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2.2 Spiritueller Konsumismus und Synkretismus – Das Panorama neuer Spiritualitäten als Herausforderung an den Seelsorger

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„Innerhalb der offenen und keineswegs eindeutigen Begrifflichkeit ‚neue Religiosität‘ ist im Einzelnen zu differenzieren, z.B. in historischer Perspektive zwischen Religionen und Naturreligionen, in phänomenologischer Hinsicht zwischen religiösen Gemeinschaften und religionsartigen Erscheinungen, in theologischer Hinsicht zwischen Strömungen und Gruppen, die für sich selbst Christlichkeit beanspruchen und solchen, die sich dezidiert ohne Bezugnahme auf die christliche Tradition verstehen.“38

Charakteristisch für postmodernes religiöses Konsumverhalten ist, dass einzelne religiöse Elemente und Rituale eklektisch aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgenommen und in lebenspraktischer Hinsicht zeitweilig aufgegriffen und ausprobiert werden. „Die Postmoderne ist synkretistisch, man baut sich aus verschiedenen Elementen eine Patchwork-Religion zusammen. Wahrheit hat in der Postmoderne keinen hohen Wert. Das führt dazu, dass es beliebig ist, wie man sich religiös orientiert, es muss nur etwas bringen. Das führt dazu, dass man seine Lebensentscheidungen einer Wahrsagerin überantwortet, die aus Tarotkarten oder astrologischen Büchern herausliest, ob man mit einem Partner zusammenbleiben, Kinder bekommen oder nicht bekommen soll.“39

„Was wir nicht alles sein sollen: ‚Sinnagentur für höhere Werte‘, ‚soziale Feuerwehr‘, die stets mit ihren Löschzügen zur Stelle ist, wenn es irgendwo brennt, ‚Feier-Institution‘, die den tristen Alltag verschönert und Glanz von oben auf die harten Realitäten des Lebens hier unten fließen lässt ...“40 Der Klinikseelsorger muss davon ausgehen, dass seine Begleitungsangebote wie Gebet und Krankensalbung von den Patienten oft gleichwertig neben anderen Angeboten aus dem psychosozialen Bereich ergriffen und „genutzt“ werden. Die Kurseelsorgerin weiß, dass ihr Angebot von religiösen Gesprächskreisen und Bibelabenden mit esoterischen und Heilungsund Wellnessprogrammen, pseudoreligiösen Beratungs- und Meditationsangeboten konkurriert. Von Gongmeditation bei Räucherstäbchen bis zu Heilungsritualen in der Gruppe, von Qi Gong über T’ai chi bis Feng Shui finden immer mehr Angebote in Kursprogrammen und zunehmend auch im Bildungsbereich christlicher Bildungshäuser gleichrangig ihren Platz.

Der „Zwang zur Häresie“ (Peter Berger), der Druck ständig auswählen zu müssen, bestimmt die Denk- und Lebensform. Neue Religiosität bedeutet zudem, dass vieles miteinander verbunden und vermischt wird.41 Theistische und pantheistische Spiritualität weisen in Deutschland eine deutliche Nähe zu den Kirchen auf. Für Westdeutschland ist „ein stark durch die großen Kirchen geprägter, asymetrischer religiöser Pluralismus“ charakteristisch. Ein großer Teil des religiösen Pluralismus spielt sich unter dem Dach der großen Kirchen ab. So reicht das dem Christentum eher ferne pantheistische Religionsmuster offensichtlich bis weit in die Reihen der Kirchenmitglieder hinein. Die typischen ‚Komponisten‘ beider Spiritualitätsmuster lassen sich in der Regel unter den Kirchenmitgliedern und nicht unter den Konfessionslosen finden.“42 Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass die Kirchenmitgliedschaft selbst das individuelle religiöse Erleben letztlich nicht eindeutig bestimmt.“43

Der Einzelne wird nach den quantitativen Untersuchungen des Religionsmonitors zum religiösen „Komponisten“; man ist, so belegen es die qualitativen Interviews dieser Untersuchung, „offensichtlich daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, die mit Inkonsistenzen zurechtkommt. Man darf dieses Ergebnis nicht unterschätzen: Inkonsistenz ist hier kein Mangel, sondern ein Zeichen dafür, wie sehr Bewohner einer modernen Gesellschaft an Inkonsistenz gewöhnt sind und letztlich vieles für kommensurabel halten: Es lassen sich dann christliche und esoterische, buddhistische und animalistische Formen miteinander kombinieren, ohne dass damit die einzelnen Formen diskreditiert werden.“44

In der Gemeindepastoral sind diese Szenen in „Randgesprächen“ erspürbar, wenn z.B. von treuen Kirchgängern zugegeben wird, dass die eigentliche Kraft aus dem täglichen Joga kommt, wenn ein Teil der Pfarrgemeinderäte lieber zu Jazzgottesdiensten am Sonntagabend geht oder das Herz der Lektorin für die Zenmeditation schlägt. Dieses Phänomen belegen auch die Ergebnisse des Religionsmonitors. „Unser empirisches Material zeigt aber, dass innerhalb des Religionssystems gewissermaßen unorganisierte und unorganisierbare Formen religiösen Erlebens sich etablieren - auch bei denjenigen, denen intensives religiöses Erleben alles andere als fremd ist.“45 Und für pastorales Personal noch schmerzlicher: „Je intensiver sich die je eigene Religiosität darstellt, desto innerlich unabhängiger scheinen Personen von ihrer Kirchlichkeit zu sein.“46

