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Kapitel 5
Der Brieffreund in Amerika

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Am nächsten Morgen weckt mich tatsächlich Sonnenschein. Na ja, nicht ganz. Außer dem Wecker natürlich, der mich mitten aus einem wunderschönen Traum gerissen hat, an den ich mich dafür diesmal ganz genau erinnern kann. Ich stand auf der Terrasse des alten Hauses in der Seestraße inmitten von Tischen und Stühlen und Stroh-Sonnenschirmen und hielt zwei Kaffeetassen in den Händen. Quer über die gelbe Hausseite stand in großen Lettern ›Café Butterblume‹, und viele lachende Menschen mit Sonnenbrillen saßen auf den Korbstühlen in der Sonne und genossen den herrlichen Blick auf den See und den Magnolienbaum, der in voller Blüte stand. Ich versuche, noch ein wenig die himmlische Ruhe aus diesem Traum auszukosten, und räkele mich in den Federn. Doch es hilft alles nichts, ich muss aufstehen. Als ich verschlafen in die Küche komme, sitzt Nini bereits fertig angezogen vor ihrem Müsli. Sie hat sogar schon den Kaffee fertig, die Liebe. Mir ist allerdings eher nach einem Aspirin zumute. Die vielen Weinchen gestern haben mir wohl doch nicht so gutgetan. Nini fragt grinsend: »Morgen. Na, so wie du aussiehst, war das ein schöner Abend?«

»Mitnichten. Das Einzige, was an diesem Abend wirklich toll war, war die Mode«, muffle ich zurück und löse die Tablette auf. Nini schnappt sich ihre Riesentasche und verabschiedet sich mit »Wir reden heut Abend« und einem Küsschen. Muss sie wirklich schon los? So, wie sie strahlt, hat das doch sicher mit diesem Marcus zu tun. Ich nehme mir vor, sie heute Abend nach ihm zu fragen. Und ich muss ihr unbedingt von dem alten Haus und meinem Traum erzählen. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass Träume eine Bedeutung haben. Und obwohl ich weiß, dass ich mir das alte Haus niemals werde kaufen können, geht es bzw. dieser Traum mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich muss herausfinden, wem es gehört und was sie dafür haben wollen. Das sollte mir nicht schwerfallen, schließlich sitze ich ja an der Quelle. Bei dem schönen Wetter heute ist ein buntes Blüschen angesagt und weiße Jeans. Ich binde mir die Haare zusammen und düse los, diesmal auf dem Rad. Gestern Abend habe ich mir fest vorgenommen, mehr für die Figur zu tun. Der Winter war lang und die Plätzchen sehr lecker, also gibt es jetzt nur zwei Möglichkeiten: entweder strenges Fasten oder mehr Bewegung. Da mir Ersteres leider nie im Leben gelingen wird, muss ich mich an die zweite Möglichkeit halten. Dafür ist heute ein wirklich guter Tag. Bilde ich mir das nur ein, oder sind die Leute um mich herum heute alle irgendwie besser drauf? Was so ein bisschen Sonnenschein doch ausmacht. Gleich sieht die Welt ganz anders aus und die Menschen haben ein Lächeln im Gesicht. Das gilt sogar für Herrn Aschenbrenner, denn obwohl ich geschätzte fünf Minuten zu spät komme, wünscht er mir freundlich einen guten Morgen. Wahrscheinlich waren der gestrige Abend mit seiner ›Püppi‹ und das Essen im ›Rosmarin‹ besonders gut … Die Atmosphäre dort ist wirklich schön. Trotz des modernen Mobiliars wirkt es dank der warmen Farben gemütlich, die Küche ist sehr einfallsreich und nicht überteuert. Kein Wunder, dass das Rosmarin zu Herrn Aschenbrenners Lieblingslokalen gehört. Auch ich wurde von Leon schon das eine oder andere Mal dorthin ausgeführt, besonders wenn wir einen neuen Wein vorstellen wollten. Ob er das in Zukunft wohl mit Anouk machen wird? Beim Gedanken an sie und den gestrigen Abend verfliegt doch tatsächlich meine gute Laune.

»Was für ein herrlicher Frühlingstag«, unterbricht Herr Aschenbrenner meine Gedanken.

