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Kapitel 3

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Die letzten Gäste gingen erst gegen 2 Uhr morgens. Völlig übermüdet räumten Charlotte und der harte Kern – Sanne, Max, Christoph und Johannes – noch das Notwendigste auf. Als Charlotte eine zerdrückte Erdbeere aus der Bowle auf ihrem weißen Teppich entdeckte, reichte es ihr endgültig. Sauer entfuhr ihr: „So ein Scheiß! Kann man das dann nicht gleich wegmachen? Jetzt krieg ich das doch nie wieder raus!“ „Hey, ist doch nicht so schlimm. Dann fahren wir einfach nächste Woche zum Ikea und ich kauf dir nen neuen“, versuchte Johannes zu schlichten. Doch Charlotte war frustriert über das versaute Ende der Feier, so dass sie überhaupt nicht darauf einging. Nachdem sich Sanne, Christoph und Max verabschiedet hatten, versuchte Johannes erneut, die Wogen zu glätten. Er zog sie in seine Arme. Widerwillig ließ Charlotte es geschehen. Er strich ihr über den Rücken und sagte: „Hey Schatz, das war doch ein toller Abend, findest du nicht? Meine Freunde fanden dich alle supernett, das hab ich ihnen bei der Verabschiedung noch aus den Nasen gekitzelt.“ Dabei wiegte er sie leicht hin und her, um sie aufzumuntern. Charlotte brummte, aber die Worte taten ihr gut. Sie spürte, wie Johannes an ihrer Wange ein Lächeln aufsetzte. „Und jetzt gehen wir schön ins Bettchen, was meinst du?“ Doch es war weniger als Frage gemeint, da er sich bereits von ihr löste und sie an der Hand ins Schlafzimmer ziehen wollte. Der Blick, mit dem er Charlotte dabei ansah, ließ sie ihre Hand zurückziehen. Etwas unwirsch erwiderte sie: „Ne, sorry, aber ich will heute Nacht wirklich meine Ruhe haben. Das war echt anstrengend heute.“ ‚Und auf Sex mit dir habe ich jetzt wirklich keine Lust‘, fügte sie in Gedanken hinzu. Ein harter Zug legte sich um Johannes‘ Mund, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Einen Augenblick lang blieb er wie angewurzelt stehen, dann schlug er die andere Richtung zur Türe hin ein und griff mit einer zackigen Bewegung nach seiner Jacke: „Na schön, wenn du meinst. Ich dachte, du wolltest den Abend gerne mit mir gemeinsam abschließen.“ Dann schlug er, obwohl es inzwischen 3 Uhr morgens war, die Tür hinter sich zu.

Ring, ring, ring – unerbittlich schrillte der Alarmton am Sonntagmorgen um 8:00 Uhr. Charlotte angelte halbblind nach dem Wecker, stellte ihn aus, und legte sich stöhnend einen Arm über die Augen. „Oh Mann“, sagte sie zu sich selbst. „Warum genau habe ich nochmal eingewilligt?“ Murrend erhob sie sich aus ihrem Bett und schlurfte barfüßig ins Bad. Als sie in den Spiegel blickte, schauten ihre braunen Augen zwischen verquollenen Lidern zurück. „Willkommen in den Dreißigern“, sagte sie lakonisch zu ihrem Spiegelbild. Um sich wach zu kriegen, drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. ‚Am besten gehe ich gleich joggen, wenn ich mit Dostojewski rausgehe, das macht mich wieder fit‘, überlegte sie in einem Anflug von Masochismus. Charlotte beendete ihre Katzenwäsche und setzte sich in ihrem Wohnzimmer auf den Teppich. Den Fleck hatte sie am Vorabend noch notdürftig herausgeputzt. Sie streckte ihre Beine aus und begann, sich leise ächzend zu dehnen. Anschließend schlüpfte sie in ihre Joggingklamotten. Sie band sich einen Pferdeschwanz und öffnete sämtliche Dachfenster, um den Muff des gestrigen Abends auszulüften. Beim Gedanken daran, wie sie und Johannes auseinandergegangen waren, sah sie wieder seinen vorwurfsvollen Blick vor sich, den er ihr zugeworfen hatte. Doch sie wollte jetzt nicht daran denken. Schnell schnappte sie sich ihr Handy und ihren Schlüsselbund und zog die Wohnungstüre hinter sich zu.

Im Erdgeschoss an Richlings Eingangstür steckte sie leise seinen Schlüssel ins Schloss. Dieser ungewöhnliche Vertrauensbeweis von Richling rührte von seiner Faulheit her – so musste er nicht aufstehen, um sie reinzulassen. So geräuschlos wie möglich drückte Charlotte die Wohnungstüre auf und rief leise: „Dostojewski? Komm, mein Junge, komm!“ Nach einem kurzen Moment der Stille hörte sie, wie sich der alte Hund seufzend aus seinem knarzenden Körbchen erhob und schwerfällig in ihre Richtung trottete. „Ja hallo, guten Morgen“, sagte Charlotte und merkte, wie sich ihre Stimmung beim Anblick des Fellberges hob. Der Bernhardiner kam ihr träge, aber schwanzwedelnd entgegen. Er war wahrscheinlich genauso müde wie sie, aber er freute sich trotzdem, sie zu sehen. Charlotte ließ den Hund an sich vorbei in den Flur hinauslaufen und schnappte sich die Leine, die Richling auf einem Ablagesims neben seiner Türe deponiert hatte. Sie klickte den Haken an Dostojewskis Halsband fest und sagte, immer noch gedämpft: „Komm, mein Junge, heute machen wir mal die große Runde im Weinberg. Was hältst du davon?“ Dostojewskis Rute schwang schwerfällig hin und her, und Charlotte deutete das als Zustimmung.

