen wollte.“
„Beim Essen werde ich ihn ja sehen“, sagte Carmela und wunderte sich, dass der Tisch für vier und nicht wie sonst für drei gedeckt war. Sie wollte gerade Antonia fragen. Doch die plapperte weiter. „Enrique Zafón wollte deinen Vater auf der Inspektionsrunde begleiten, falls er Hilfe braucht.“
„Wer ist Enrique Zafón?“, erkundige sich Carmela mehr aus Neugierde als aus Interesse.
„Richtig, du kennst ihn ja noch gar nicht. Er hatte eine Ranch in Argentinien geleitet und ist jetzt wieder zurückgekehrt, um sich eine eigene zu kaufen. Bis er die passende gefunden hat, möchte er hier arbeiten.“
„Aha, dann haben wir ja eine Kraft mehr. Nur dafür muss er ja nicht gleich bei uns am Mittagstisch sitzen.“
„Dein Vater wünscht es so.“
„Ja, ja. Padre hat gesprochen“, meinte Carmela.
„Dein Vater hat mir gesagt, dass Enrique nicht nur ein hervorragender Vorarbeiter, sondern auch ein sehr guter Geschäftsmann ist.“
„Das klingt ziemlich langweilig“, fand Carmela. „Willst du wissen, wie ich ihn mir vorstelle? Ein wettergegerbtes Gesicht, von stahlgrauem Haar umrahmt, dazu ein breiter Schnurrbart, überhängender Bauch …“
Antonia musste lachen. „Dieser Mann ist alles andere als langweilig. Als verheiratete Frau und Großmutter kann ich gefahrlos zugeben, dass er absolut hinreißend aussieht. Er ist bestimmt reich. Was ich aber mit absoluter Sicherheit weiß, ist, dass er alleinstehend ist.“
„Eine lohnende Beute, wie es scheint“, meinte Carmela trocken. „Würde meine Mutter noch leben, wäre sie vermutlich ganz begeistert von ihm“, sagte Carmela und zog eine Grimasse. „Keine Frage“, stimmte ihr die Haushälterin zu. „Was ich so gehört habe, hat er sich beharrlich geweigert, sich zu binden. Dein Vater meint aber, dieser Enrique genieße die Jagd selbst durchaus.“
„Er scheint nicht nur langweilig, sondern auch noch eingebildet zu sein. Vermutlich hält er sich für unwiderstehlich.“ Carmela kraulte Rambo am Bauch.
„Er ist Spanier, und man kann ihm doch nicht verübeln, wenn er nimmt, was man ihm anbietet“, verteidigte Antonia den Neuankömmling.
„Antonia, um deine Verkupplungsversuche zu stoppen.“ Sie strich über Rambos weiches Fell. Er schlief schon halb und interessierte sich nicht im Geringsten für Enrique Zafón. „In meinen unmittelbaren Zukunftsplänen kommen eigentlich weder argentinische Rancher noch Möchtegerncowboys vor, auch wenn sie noch so gut aussehen.“ Sie stand auf. „Komm, lass dir helfen. Ich nehme schon mal die Tapas.“
„Wenn du dich erst einmal wieder verliebt hast, bist du auch nicht mehr so zynisch, was dieses Thema angeht“, prophezeite Antonia mit der Weisheit der Erfahrung.
„Bestimmt nicht.“ Carmela lächelte nachsichtig. „Ja, ja, ich weiß. Dann läuten die Glocken und explodieren die Sternchen, und die Trompeten schmettern den Triumph in die Welt hinaus.“ Sie tätschelte der Haushälterin die Hand. „Die Englein singen, und himmlische Harfen erklingen.“
„Warte nur ab, du wirst schon sehen“, rief Antonia hinter ihr her.
