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Kapitel 1
Der Frühling kommt nicht recht in Schwung

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Schon immer ist der Frühling meine liebste Jahreszeit am Bodensee gewesen. Ich liebe es, wenn die vielen Obstbäume anfangen zu blühen und Tausende kleine weiße und rosa Blüten die Apfel- und Kirschbäume schmücken. Dann setze ich mich auf mein Rad und fahre einfach am See entlang. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, die ersten weißen Segelboote treiben auf dem spiegelglatten See. Gerade überlege ich, in welchem der kleinen Straßencafés in Überlingen ich meinen Cappuccino trinken soll, als mich eine laute Stimme unsanft aus meinen Träumen reißt. Sie gehört Karl Aschenbrenner, meinem Chef, denn in Wahrheit sitze ich nicht auf meinem Rad, mit dem Wind in den Haaren, sondern am Schreibtisch und versuche, ein paar langweilige Anschreiben und Exposés fertigzustellen.

»Frau Winter, wo bleibt das Exposé für die beiden Schweizer?«, brüllt er aus seinem Büro und reißt mich augenblicklich in die raue Arbeitswelt. Ich, Maja Winter, 38, bin die persönliche Assistentin und Leibeigene von Herrn Karl Aschenbrenner, Inhaber der ›Aschenbrenner Immobilien am Bodensee Agentur‹. Ich seufze und schnappe mir ein paar Briefe, die er noch unterschreiben muss, und bevor ich sein Büro betrete, gehe ich rasch an der Kaffeemaschine vorbei, um seine Stimmung mit etwas Koffein aufzubessern. Allerdings ist das heute wieder einmal zwecklos, denn so wie das Wetter ist auch seine Stimmung. Leider herrscht draußen überhaupt kein schönes Frühlingswetter, auch wenn ich mir das noch so sehr wünsche und es bereits Anfang Mai ist. Stattdessen ist es kalt, grau und neblig. So schön der Bodensee im Frühling, Sommer und Herbst auch ist, die Winter mit dem vielen Nebel können schon ein wenig deprimierend sein. Und in diesem Jahr ist auch das Frühjahr sehr durchwachsen. Seufzend stoße ich die Tür zu Herrn Aschenbrenners Büro auf und höre, was er sich wieder für eine kleine Nebenaufgabe für mich ausgedacht hat. Obwohl mein Schreibtisch mit so vielen unerledigten Dingen auf mich wartet und ich auch heute nie im Leben pünktlich Feierabend machen kann, lässt er sich immer wieder einige kleine Extras für mich einfallen. Ja, natürlich bin ich froh, in der angesagten Immobilien-Agentur am See einen so interessanten Job zu haben und dies schon seit über zehn Jahren, was mich quasi zu einer Art Inventar in diesem Laden macht. Das kann außer mir niemand von sich behaupten. Cholerisch, wie mein lieber Chef nun einmal ist, neigt er dazu, seine Mitarbeiter ruck, zuck auszutauschen, wenn ihm irgendetwas nicht passt. Und das ist sehr häufig der Fall. Natürlich bei Weitem nicht so oft, wie er seine Freundinnen wechselt. Im Laufe der Zeit habe ich mehr neue Partnerinnen von ihm kennengelernt als Autos, und das will etwas heißen, denn er fährt andauernd ein neues Modell. Inzwischen merke ich mir nicht einmal mehr die Namen der Damen und nenne sie, genau wie er, alle schlicht ›Püppi‹. Im Grunde tun sie mir leid, austauschbar, wie sie sind. So gesehen, kann ich mich wirklich glücklich schätzen, dass ich immer noch hier bin, aber wahrscheinlich bin ich die Einzige, die dieses Chaos hier überblickt, und er hat Angst vor dem Tag, an dem er selbst oder eine seiner Püppis sämtliche Unterlagen heraussuchen muss. Außer mir gibt es derzeit nur eine Angestellte, Irma, sie ist so eine Art Praktikantin, die neben Kaffee kochen, Kuchen holen, zur Post gehen usw. auch für die Ablage verantwortlich ist. Leider hat Herr Aschenbrenner Irma nicht wegen ihrer Qualifikationen, sondern hauptsächlich wegen ihres bezaubernden Lächelns und der nicht zu übersehenden Oberweite eingestellt. Ich habe den Verdacht, dass auch Irma eine Püppi werden wird, wenn sie es nicht schon ist, wer weiß. Tatsächlich ist sie eine witzige und intelligente, wenn auch leicht chaotische junge Frau, und wir beide lachen viel zusammen. Sie lebt nach Marilyn Monroes Grundsatz ›Ich kann schlau sein, wenn es nötig ist, aber die meisten Männer mögen das nicht‹, und ihre unerschütterliche Naivität hat ihr sicher schon so manchen Kummer erspart. Hin und wieder erfreut sie mich mit kuriosen Geschichten aus ihrem Privatleben, die stets sehr unterhaltsam sind. Unser Büro – es handelt sich um mehrere schöne, große und hohe Räume in einem ebenso schönen Altbau – befindet sich in der malerischen Stadt Überlingen am Bodensee. Vom Büro meines Chefs hat man natürlich einen traumhaften Blick auf den See und das gegenüberliegende Ufer, was schon so manchen potenziellen Käufer in seiner Entscheidung beeinflusst hat. Wer möchte nicht auch in einer derart schönen Gegend wohnen? Der Ehrlichkeit halber sollte ich vielleicht erwähnen, dass mein Chef sich nicht gegenüber jedermann als Ekel gibt, sondern, ganz im Gegenteil, bei vielen Leuten vor Charme geradezu sprüht, was ebenso wie sein unerhörtes Verkaufstalent hauptsächlich zum Erfolg der Agentur beiträgt, und ich persönlich bin davon überzeugt, dass er sogar in der Lage wäre, jeden noch so heruntergekommenen Schuppen derart schönzufärben, dass er dafür einen Käufer findet (was er, nebenbei gesagt, auch schon getan hat).