»Nur ein schönes Tässchen Kaffee würde diesen Morgen jetzt noch abrunden.«

Nanu, die Kaffeemaschine ist ja noch gar nicht an. Ich werfe einen Blick in das ›Kabuff‹, in dem Irma normalerweise sitzt, das heißt, wenn sie mal sitzt und nicht irgendwo auf ihren hohen Hacken durch die Gegend wirbelt. Aber heute ist nirgendwo eine Spur von ihr oder ihrem Duft ›Soir de Moscow‹, den sie sich von ihren russischen Verwandten extra vom Flughafen mitbringen lässt und der, na ja, sagen wir mal, ein wenig zu süß duftet, zu sehen oder zu riechen.

»Kaffee ist schon in Arbeit!«, rufe ich Herrn Aschenbrenner zu.

»Ist Irma heute nicht da?«, frage ich, bevor ich unsere Schweizer Hightech Chrom-Kaffeemaschine starte und einen ordentlich starken Espresso zubereite.

»Irma hat sich heute krank gemeldet«, und diesmal klingt seine Stimme schon nicht mehr ganz so freundlich, wenn auch nicht so knurrig wie sonst. Tz, tz, diese Irma. Bestimmt hatte sie gestern Abend wieder irgendein Date und ist abgestürzt. Als ich den Espresso serviere, fragt Herr Aschenbrenner beiläufig nach dem Exposé für die Rütlis. Du lieber Gott, hoffentlich hat Irma das gestern noch erledigt. Aber das wird sie schon, schließlich hat sie es mir versprochen. Sonst bin ich einen Kopf kürzer, und das weiß sie. Also lüge ich ihn munter an: »Aber natürlich, Herr Aschenbrenner, Sie wissen doch, dass Sie sich auf mich verlassen können«, und ähnlichen Schmus. Zufrieden widmet er sich wieder seinem Baugesuch für ein Objekt in der Fußgängerzone in Singen. Aber dann fällt ihm ein: »Und was ist mit den Fotos von Objekt 415?«

»Hab ich gemacht, Chef«, flöte ich zurück, »spiele ich nachher gleich auf meinen Computer.« Ha, das mach ich doch gleich als Erstes. Die Fotos sind trotz des miesen Wetters gestern wirklich gut geworden. So schön sieht ›die Butterblume‹ aus. Am besten gefällt mir das Bild von der Rückseite des Gartens, wo die große Terrasse mit dem Magnolienbaum im Hintergrund zu sehen ist, wenn man mal davon absieht, dass dieser grobe Klotz von Gärtner ebenfalls, wenn auch ganz klein, zu erkennen ist. Automatisch muss ich wieder an meinen Traum von letzter Nacht denken und lächle vor mich hin. Herr Aschenbrenner schaut sich die Fotos an und spricht mir ein Lob aus. Was für ein Tag. Dass ich das erleben darf.

»Wer verkauft eigentlich das Objekt 415?«, frage ich zurück. Nur mal so, aus Interesse. Herr Aschenbrenner denkt einen Moment nach.

»Also, das bedarf noch etwas Recherche meinerseits«, antwortet er.

»Ich habe im Golfclub nur einen Tipp bekommen, dass die Besitzerin, eine alte Frau, gestorben sein soll. Die Erben sollen weit weg wohnen und kein Interesse haben, selbst einzuziehen, und deshalb verkaufen wollen. Da dachte ich mir, wir sichern uns die Sahneschnitte in dieser Topplage, so schnell es geht. Bevor die olle Schorg das mitbekommt.«