Carmela stellte die Tonschüsselchen und kleinen Teller mit köstlichen Tapas auf den Tisch. Liebe, dachte sie abfällig. Sie hatte ihre große Liebe verloren. Seit dieser Zeit hatte nicht ein Mann einen Funken in ihr entfachen können, der nur annähernd etwas mit Liebe zu tun hatte. „Wo bleibt padre nur?“
Im selben Augenblick, als sei es Gedankenübertragung gewesen, sah Carmela aus dem Fenster zwei Reiter auf das Haus zukommen. Sie ging ins Freie.
Als José mit seinem Begleiter nahe genug war, winkte ihm Carmela grüßend zu. Selbst auf diese Entfernung hin war ihr aufgefallen, dass er einen besorgten Eindruck machte. Als er seine Tochter jetzt sah, lächelte er, und sein Gesichtsausdruck entspannte sich.
„Ist Laura schon aus der Schule zurück?“
„Ja. Sie ist bereits bei den Schulaufgaben, da sie heute noch ausreiten will.“
„Braves Mädchen.“
„Du kommst spät, padre. Das Essen wartet bereits.“ Carmela strich über die weiche Flanke von Josés Goldfuchs.
„Ich bringe nur schnell das Pferd in den Stall, dann bin ich sofort bei euch.“
„Lass das doch deinen Mann hier erledigen. Ich kann mich aber darum kümmern, wenn er keine Zeit hat.“
„Schon gut, Boss“, sagte der andere Reiter. Carmela streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. „Ich sorge schon für das Pferd. Gehen Sie nur ruhig rein zu Ihrer Familie.“
José lachte und stieg vom Pferd. „Danke“, sagte er, als er dem Mann die Zügel übergab. Dann drehte er sich zu Carmela um. „Kommst du nicht mit?“
„Nein.“ Sie steckte die Hände in ihre Jeanstaschen. „Geh dich frisch machen, ich brauche noch etwas frische Luft.“
„Bis gleich, meine Kleine.“ José kniff ihr mit einer väterlichen Geste in die Wange und ging dann zum Haus.
Carmela wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann ließ sie sich erschöpft auf den dicken Block sinken, der sonst zum Holzhacken diente, und lehnte sich an den Zaun dahinter. Sie atmete die noch kühle, klare Luft tief ein. Die Arbeit auf der Finca kostete manchmal mehr Kraft, als sie bewältigen konnte. Sie schloss die Augen. Es kommen auch wieder bessere Zeiten. Sie ließ den Kopf zurücksinken und den Wind über ihre Wangen streichen.
„Seltsamer Ort für eine Siesta.“
Carmela wachte mit einem Ruck auf und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie sich befand. Da entdeckte sie den Mann, der vor ihr stand, und ließ ihren Blick zu seinem Gesicht hinaufwandern.
Es war ein schmales, sonnengebräuntes Gesicht mit markanten kantigen Zügen. Die Augen lagen tief und waren von dichten Wimpern beschattet. Seine Augenbrauen waren dicht, kräftig und unregelmäßig. Selten hatte Carmela in so faszinierende Augen geblickt. Es war ihre Farbe, dieses tiefe Braun, das sie nicht mehr losließ. Von der Nase zu den Mundwinkeln herab gruben sich – nicht verdeckt vom Bart – zwei tiefe dünne Narben in seine Haut. Was mochte die Ursache sein dafür? Ein Reitunfall? Sie erkannte mit einem Blick in seinem Gesicht sowohl Eigensinn als auch Großzügigkeit. Trotz des alten, breitkrempigen Stetsons konnte sie erkennen, dass der Mann lockige schwarze Haare hatte. Er konnte nicht viel älter als vierzig sein.
„Buenos días, Señora.“
Obwohl er mit einer respektvollen Geste an seine Hutkrempe fasste, wirkten sein Blick und seine Haltung leicht spöttisch.
„Buenos días“, antwortete Carmela, bemüht, würdevoll auszusehen.