Das Phänomen der „Adaptiven Navigation“ wird von den Verfassern der Sinusstudie verwendet, um die Grundstimmung junger Milieus zu beschreiben. Es geht nicht mehr um eine auf dauerhaften Sinn ausgerichtete Suche. Es geht nicht darum, mithilfe geistlicher Übungen und Begleitung den einen lebensübergreifenden Sinn zu entdecken. Ziel ist nicht, den eigenen lebenslangen Weg zu entdecken. Jede Lebensphase, beruflich und privat, hat ihren eigenen Sinn, den es zu entdecken gilt, ohne Anspruch auf dauerhafte Sinnstruktur. Dies bedeutet eine Rollenneuformatierung für den Seelsorger, weil es nicht mehr um lebenslange Begleitung der „Schafe“, sondern zunehmend um punktuelle und lebensbiographisch ausschnitthafte Angebote geht. Hinter den verschiedenartigen Phänomenen neuer Religiosität stehen unterschiedlich zu bewertende Ausdrucksformen menschlicher Sehnsucht und Transzendenzsuche. „Neue Religiosität ist insofern eine seelsorgliche Herausforderung. Sie erinnert Kirchen an die Notwendigkeit ihrer eigenen religiösen Profilierung und unterstreicht die Aufgabe, suchende Menschen zu begleiten, unterschiedliche Motive und Gesprächssituationen wahrzunehmen, die hinter den Suchbewegungen stehen, und die eigene spirituelle Kompetenz zu vertiefen.“47

Blasberg-Kuhnke verweist auf das bleibende Dilemma, als Repräsentant einer Institution und als kirchlicher Rollenträger in dieser kirchlichen „Großwetterlage“ den eigenen theologischen und pastoralen Überzeugungen (oder Zweifeln) treu bleiben zu können. Misstrauen und Ablehnung oder Desinteresse bekommen die pastoral Handelnden in ihrer Person und Rolle zu spüren. „Die Spannung von (notwendiger) Identifikation mit der Kirche und (ebenso notwendiger) Distanz wird gegenwärtig wohl nicht leichter, sondern vielmehr schwieriger und belastender ...“48 Aggression und Ärger oder Trauer und Depressivität können Reaktionen auf das wahrzunehmende Desinteresse vieler Kirchenmitglieder an kirchlichen Themen und Angeboten sein. Auch kann nicht verschwiegen werden, dass das spirituelle Spektrum der Hauptamtlichen in der Kirche selbst eine große Bandbreite umfasst. Unter katholischen Religionslehrern und Pastoralreferenten finden sich praktizierende Zenbuddhisten, Berührungspunkte mit schamanischen Heilungsriten erlebt man auch im Kreis kirchlicher Kur- und Klinikseelsorger und Seelsorger geben in Berufsgruppentreffen und internen Kreisen zu, dass sie sich selbst von vielen liturgischen Feiern des Kirchenjahres als Privatperson kaum ansprechen lassen. „Je intensiver unsere Interviewpartner ihr eigenes Glaubensleben erleben, desto mehr geraten sie in innere Distanz zur kirchlichen Praxis, ohne diese freilich generell abzulehnen.“49 Das Resümee des Soziologen Armin Nassehi nach Auswertung des qualitativen Materials des Religionsbarometers betrifft hauptberufliche Seelsorger in zweifacher Hinsicht. In ihrer Berufsrolle als Gemeindepfarrer oder Pastoralreferent leiden sie unter der spirituellen Abwanderung der Gläubigen; sie selbst wagen ihre eigenen außergemeindlichen Suchbewegungen kaum offen zu kommunizieren, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. Der Synkretismus, der insbesondere in Gemeinden erlebt wird, korrespondiert mit den „verschiedenen Seelen“ in der Brust manches Gemeindeleiters, der sich jedoch – zumindest in den konservativen Milieus – dem Anspruch ausgesetzt sieht, offizielle Kirchenlehre vertreten und verkünden zu müssen. Seelsorger als Vertreter einer Institution, welche als sinnstiftende Instanz kein Sinnmonopol mehr besitzt, weil auch die Erwartungen bezüglich Konsistenz und konfessioneller Eindeutigkeit gesunken sind, müssen sich selbst neu definieren. Hauptamtliche in der Pastoral als offiziell Beauftragte stehen vor neuen Herausforderungen, wenn „Inhalte in den Hintergrund geraten, weil sie letztlich nicht für sich zählen, sondern nur in der Form, wie sie authentisch eingesetzt werden können.“50 Neben fachlich theologischer Auskunftsfähigkeit gewinnt die personale und soziale Kompetenz im Glaubensvermittlungsgeschehen an Bedeutung. Es geht um Diskursund Konfliktfähigkeit.

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