Für einen schönheitsliebenden Menschen wie mich ist es nicht ganz unwichtig, dass ich in einem edlen Ambiente arbeiten darf, und auch mein kurzer Arbeitsweg ist nicht unbedingt ein Nachteil. Im Sommer kann ich mit dem Rad fahren, es sei denn, ich habe einen engen Rock an, dann kutschiere ich meinen alten, klapprigen, aber heiß geliebten Mini, ebenso im Winter. Dieser Job sichert mir und meiner Tochter Naimi, genannt Nini, den Lebensunterhalt, und darum ertrage ich stillschweigend Herrn Aschenbrenners Launen und denke mir einfach mein Teil.

Nini und ich sind ein tolles Team. Sie ist süße 17, und wir kommen super miteinander aus. Einen Vater von Nini hat es nie gegeben, ich meine, natürlich gab es einmal einen Erzeuger, aber er wurde bereits in der Schwangerschaft wegen Unzuverlässigkeit abgeschrieben. Ich weiß nicht, ob Nini je etwas vermisst hat, aber so strahlend und fröhlich, wie sie ist, kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen. Wir beide sind eher Freundinnen als Mutter und Tochter und leben in einer gemütlichen kleinen Wohnung in der Altstadt von Überlingen. Gut, Überlingen ist eine Kleinstadt, aber im Sommer, wenn die Touristen die Stadt bevölkern, ist ganz schön was los. Auf der mit Palmen gesäumten Uferpromenade reiht sich ein Café und Lokal an das andere, und ich liebe es, an einem lauen Sommerabend dort zu sitzen und die Menschen zu beobachten, die vor mir auf und ab flanieren. Steht man vor dem Haus, in dem wir wohnen, kommt es einem ein wenig windschief vor, aber das kann auch täuschen, besonders, wenn man an der Uferpromenade ein Gläschen Wein zu viel getrunken hat. Die Eingangstür ist blau wie die Tür aus dem Film ›Notting Hill‹, und nicht nur deswegen lieben wir unser Zuhause. Der Weg in unsere Dachwohnung führt über eine ausgetretene alte Holztreppe. Wir haben ein gemütliches kleines Wohnzimmer mit einem riesigen lilafarbenen Sofa, das mit unzähligen Kissen übersät ist, und einem tollen, mit Rosenstoff bezogenen Ohrensessel, davor ein kleiner, meist mit Modezeitschriften bedeckter Tisch, und an der einzigen nicht schrägen Wand steht ein großes Bücherregal. In einem Erker befindet sich mein Schreibtisch, der ähnlich überfüllt ist wie der in meinem Büro. Auf der gegenüberliegenden Seite nehmen wir unsere Mahlzeiten am Esstisch vor dem Fenster ein, und es gibt sogar einen winzig kleinen Balkon, der gerade Platz genug für zwei bequeme Korbstühle, einen Sonnenschirm sowie ein Tischchen bietet, wo wir im Sommer gerne frühstücken oder die Abendsonne genießen. Zwischen den Häusern kann man sogar ein Stückchen See sehen, natürlich nicht so spektakulär wie aus dem Fenster im Büro von Herrn Aschenbrenner, aber immerhin.