„Man kann sich leicht einen Sonnenbrand einfangen, wenn man sich um diese Tageszeit zu lange und ohne Schutz der Sonne aussetzt.“
Der Mann sprach langsam und gedehnt, mit einem starken amerikanischen Akzent. Er stand mit leicht gespreizten Beinen da und hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt.
„Sie sollten wenigstens etwas auf dem Kopf tragen“, fuhr er fort.
„Ich bekomme keinen Sonnenbrand.“ Hoffentlich hatte sie nicht doch ein rötliches Gesicht.
„Ich … ich wollte nur etwas frische Luft schnappen.“
„Ja, Señora.“ Er nickte und sah an ihr vorbei in Richtung Horizont. „Genau die richtige Zeit, um den Verlauf der Sonne zu beobachten.“
Ihre Augen blitzten bei seinem spöttischen Ton auf. Es war ihr peinlich, dass er sie beim Schlafen überrascht hatte. Er lächelte leicht, und dabei vertieften sich die Grübchen in seinen Wangen. Ohne es zu wollen, erwiderte Carmela sein Lächeln.
„Also gut, ich gebe es zu. Ich bin eingeschlafen. Sie glauben mir wahrscheinlich doch nicht, wenn ich behaupte, ich hätte die Augen nur zugemacht, um ein bisschen abzuschalten.“
„Nein, Señora.“
„Nun, gut.“ Carmela stand auf und stellte fest, dass sie immer noch ein ganzes Stück nach oben schauen musste, wenn sie ihm in die Augen sehen wollte. „Wenn Sie mir versprechen, keinem etwas davon zu erzählen, bekommen Sie ein Stück von dem Orangenkuchen, den unsere Haushälterin gebacken hat.“
„Das ist ein verführerisches Angebot.“ Er strich sich mit langen schmalen Fingern nachdenklich übers Kinn. „Ich habe nämlich eine ausgesprochene Schwäche für Orangenkuchen. Es gibt nur ein, zwei Dinge, die mir noch lieber sind.“
Dabei ließ er seine Blicke gründlich und ausgiebig über ihre Figur wandern. Ungerührt von seinen unverschämten Blicken, sah sie ihm fest in die Augen. Chauvinistischen Arschlöchern wie ihm war sie schon öfter begegnet, so leicht ließ sie sich nicht aus der Fassung bringen. Dieser Mann ist eigenartig, dachte sie.
Jetzt schob er seinen Hut weiter in den Nacken zurück, und seine Locken kamen zum Vorschein.
„Abgemacht.“ Er hielt ihr seine Hand zur Bekräftigung hin, und Carmela schlug ein. „Danke.“
Ihre Stimme kam ihr selbst ganz fremd vor. Hastig zog sie ihre Hand zurück.
„Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht vorhin etwas unhöflich und kurz angebunden war“, erklärte sie kühl, denn ein Instinkt sagte ihr, dass es besser war, diesen Mann nicht merken zu lassen, wie sehr er sie verwirrte. Sie wusste nicht, wieso er sich überhaupt derart bemühte, wo doch jeder Mensch mit Augen im Kopf sehen konnte, dass sie nichts Besonderes war. Es gab halt Männer, die glaubten, hinter jedem Rockzipfel herschnüffeln zu müssen.
„Dazu besteht nicht der geringste Anlass“, sagte er. Die Wärme in seiner Stimme war wohltuend und irritierend zugleich.
„Ja, ich …“ Carmela fing an zu stammeln. Auf einmal hatte sie das Bedürfnis, möglichst schnell einen sicheren Abstand zwischen sich und diesen merkwürdigen Mann zu legen. „Ich gehe besser wieder hinein. Mein Vater und meine Tochter warten bestimmt mit dem Essen auf mich.“ Sie sah an dem Mann vorbei und bemerkte, dass sein Pferd immer noch gesattelt war. „Sie haben Ihr Pferd noch nicht in den Stall gebracht. Sind Sie denn mit der Arbeit noch nicht fertig?“
Überraschend stellte sie fest, dass echte Besorgnis aus ihrer Stimme klang. Ich muss verrückt geworden sein, dachte sie. Was geht mich dieser Mann an? „Doch, Señora, ich bin fertig.“
Es war eindeutig ein Lachen, das aus seiner Stimme hörbar wurde, aber Carmela ignorierte es vorsichtshalber. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt ganz seinem Pferd.