Frau Schorg ist, im wahrsten Sinne des Wortes, die dickste Konkurrenz für uns. Sie ist so rund wie klein, mit halb Überlingen verwandt, bekannt oder verschwägert und bekommt fast alles mit, was so läuft, egal, ob Tod oder Scheidung. Daher hat sie sehr oft die Nase vorn, wenn es um brandheiße Immobilienverkäufe geht. Allerdings nicht immer. Denn auch Herr Aschenbrenner hat seine Informanten überall, seine Spione sitzen im Golfclub, betreiben Gaststätten oder praktizieren im Krankenhaus. Außerdem ist er selbst hier aufgewachsen und kennt Gott und die Welt. Deswegen habe ich auch keinerlei Zweifel, dass er schnell herausfinden wird, wer das Haus zu welchem Preis verkaufen will. Bei dem Gedanken daran fühle ich einen merkwürdigen Schmerz in meinem Herzen. Bestimmt wird es wieder so ein neureiches Ehepaar aus Stuttgart oder Reutlingen sein, das den Charakter des alten Hauses durch zahlreiche Umbaumaßnahmen in Form von moderner Architektur komplett verändern und dadurch zerstören wird. Ich zwinge mich dazu, an eine Familie zu denken mit einem kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen, das in dem schönen Garten mit einem Hund spielen wird, und an einen Jungen, der seine Segeljolle an dem Steg festmacht. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Familie abends beim Grillen, und der kleine Hund tollt herum. Schon geht es mir etwas besser. Weil der Tag heute so schön ist, rufe ich meine Mutter an und lade sie spontan zum gemeinsamen Mittagsmahl ein. Nini hat heute den ganzen Tag Schule und wird mit ihren Freundinnen auf dem Schulhof ein Sandwich essen, aber ich habe heute nicht schon wieder Lust auf Käsebrot, und außerdem kam mir meine Mama gestern am Telefon so traurig vor. Begeistert sagt sie zu, und wir verabreden uns für 12.15 Uhr im Seegarten an der Promenade. Auf dem Weg dorthin mache ich noch einen Abstecher in die Parfümerie Drahtmann, um die Seife für Irma zu kaufen. Sofort, als ich das Geschäft betrete, umgibt mich ein betörender Duft. Strahlend kommt mir meine Lieblingsverkäuferin Heidi entgegen. Ich hatte gehofft, dass sie mich bedienen würde, denn sie ist einfach unglaublich nett. Es gibt Menschen, in deren Gegenwart man sich augenblicklich wohlfühlt, und sie ist so jemand. Abgesehen davon, dass sie wie keine Zweite meinen Geschmack für Parfum errät. Heute zieht sie mich mit verschwörerischer Miene zu einem Regal und sagt: »Wir haben gestern einen Duft hereinbekommen, bei dem ich sofort an dich denken musste.« Ich kann nicht widerstehen und schnüffele an dem schönen Flacon. Beim Aufsprühen auf die Haut entfaltet sich ein Duft nach Flieder und – was ist das noch? Ich glaube, Honig zu riechen. Der Duft ist weiblich, dezent und doch nachhaltig. Verstohlen blicke ich auf den Preis und erschrecke. Das ist im Moment wirklich nicht drin, stattdessen frage ich nach einer hübschen Seife für meine Kollegin. Heidi empfiehlt mir eine, die nach Maiglöckchen riecht und zudem eine schöne Schmetterlingsform hat. Das wird Irma gefallen. Beim Bezahlen sehe ich, dass Heidi mir ein Pröbchen von dem wunderbaren neuen Duft mit in die Tüte steckt. Wie nett von ihr. Damit werde ich demnächst meinen Liebsten betören, dann wird er jeglichen Gedanken an französische Marketing-Expertinnen vergessen.