Nach knapp 10 Minuten zu Fuß erreichten die beiden die Weinberge am Kappelberg. Sie passierten ein Schild, welches das Gebiet als Greifvogelgebiet erklärte. Charlotte nahm Dostojewskis Leine ab. ‚Den dicken Brocken kann sich eh kein Vogel angeln’, dachte sie spöttisch. Dann fiel sie in einen sanften Laufschritt. Zum einen, weil sie den alten Hund nicht überfordern wollte, zum anderen, weil es leicht bergauf ging. Sie passierten die ersten Weinreben. Charlotte ließ ihren Blick über die Pfosten schweifen, an denen auf Metallplatten die Rebsorten ausgewiesen waren. Da es ein Weinwanderweg war, hatten die Weinbauern pro Reihe jeweils eine Sorte angepflanzt. Nach ein paar Metern bemerkte Charlotte, wie ein riesiger Vogel kreisförmig seine Bahnen hoch oben am Himmel über ihr zog. Ein paar Minuten später hatte sich ihr Puls beschleunigt, und sie spürte die Muskeln in ihren Oberschenkeln pulsieren. Sie genoss das Gefühl, wie die frische Luft ihre Lungen füllte und sie die Müdigkeit mit jedem Schritt weiter aus ihrem Körper vertrieb. Allerdings bemerkte sie, wie Dostojewski, nachdem er anfänglich erfreut losgetrottet war, sich langsam zurückfallen ließ. Im Laufen warf Charlotte einen Blick über ihre Schulter und rief lachend nach hinten: „Na los, alter Junge. Verdien dir dein Fresschen!“ Doch sie zeigte Erbarmen und blieb stehen, bis der alte Hund sie mit heraushängender Zunge wieder eingeholt hatte. Sie atmete tief durch, stemmte die Hände in die Hüften und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie genoss die wärmenden Sonnenstrahlen und spürte, wie Dostojewski sich gegen ihre nackten Unterschenkel drückte. Charlotte öffnete wieder die Augen und tätschelte den großen Kopf des Hundes. Dabei spürte sie, wie eine frische Windböe sie beide umwehte.

Auf einmal reckte der Rüde hektisch schnüffelnd die Schnauze. „Was ist denn?“, fragte Charlotte und lachte über seine wackelnden Lefzen. Im nächsten Moment schoss der Hund in ungewohnter Schnelligkeit davon, mitten hinein zwischen die vor ihnen liegenden Rebstöcke. „Hey, wo willst du denn hin? Hast du nen Hasen gewittert, oder wie?“, immer noch lachend lief Charlotte ihm nach. „Oh Mann, da darf man doch gar nicht rein, du dummer Hund“, rief sie und hoffte, dass kein anderer Spaziergänger vorbeikam und ihr Treiben sah. Die Weinreben hatten bereits ausgetrieben, waren aber noch nicht blickdicht. Vorsichtig, um ja keinen Schaden anzurichten, lief Charlotte vorwärts, um den Hund wieder anzuleinen. Kurz bevor sie ihn eingeholt hatte, sah sie, dass Dostojewski ein paar Meter vor ihr stehen geblieben war. Sie drückte mit dem Daumen den Haken an seiner Leine und streckte den Arm nach ihm aus.

Doch mit einem Mal bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Eine merkwürdige Stimmung breitete sich in ihr aus. Als ob mit diesem Ort etwas nicht in Ordnung wäre. Ihr Blick erfasste eine kleine Schar imposanter Greifvögel, die sich unmittelbar neben dem Hund am Boden versammelt hatte. „Dostojewski?“, rief sie mit belegter Stimme. ‚Oh Gott, hoffentlich greifen sie ihn nicht an ... Wittern sie etwa, dass er schon alt ist? Alt genug, um als Beute in Frage zu kommen?‘, überlegte sie in einem Anflug von Panik.

Doch als sie noch einen Schritt näher trat, reagierten die Vögel zu ihrer Erleichterung und stoben in alle Richtungen davon. „Puh“, sagte Charlotte erleichtert. „Dein Herrchen hätt mir was erzählt, wenn ich ohne dich nach Hause gekommen wäre!“ Doch der Hund schien gar nicht auf sie zu achten. Auch die davongestobenen Vögel interessierten ihn wenig. Charlotte verstand endlich, dass der Bernhardiner auf etwas konzentriert war, das vor ihm lag. Er beugte sich über eine Senke am Boden, in die er inbrünstig seine Nase steckte. Sein ganzer Körper schien vor Aufregung zu vibrieren. Charlotte konnte nicht erkennen, was in der Grube lag. Lauter rief sie nach dem Hund: „Dostojewski, jetzt lass das, verdammt. Komm da weg.“ Inzwischen war sie genervt davon, dass der Bernhardiner so gar nicht auf sie hörte. Gleichzeitig beschlich sie eine gewisse Vorahnung. Sie trat noch näher an den Hund heran. Und im selben Moment erkannte sie, was ihn so faszinierte. Mit einem Anflug von Übelkeit dachte Charlotte: ‚Nicht schon wieder.‘








Mord im Weinberg

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