Es war ein wunderschönes Tier, mit einem schimmernden grauen Fell. Es hatte eine volle Mähne und einen starken, kurzen Hals, platziert auf einer kraftvollen Schulter. Ein echter Lusitano, mit viel Mut und Feuer. Sie erkannte das Pferd wieder, das sie heute Vormittag aus der Ferne galoppieren sah. Wie um alles in der Welt kam dieser Mann zu solch einem Pferd? Und wie kam es, ohne dass sie es bemerkt hatte, auf diese Finca? Obwohl, dachte sie, hier kamen so viele Pferdetransporter auf das Gut, dass sie viel zu tun hätte, wenn sie sich jeden merken würde.
„Das ist ein wunderschönes Tier.“
„Ja, Señora“, gab er ihr bereitwillig recht.
Carmelas Augen wurden schmal, als sie ihn misstrauisch ansah.
„Kein Vaquero besitzt ein Pferd, für das er mindestens einen halben Jahreslohn hinlegen müsste.“ Er erwiderte ihren Blick ungerührt. „Wer sind Sie?“
„Enrique Zafón, Señora.“ Wieder tauchte dieses Lächeln zuerst in seinen Mundwinkeln auf und breitete sich dann langsam über sein ganzes Gesicht aus. Er zog den Hut. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“
Der Mann aus Argentinien, dem die Frauen zu Füßen lagen. Carmelas Augen wurden dunkel vor Zorn.
„Warum haben Sie das nicht gesagt?“
„Das habe ich doch gerade“, entgegnete er.
Sie schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. „Sie wissen sehr gut, wie ich das gemeint habe. Ich hielt Sie für einen von unseren neuen Saisonarbeitern.“
„Ja, Señora.“ Er nickte.
„Hören Sie auf, mich ständig, Señora zu nennen“, fuhr sie ihn an. „So ein gemeiner Trick. Sie hätten den Mund aufmachen und mir sagen müssen, wer Sie sind. Dann hätte ich das Pferd meines Vaters selbst in den Stall gebracht und abgesattelt.“
„Es hat mir nichts ausgemacht.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ärgerlicherweise immer liebenswürdiger. „Es war kaum Arbeit, und Sie konnten sich in der Zwischenzeit ein bisschen ausruhen.“
„Nun, Señor Zafón, Sie haben sich auf meine Kosten offenbar recht gut amüsiert. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht“, sagte Carmela kühl.
„Ja, Señora.“ Er lachte. „Großen Spaß.“
„Ich habe gesagt, Sie sollen aufhören …“ Carmela unterbrach sich und biss sich verärgert auf die Unterlippe. „Ach, lassen wir das lieber.“ Sie wandte sich abrupt um und ging einmal zu ihm. „Ich stelle fest, dass Ihre Sprache sich verändert hat, Señor Zafón. Sie ist nicht mehr so gedehnt.“
Er gab ihr keine Antwort, sondern blieb einfach stehen. Immer noch hatte er die Hände in den Hosentaschen. Sein Gesicht lag jetzt im Schatten. Carmela drehte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken zu. Mit einer Portion Unsicherheit, die sich in ihr breitmachte, und etwas pikiert stapfte sie zum Haus zurück.
„Hola!“, rief er ihr nach, und sie drehte sich gegen ihren Willen noch einmal um. „Bekomme ich trotzdem ein Stück Orangenkuchen?“
Als Antwort warf sie ihm einen ernsten Blick zu. Sein fröhliches Lachen verfolgte sie bis ins Haus.