Hier haben wir zwischen ein paar von Nini selbst bemalten Blumentöpfen mit Geranien schon so manch lustige Stunde verbracht, aber auch das eine oder andere Problem diskutiert.

Außerdem gibt es in unserer Wohnung noch eine hübsche weiße Küche, ein rosa gestrichenes Bad mit einer altmodischen Wanne und für jede von uns ein Schlafzimmer. Ninis Zimmer ist zartgelb gestrichen und meines hellblau. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass Blau eine beruhigende Wirkung auf die Psyche hat, und ich dachte, im Schlafzimmer könne das nicht schaden. Leider sehe ich von der Farbe meistens nicht viel, denn wenn ich ins Bett falle, bin ich so müde, dass ich sofort einschlafe. Deshalb liegen die Romane auf dem Nachttisch nur herum, denn gelesen werden sie auf dem erwähnten Sofa oder in meiner Mittagspause auf irgendeiner Parkbank am See. Mein Kleiderschrank ist viel zu klein, aber ich habe schon den größten ausgewählt, der in dem kleinen Zimmer Platz hat. Deshalb hängt immer ein Teil meiner Kleider entweder am Schrank oder liegt quer auf der Holzkommode, über der ein großer Spiegel angebracht ist und die zudem mit Modeschmuck und Parfumflaschen vollgestellt ist. Ninis Zimmer hat diverse Entwicklungsphasen von ihr durchlebt, angefangen vom rosaroten und leicht kitschigen Mädchentraum über die Indienphase mit lauter bunt bestickten Kissen bis zu ihrer aktuellen sonnengelben Deko. Glücklicherweise sind ihre Möbel weiß lackiert und können je nach Laune farblich variiert werden. Unsere Wohnung ist alles andere als ein Designertraum, aber sie ist unser stiller Rückzugsort von allen alltäglichen Widrigkeiten, ein richtiges Zuhause eben. Ich bin überzeugt, Nini sieht das genauso, auch wenn die meisten ihrer Freundinnen in schicken Einfamilienhäusern am Bodenseeufer leben. Interessant ist, dass eben diese Freundinnen sich ebenfalls häufig und gern bei uns aufhalten und nach der Schule zusammen Spaghetti kochen oder einen frischen Salat zubereiten, von dem ich, wenn ich Glück habe, auch etwas abbekomme. Ich habe den Verdacht, dass sie in ihren Designerküchen nichts dreckig machen dürfen, während unsere Küchenzeile schon so einiges ausgehalten hat.

Nini hat mein rundes Gesicht geerbt, allerdings hat sie blaue und ich grüne Augen, und zurzeit sind ihre Haare blond und glatt, meine braun und lockig. Sie kann natürlich so viel Schokolade essen, wie sie will, während ich diese nur anzusehen brauche, um zuzunehmen. Obwohl ich ständig mit dem Rad unterwegs bin, während ihr einziger Sport daraus besteht, von einer Boutique zur anderen zu laufen, ist sie selbstverständlich um einiges schlanker als ich. Was sie jedoch nicht davon abhält, sich immer wieder Sachen aus meinem Schrank auszuleihen, während ich das nur mit ihren Schuhen und Taschen machen kann. Da sie davon allerdings reichlich besitzt und wir dieselbe Schuhgröße haben, profitiere ich also auch ein wenig.

Nun zurück zu dem grauen Nebeltag und zu meinem mies gelaunten Chef.

»Frau Winter, ich dachte, ich hätte Sie schon gestern an das Exposé für die Schweizer erinnert. Was ist denn jetzt damit? Ist das endlich raus?«

Ich lächle ihn freundlich an und stelle ihm erst mal seine Kaffeetasse hin, um ihn positiv zu stimmen.