Die Uferpromenade ist heute voller Menschen, kein Wunder bei dem schönen Wetter. Alle Lokale haben ihre Stühle und Tische draußen und Sonnenschirme aufgespannt. Auch im ›Seegarten‹ sind fast alle Plätze belegt, aber zum Glück hat meine Mutter schon ein Tischchen für uns ergattert und winkt mir von Weitem zu. Ich winke lächelnd zurück und freue mich wirklich, sie zu sehen. Mit ihren 67 Jahren sieht sie immer noch flott aus, was nicht zuletzt an den bunten und hellen Farben liegt, die sie immer trägt. »Schwarz macht alt« – das ist ihre Einstellung, und deswegen sieht man diese Farbe höchstens in Form von Handtaschen oder Schuhen an ihr. Auch heute trägt sie eine knallrote Jacke, darunter eine rot-weiß geblümte Bluse und eine weiße Hose. Dazu trägt sie marineblaue Ballerinas mit Goldborte und die dazu passende Handtasche. Ihre Haare sind eigentlich mittelbraun wie meine, jedoch von goldblonden Strähnen durchzogen und noch lockiger als meine. Wenn sie lacht, und das tut sie gern und oft, dann wirft sie den Kopf in den Nacken und zieht trotz ihres Alters alle Blicke auf sich. Auch heute ist sie hübsch geschminkt und trägt auffällige weiße Ohrclips. Am meisten bewundere ich ihre positive Lebenseinstellung. Obwohl ihr das Leben oft übel mitgespielt hat, verlor sie nie den Mut oder gar ihren Humor. Mein Vater, ihr Mann, war schwer krank und in den letzten Jahren seines Lebens oft ungerecht zu ihr. Vielleicht war dies seine Art, mit seiner Krankheit fertigzuwerden, aber für sie waren es schwere Zeiten. Hinzu kam, dass mein Vater aufgrund seiner Krankheit nicht mehr arbeiten konnte und sie deshalb die Brötchen mit einem anstrengenden Außendienst-Job verdienen musste. Als er vor 15 Jahren starb, konnte er ihr nicht viel hinterlassen. Statt im heulenden Elend zu versinken, machte es meine Mutter wie immer: Sie krempelte die Ärmel hoch, organisierte die Beerdigung und den Umzug in eine kleine Wohnung und ging weiter arbeiten. Kurz darauf brach sie zusammen. Als sie nach ihrem Herzinfarkt eine Bypass-Operation bekam, hatte sie endlich einmal Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Es war alles zu viel für sie gewesen. Also beschloss sie, weniger zu arbeiten und zur Abwechslung mal an sich zu denken. Sie suchte sich einen Job in der Altenpflege, den sie stundenweise ausüben konnte. Mit der zusätzlichen Betreuung von Nini, wenn ich arbeiten musste, war sie zwar ausgelastet, aber nie mehr so, dass es an ihre Grenzen ging. Die Arbeit bei den alten Leuten macht ihr viel Freude, denn nach eigenen Worten bekommt sie ›so viel zurück‹. Viel Geld verdient sie damit zwar nicht, aber sie braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Gibt man ihr einen Pinsel und ein paar Farben, malt sie die schönsten und fröhlichsten Bilder, die ihr sonniges Gemüt widerspiegeln. Natürlich gab es im Laufe der letzten Jahre immer wieder mal Männer, denen sie durch ihr blendendes Aussehen auffiel und die sich für sie interessierten. Aber ich glaube, die letzten Jahre mit meinem Vater hatten sie so geprägt, dass sie keinerlei Interesse verspürte, sich wieder an einen Mann zu binden. Schließlich hat sie ja einen netten Freundeskreis und uns. Im letzten Jahr allerdings vertraute sie mir immer mal wieder an, sie fühle sich doch oft sehr alleine und sehne sich hin und wieder nach einem Partner für ›ihre letzten Jahre‹. Aber es sollte schon ein echter Partner sein, der mit ihr schöne Stunden verbringen wolle und nicht nur einer, der »bekocht und betütelt« werden will. Aber da sie ja so viele Interessen hat, habe sie damit keine Eile. ›Wenn es sein soll, dass ich noch mal jemanden treffe, der mir gefällt und dem ich gefalle, dann schlage ich zu‹, sagt sie immer. Vor einem knappen Jahr entdeckte sie einen Klub der Deutschen Post, welcher Briefkontakte im Ausland vermittelt. Schwuppdiwupp hatte sie mehrere Damen und Herren angeschrieben, um ihre ›Englischkenntnisse aufzubessern‹, und Nini und ich bekamen die Briefe der neuen Brieffreunde regelmäßig zu lesen. Einer hat es ihr besonders angetan: Steve aus Michigan in Amerika. Er scheint ebenso wie sie über ausreichend Zeit zu verfügen, denn seit Monaten findet ein reger Briefwechsel statt und jede Woche überqueren Briefe und Karten den großen Teich sowohl in die eine als auch die andere Richtung. Natürlich werden Nini und ich ständig über das Neueste aus Steves Leben informiert. Insgeheim amüsiert uns dieser Feuereifer natürlich ein bisschen, aber das würden wir ihr gegenüber niemals zugeben. Wir freuen uns ja für sie, dass ihr dieses neue Hobby so viel Spaß bereitet. Und ihre Englischkenntnisse haben davon auch profitiert – wobei sie trotz Wörterbuch immer noch nicht alles versteht und mich oft um Übersetzungshilfe bittet. Ich hoffe sehr, dass dies heute nicht wieder der Fall sein wird, denn ich möchte ihr lieber von der Modenschau, der geheimnisvollen Anouk und auch von meinem Traum ›Butterblume‹ erzählen. Aber ich fürchte, daraus wird nichts, denn als ich mich zwischen den kleinen Tischen durchschlängle, kann ich auf meinem Platz schon ein Bündel Briefe erkennen. Innerlich seufze ich, begrüße meine Mutter jedoch mit einem freundlichen »Hallo«, und sie steht auf und drückt mich erst mal herzlich.