Der Knall, mit dem Carmela die Tür ins Schloss warf, hallte im ganzen Haus wider. Wütend auf sich selbst und die Unsicherheit, die sich nicht verdrängen ließ, marschierte sie in die Küche.
Nach einem Blick auf ihre Tochter, die sie nur fragend ansah, kannte dagegen ihr Vater die Zeichen des Sturms in ihren Augen. Er lächelte sie an.
„Wo hast du denn Enrique gelassen?“ Er sah an ihr vorbei. „Sag nur nicht, du hast ihm nicht gesagt, dass er zum Essen eingeladen ist.“
„Er kann sich zum Teufel scheren und sein Mittagessen dort zu sich nehmen“, schimpfte Carmela.
„Ich wollte dir heute Morgen davon erzählen, aber …“ Josés Augen glänzten dabei verdächtig.
„Spiel nicht das Unschuldslamm, José Sánchez“, warnte Carmela und kam auf ihn zu. „Wie kannst du mich in dem Glauben lassen, dass er einer der Saisonarbeiter ist, von denen du mir ja gnädigerweise erzählt hast?“
Laura musste kichern.
„Ich freue mich, dass wenigstens du es lustig findest, wenn deine eigene Mutter zum Narren gehalten wird.“
„Ach, Carmela, ich habe es dir doch erzählt“, mischte sich jetzt Antonia ein. Sie fing an zu lachen, und Carmela wusste nicht, ob sie sich über die Warmherzigkeit ihrer Haushälterin freuen oder sich immer noch über den Streich ärgern sollte.
„Was, Antonia, soll so Besonderes an ihm dran sein?“, wollte sie wissen. „Er ist genauso angezogen wie alle anderen Arbeiter, die hier arbeiten. Sein Hut zum Beispiel macht auf mich den Eindruck, als ob er bald auseinanderfällt. Er könnte sich mal einen neuen leisten.“
Es war nichts Besonderes an ihm gewesen, eher etwas Sonderbares, dachte sie im Stillen. Sie hatte nur nicht fassen können, was es war. Sie musste heimlich lachen. Entschlossen schob sie den Gedanken daran beiseite.
„So eine Frechheit.“ Sie wandte sich wieder an ihren Vater. „Erst betitelt er dich als Boss“, nickte Carmela humorvoll, „dann spricht er mich in diesem übertrieben lang gezogenen Ton dauernd mit Señora an.“ Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Er wollte wahrscheinlich einfach nur höflich sein“, behauptete José mit einem engelhaften liebenswürdigen Lächeln.
Carmela musterte ihn mit dem Blick, vor dem ihre Tochter gewöhnlich erzitterte. Doch dann überwog ihr Humor. Sie musste sich eingestehen, dass das wirklich ein Spaß war, den sie sich anstelle der drei sicher auch nicht hätte entgehen lassen.
„Männer!“ Sie schlug die Augen zur Decke auf, als könnte sie dort eine Antwort finden. „Ihr seid alle gleich und haltet wie Pech und Schwefel zusammen.“ Sie musste unwillkürlich grinsen.
„Das mit dem Boss war korrekt.“ Ihr Vater lächelte sie an. „Alles Weitere nachher in meinem Büro. So, nun setzt dich und iss endlich.“
„Da sind Sie ja“, zwitscherte Antonia. „Sie müssen ja ganz ausgehungert sein, Señor Zafón.“
„Danach nehme ich Sie auf einen Rundgang zu den Ställen mit“, sagte Laura.
„Laura!“, erhob Carmela ihre Stimme.
„Natürlich nur wenn Sie noch Lust haben“, warf Laura völlig unbeeindruckt von der Warnung ihrer Mutter ein.
„Aber sicher“, sagte Enrique. „Ich bin schon sehr neugierig. Ich muss sagen, das duftet ganz ausgezeichnet!“
„Danke sehr.“ Antonia errötete wie ein Schulmädchen. Offenbar war Laura nicht die Einzige, die Enriques Charme verfallen war, dachte Carmela.