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Kapitel 7

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Am nächsten Morgen stand Charlotte vor einem imposanten Eisengitter, hinter dem sich das riesige Anwesen von Nikolas Paulsen befand. Als sie durch die Gitterstäbe spähte, erkannte sie einen gewaltigen Garten mit großräumigen Hecken und hohen Bäumen. Vom Gitter aus führte ein gekiester Weg zur Villa - von der Charlotte einen kleinen Teil erspähen konnte. Das Zaungitter war von einer mannshohen Mauer aus braun-beigen Natursteinen eingerahmt, die das gesamte Anwesen umgab, soweit Charlotte sehen konnte. Mit dem Handrücken der rechten Hand wischte sie sich über die nasse Stirn: Sie hatte den Weg mit dem Fahrrad erklommen und war beim Strampeln bergauf ordentlich ins Schwitzen gekommen. ‚Neuer Tag, neues Glück. Denk nicht mehr an gestern‘, forderte sie sich selbst auf, als ihr unvermittelt erneut die Bilder des Toten ins Gedächtnis kamen. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie die Gedanken so wieder abschütteln. An dem Mauervorsprung rechts neben dem Gitter war eine Sicherheitssprechanlage eingebaut. Charlotte drückte mit einem mulmigen Gefühl auf die unauffällige Klingel. Sie bemerkte, wie sich augenblicklich die schwarze Halbkugel mit der Kameralinse auf ihr Gesicht richtete. Ein paar Sekunden später ertönte die Stimme eines Mannes aus der Sprechanlage. Sie war so deutlich zu verstehen, als stünde der Mann direkt vor Charlotte: „Guten Tag. Sie wünschen?“ Charlotte stotterte, während sie die Kamera fixierte: „Äh, ja, guten Morgen, ich bin ... Charlotte Bienert. Ich bin die Journalistin von der Weinstadt Woche. Mein Chef, Herr Richling, hat bei Ihnen angefragt, ob ich Sie für eine Woche begleiten darf. Für die Reportage.“ Ohne auf das Gesagte einzugehen, forderte die Stimme Charlotte auf: „Zeigen Sie mir bitte Ihren Presseausweis. Halten Sie ihn vor die Linse.“ Überrumpelt begann Charlotte folgsam, in ihrer orangenen Schultertasche nach ihrem Portemonnaie zu suchen. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Hände dabei vor Nervosität leicht zitterten. Sie spürte die Augen des Fremden auf sich, der sie durch die Kamera hindurch beobachtete. Schließlich pfriemelte sie ihren Presseausweis hervor und hielt ihn mit der Vorderseite vor die Linse. Unsicher fragte sie: „Gut so?“ „Ja, und nun einmal umdrehen.“ „OK ...“ Charlotte tat, wie geheißen. „In Ordnung. Herzlich willkommen, treten Sie ein.“ Ein dezentes Surren ertönte, bevor sich das Gitter vor ihr wie von Geisterhand in der Mitte teilte und in Richtung des Anwesens aufschwang. Charlotte klappte den Ständer ihres Fahrrades zurück und rollte ihr Rad neben sich her den hellen Kiesweg entlang auf das stattliche Haus vor sich zu. Dabei hoffte sie, dass es hier keine abgerichteten Wachhunde gab, die jede Sekunde auf sie zu rennen konnten.