»Lass dich anschauen, Liebes. Wo kommen diese Augenränder her? Hat dich der alte Sklaventreiber so getriezt oder«, sie senkt die Stimme verschwörerisch, »hattest du eine heiße Nacht mit Leon?«, fragt sie augenzwinkernd.

»Ach, Mama«, will ich gerade ausholen und mich über meine Eifersucht auf die schöne Anouk auslassen. Da unterbricht sie mich und sagt: »Es ist ja so schön, dass du heute Zeit hast. Schau nur, wie viele Boote auf dem See sind.«

Ja, so ist sie. Freut sich an allem und lässt keine schlechte Laune gelten. Wir bestellen einen Salat mit Putenstreifen und eine Apfelsaftschorle. Ich lehne mich zurück und freue mich an dem bunten Treiben hier auf der Promenade.

»Weißt du, manchmal muss man einfach einen Gang runterschalten und das Leben genießen.« Und sie lacht schon wieder so laut, dass die Leute am Nachbartisch zu uns herübersehen.

»Ich muss dir was zeigen«, sagt sie weiter und öffnet einen der Briefumschläge. Heraus zaubert sie einige Fotos von ihrem Brieffreund Steve: Steve vor seinem Haus in Michigan, Steve mit seinem kleinen Hund und seinen Enkelkindern im Garten, Steve in der Küche usw. Sein Leben in Bildern.

»Na, wie findest du ihn?«, fragt sie mit vor Aufregung roten Wangen.

Also, ich finde, er sieht sehr sympathisch aus … aber auch … irgendwie sehr jung.

»Mama, wie alt, sagtest du, ist Steve?« Selbstverständlich hat sie mir alle Fakten über Steve bereits mitgeteilt bzw. ich ›durfte‹ sie ihr übersetzen. So weiß ich zum Beispiel, dass auch Steve seit vielen Jahren verwitwet ist, eine Tochter und vier reizende Enkeltöchter hat, noch berufstätig ist (ebenfalls im Außendienst), bereits einmal in München war und seitdem von Deutschland begeistert ist. Steve ist sehr religiös und übt in seiner Freizeit einige ehrenamtliche Tätigkeiten in seiner Kirchengemeinde aus. Auf den Fotos sieht er in der Tat sehr jugendlich aus, denn er trägt außer einem Schnurrbart auch einen Ohrring, Jeans und ein Sweatshirt, auf dem ›Michigan‹ steht.

»58«, sagt meine Mama und lächelt dabei.

»So, so, dann ist er also gute zehn Jahre jünger als du. Tja, der Trend geht eindeutig zum jüngeren Mann«, antworte ich scherzhaft.

»Neun Jahre, bitte schön. Außerdem weiß er das nicht …, denn ich sehe doch jünger aus, oder etwa nicht?«, antwortet sie.

»Mama! Soll das heißen, du hast ihm dein wahres Alter nicht verraten?«, frage ich sie empört.

Statt darauf zu antworten, sagt sie schwärmerisch: »Sieht er nicht schnuckelig aus?« Und ihr Gesicht nimmt endgültig einen träumerischen Ausdruck an. Ich habe fast den Eindruck, sie hat sich verliebt.

»In diesen Briefen sind ein paar Passagen, die ich nicht so genau verstehe. Dein Englisch ist doch so viel besser als meins. Könntest du mir die nicht schnell übersetzen? Ich habe sie extra markiert«, fragt sie bittend.