»So gut wie«, fabuliere ich, obwohl es noch nicht einmal geschrieben, geschweige denn ausgedruckt ist. Um genau zu sein, weiß ich nicht einmal mehr, für welche der Wohnungen diese Schweizer sich interessiert haben. Aber irgendwo auf meinem Schreibtisch befindet sich die Notiz, da bin ich mir ganz sicher. An das Ehepaar Rütli kann ich mich sehr gut erinnern, besonders an sie. Es sind ältere Leute, die ihr Haus in Zürich verkaufen und sich eine schicke Eigentumswohnung am Bodensee kaufen wollen, um den Ruhestand hier inmitten ihrer Lieblings-Golfplätze zu verbringen. Natürlich haben wir einige sehr exklusive Immobilien im Angebot, die dem anspruchsvollen Geschmack der beiden gerecht werden könnten. Ich weiß nur nicht, ob Herr Aschenbrenner die Wohnanlage ›Immengarten‹ in Ludwigshafen mit Seeblick oder die ›Kirschblüte‹ in Salem inmitten der herrlichen Obstbäume angeboten hat. Daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, sondern nur an den arroganten Auftritt von Frau Rütli bei uns im Büro mit ihrer Hermes-Tasche und den Louboutin-Pumps und wie sie mir im Vorübergehen: ›Zwei Kaffee Crème ohne Zucker!‹ hingeworfen hat und dass ich mich fragte, ob ihr Gesicht nun geliftet oder Botox gespritzt ist. Ich meine, es gibt keine Frau über 60, die eine derart faltenfreie Stirn hat. Jedenfalls ließ Herr Aschenbrenner seinen Charme spielen und machte ihr Komplimente, wie ihr glockenhelles Lachen aus seinem Büro bewies. Ihm ist natürlich bewusst, wie wichtig die Ehefrau bei der Entscheidung über eine Immobilie ist, daher gibt er sein Bestes. Als alter Hase weiß er aber auch, dass er es nicht übertreiben darf, denn sonst ist der Ehemann verärgert, und dann wird es nichts mit dem Verkauf. Doch findet er jedes Mal das richtige Maß, und wegen dieses Gespürs beneide nicht nur ich ihn, sondern auch seine zahlreichen Mitbewerber hier am See. Welche Immobilie war es nur? Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Schreibtisch zu durchwühlen. Das werde ich gleich als Nächstes tun, so viel steht fest. Bevor ich allerdings meinen Schreibtisch ansteuern kann, hält er mich noch einmal zurück: »Ach ja, Frau Winter, und bitte denken Sie dran, einen Friseurtermin für mich zu vereinbaren, am besten gegen 17.30 Uhr, und reservieren Sie mir einen schönen Tisch im ›Rosmarin‹ für zwei Personen auf 19.30 Uhr, ja? Und fahren Sie bitte nachher noch in der Seestraße in Nußdorf vorbei und fotografieren das Objekt 415. Wenn es geht, bevor es dunkel ist und von allen Seiten, auch den Garten – das werden Sie wohl hinbekommen?«

»Klar, Herr Aschenbrenner, das mache ich gerne auf dem Heimweg.«

Was für ein Glück, dass ich nicht nur meine Kamera, sondern auch den Mini dabei habe und bei diesem Nebel nicht den ganzen Weg nach Nußdorf hinaus radeln muss.

»Vergessen Sie nicht, das Exposé für die Rütlis zur Post zu bringen«, bellt er mir noch hinterher. Aber da habe ich die Bürotür bereits hinter mir geschlossen und atme tief durch. Wie ich mich auf meinen Feierabend freue. Ein Gläschen Rotwein und eine Tafel Schokolade auf dem lila Sofa, eine Jogginghose und eine Entspannungsmaske – mehr brauche ich nicht, um glücklich zu sein. Ich überlege gerade, ob ich mir nach der Arbeit in Monis Bücherstube einen spannenden Krimi besorgen soll, als mein Handy in der Handtasche eine SMS vermeldet. Handys auf dem Schreibtisch sieht Herr Aschenbrenner nicht gerne, und so muss es ein Schattendasein in meiner überfüllten Handtasche fristen. Meistens gehe ich nicht ran, denn Herr Aschenbrenner mag private Telefonate während der Arbeitszeit noch weniger. Doch jetzt bücke ich mich und fummle das Handy heraus, in der Hoffnung, dass er das Büro nicht gerade jetzt betritt, weil ihm noch etwas Wichtiges einfällt. Viel wichtiger als das, was ich gerade lese, kann es gar nicht sein.

›Hallo, meine Süße, denkst du an die Modenschau heute Abend? Pünktlich um 19 Uhr hole ich dich ab, freu mich. Leon.‹

O Gott, wie konnte ich das nur vergessen! Wahrscheinlich habe ich den Gedanken daran einfach verdrängt.

Butterblumenträume

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