Aber meine Mittagspause ist zu Ende, und ich bin schon wieder spät dran. Also verspreche ich, die Briefe mitzunehmen und sie zu Hause nach Feierabend in Ruhe zu übersetzen, bezahle und hetze zurück ins Büro. Mist, ich wollte ihr doch so viel erzählen, aber ich kam ja vor lauter Gesäusel über Steve gar nicht zu Wort. Doch ich will nicht ungerecht sein, ich freue mich ja, wenn sie glücklich ist. Eigentlich hätte ich mich gar nicht so zu beeilen brauchen, denn Herr Aschenbrenner ist gar nicht da. Mit dem lapidaren Satz ›Bin auf Außenterminen‹ (sprich auf dem Golfplatz) hat er eine ellenlange Liste der Dinge, die heute noch erledigt werden müssen, unterschrieben. Ich sehe auf mein Handy, ob Leon eine SMS geschrieben hat, aber da ist nur eine von Eva, die mich fragt, wie die Modenschau war. Wenigstens eine, die sich dafür interessiert. Komisch, dass Leon sich nicht meldet. Ob er noch sauer ist, weil ich gestern Abend nicht mit zu ihm gegangen bin? Ich tippe ein kurzes ›Denk an Dich‹ in mein Handy und drücke auf ›senden‹. Wenn Irma nicht da ist, heißt das für mich, dass ich auch die ganzen anderen langweiligen Dinge erledigen muss wie die Ablage machen, Kopien, Post fertigmachen etc., doch damit geht der Arbeitstag wenigstens schnell vorüber. Auf dem Nachhauseweg halte ich noch kurz am Supermarkt und kaufe einige leckere Dinge ein.

Nini hat ja noch nichts gegessen, und so ein Salat hält auch nicht lange vor. Also besorge ich Spaghetti und ein paar Zutaten für eine frische Gemüse-Tomatensauce wie Zucchini und Auberginen und natürlich Tomaten, frischen Parmesan und zum Nachtisch leckeren Schokokuchen. Außerdem wandert noch eine Flasche italienischer Rotwein in meinen Korb. Natürlich trinke ich lieber die Römfeld-Tropfen, aber in letzter Zeit hat Leon immer nur Weißwein mitgebracht, weil er diesen lieber trinkt. Darum ist dies quasi ein Notkauf, jedenfalls kann ich ihm das so erklären, falls er zufällig vorbeischauen sollte. Ich freue mich richtig auf ein gemütliches Abendessen mit Nini, das wir bei diesem schönen Wetter vielleicht sogar auf unserem Balkon einnehmen können. Doch zu Hause stelle ich fest, dass zwar die pinke Shoppertasche im Flur liegt, aber Nini offenbar ausgeflogen ist. Lange kann sie nicht weg sein, denn in ihrem Zimmer kann ich noch ihr Parfum ›Petite Chérie‹ riechen. Auf unserem kleinen Bistro-Küchentisch liegt eine Botschaft:

›Hi, Mami, bin mit ein paar Leuten am See, ist so ein schöner Abend heute. Keine Angst, wird nicht spät. Küsschen, Nini.‹

Ich bin enttäuscht. Soll ich die Spaghetti alleine essen? Kurz entschlossen rufe ich Leon auf dem Handy an, aber es läuft nur die Mailbox. Im Büro des Weinguts ist natürlich auch niemand mehr, und bei ihm zu Hause meldet sich nur das Dienstmädchen und erklärt, Herr Römfeld sei leider außer Haus. Na wunderbar. Also doch alleine essen? Darauf habe ich irgendwie keine Lust. Ich mache mir ein Käsebrot und setze mich damit auf den Balkon. Der Abend ist so schön und die Stadt noch voller Menschen. Irgendwie hält es auch mich jetzt nicht daheim. Ich ziehe mir kurz die Lippen nach und die Turnschuhe an und bin, bevor ich es mir anders überlegen kann, aus der Tür und sitze auf meinem Rad. Gemütlich radle ich am See entlang und bin in kurzer Zeit in Nußdorf. Ohne darüber nachzudenken, habe ich diese Richtung eingeschlagen und finde mich schon bald in der Seestraße wieder. Die nette, ältere Dame ist mal wieder in ihrem Garten zugange, und als sie mich sieht, winkt sie kurz herüber. Ich steige ab und rufe ihr ein freundliches »Guten Abend!« zu, bevor ich das Rad langsam die Straße entlangschiebe. Die ›Butterblume‹ sieht im Abendlicht noch schöner aus als gestern, und der Garten wirkt so friedlich. Ich lehne mein Fahrrad an den Zaun und bemerke den Volvo von gestern, an dem diesmal ein großer Anhänger, mit Zweigen und Buschwerk beladen, angekoppelt ist. Also ist der freche Gärtner von gestern auch schon wieder da. Na, so ist’s recht. Soll nur alles schön ordentlich machen hier. Umso besser können wir das Objekt verkaufen. Wobei das ohnehin nicht das Problem sein dürfte, bei der Lage. Der See sieht heute so ganz anders aus als gestern. War er gestern noch grau und das Wasser rau, so ist er heute eine einzige spiegelglatte Fläche, in der sich das rosa Abendlicht wiederfindet. Staunend setze ich mich auf die Stufen, die zur Terrasse führen, und genieße diese himmlische Ruhe und die Abendsonne. Von dieser Terrasse habe ich heute Nacht geträumt, und dieser Traum ist mir auf einmal wieder so nah. Doch ich komme nicht dazu, weiter daran zu denken, denn eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken: »Na, Sie haben sich wohl echt verliebt?«

Der freche Gärtner. Wie kommt er dazu, mich so zu erschrecken.

»Ähhh, wie bitte? Nein, ich habe hier wohl gestern mein Notizbuch verloren«, sage ich verlegen und tue so, als hätte ich gestern tatsächlich irgendwas vergessen, indem ich mich suchend umschaue, doch er grinst mich nur an.

»Ach so, ich dachte schon, Sie wollten sich Ihre neue Immobilie noch einmal genauer ansehen«, sagt er und steckt sich eine Zigarette an. Er soll lieber schauen, dass er fertig wird mit seiner Arbeit, sonst kann er das Grünzeug heute nicht mehr abladen. Und morgen ist Samstag, da wird in der Mülldeponie sicher nicht gearbeitet, oder? Na, mir kann es ja egal sein.

»Was für ein schöner Abend, finden Sie nicht auch?«, fragt er mich.

»Man kann kaum glauben, dass es gestern noch so kalt und hässlich war. Aber so ist das hier am Bodensee, das Wetter ändert sich von einem Tag auf den anderen«, klärt er mich auf, als sei ich von Gott weiß woher.

»Ja, richtig schön heute«, antworte ich einsilbig und blicke mich immer noch suchend um.

»Also, ich habe den ganzen Tag hier im Garten gearbeitet, aber mir ist kein Notizbuch aufgefallen. Waren Sie denn auch im Haus?«

Nun, das wäre jetzt natürlich die Gelegenheit, mal einen Blick nach drinnen zu werfen, aber ich denke nicht, dass dieser Gartenbau-Dösi einen Schlüssel dafür besitzt.

»Aber ich kann mich gerne noch ein bisschen für Sie umsehen, ich hab hier noch länger zu tun«, sagt er und grinst schon wieder so unwiderstehlich.

»Wenn ich etwas finde, soll ich es Ihnen dann zuschicken? Oder kommen Sie in den nächsten Tagen wieder mal vorbei?«, fragt er.

»Ja, das kann durchaus sein. Also, falls Sie mein Notizbuch finden sollten«, antworte ich, obwohl ich weiß, dass das wirklich unwahrscheinlich ist, »dann legen Sie es doch bitte auf die Terrasse hinter den Blumenkübel, das wäre wirklich sehr nett von Ihnen, vielen Dank. Es ist klein und rot.«

Ich habe das Gefühl, selbst feuerrot zu werden, wahrscheinlich nur wegen der Notizbuch-Lüge oder vielleicht auch wegen seines frechen Grinsens. Er wünscht mir einen schönen Abend, setzt sich in seinen Volvo und fährt los. Ich koste noch einen Moment diese wundervolle Stille und den herrlichen Seeblick aus, dann wird es langsam kühl, und ich schwinge mich wieder auf mein Rad und radle Richtung Überlingen. Zu Hause angekommen, ist Nini schon da und endlich kann ich sie nach Marcus fragen.

Butterblumenträume

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