Als sie sich dem imposanten Eingangsbereich der Villa näherte, stand ein Mann in elegantem Anzug und Krawatte an der Tür. Er hatte zurückgegelte, dunkle Haare und hielt sich sehr gerade. Charlotte lächelte höflich, als sie ihn erreicht hatte, doch der Mann verzog keine Miene. Unsicher blieb Charlotte vor ihm stehen und stellte ihr Fahrrad ab. „Guten Tag, Herr Paulsen“, sagte sie betont höflich. „Kann ich mein Fahrrad hier stehen lassen?“ Der Mann zuckte nicht mit der Wimper, als er erwiderte: „Guten Tag, Frau Bienert. Ich bin Richard Verhoeven, der Privatsekretär von Herrn Paulsen. Nennen Sie mich Richard.“ „Oh“, entfuhr es Charlotte leise. ‚So ein Mist, gleich mal blamiert‘, dachte sie. Der Mann im Anzug fuhr ungerührt fort: „Ihr Fahrrad können Sie hier stehen lassen. Folgen Sie mir bitte, Herr Paulsen erwartet Sie bereits.“ Gehorsam nickte Charlotte und trat sich instinktiv die Schuhsohlen an der breiten Fußmatte ab, bevor sie in den dunklen Flur hineintrat. Richard Verhoeven lief voran, und Charlotte beeilte sich, dem Mann in das abgedunkelte Haus zu folgen. ‚Warum ist das hier so düster?‘, überlegte sie. ‚Ist das Parkett so alt, dass die Sonne sonst Schaden anrichten würde?‘ Die Stimme des Privatsekretärs riss Charlotte aus ihren Gedanken: „Wenn Sie sich bitte die Hände waschen möchten. Herr Paulsen legt großen Wert auf Hygiene.“ ‚Das wird ja immer merkwürdiger‘, dachte Charlotte. Richard zeigte mit der ausgestreckten Hand auf eine unauffällige Tür, die beinahe mit der tapezierten Wand verschmolz. Folgsam drückte Charlotte die Klinke und betrat das Gästebad. Sie erblickte polierten, hellen Marmor, goldene Wasserhähne, mit Monogrammen bestickte Handtücher und einen aufwändig verzierten Spiegel über dem ausladenden Waschtisch. „Wow“, entfuhr es ihr leise. Augenblicklich fühlte sie sich fehl am Platz. ‚Wie reich muss dieser Mann sein?‘, überlegte sie, während sie die Hand nach dem Seifenspender ausstreckte. Unversehens kam die Seife automatisch aus dem Spender, und auch der altmodisch wirkende Wasserhahn sprang von alleine an, sobald sie die Hände darunter hielt. ‚Sieht also nur alt aus‘,­­ schlussfolgerte sie. Nachdem sie ihre Hände sorgfältig mit dem edlen Handtuch abgetrocknet hatte, trat sie wieder in den dunklen Flur. Richard stand noch genauso da wie vor einer Minute. „In Ordnung, kommen Sie jetzt bitte.“ Ohne etwas zu sagen, lief Charlotte ihm hinterher zu einer schweren Doppeltür, die der Privatsekretär öffnete. Mit klopfendem Herzen trat Charlotte durch die Tür.

Als Charlotte Nikolas Paulsen in seinem Ohrensessel sitzend erblickte, fühlte sie sich in einen Sherlock Holmes-Film versetzt: Der Mann trug einen edlen Morgenmantel mit brokatfarbener Zierleiste. Obwohl es ein Schlafrock war, sah Paulsen darin sehr elegant aus. ‚Trotzdem spleenig‘, dachte Charlotte. ‚Ich würde im Leben nie jemand Fremdes im Schlafanzug begrüßen.‘ Als der Mann Charlotte erblickte, erhob er sich aus seinem Sessel. Er lächelte sie an und Charlotte entspannte sich augenblicklich. Paulsen sah freundlich aus: Er hatte einen weichen Mund, blassblaue Augen und dünne blonde Haare, die er zurückgekämmt trug. Er reichte Charlotte seine Hand und sie griff danach. ‚Komisch, ich hätte gedacht, dass er einen festen Händedruck hat‘, überlegte sie, als sie den schwachen Druck erwiderte. „Bitte setzen Sie sich“, sagte Paulsen mit angenehm sanfter, leiser Stimme. Charlotte steuerte auf das barocke Sofa zu, auf das er gezeigt hatte. Das Polster war mit silbernem Stoff überzogen, auf dem kunstvolle goldene Muster eingestickt waren. Die Lehne des Sofas war aus weißem Klavierholz mit ebenfalls goldenen Verzierungen. ‚Das Ding kostet wahrscheinlich mehr, als meine Wohnung in einem Jahr an Miete einbringt‘, dachte Charlotte eingeschüchtert und setzte sich vorsichtig auf die Kante. Ihre Handtasche zog sie sich auf den Schoß. Sie hatte Angst, mit ihrer Tasche den teuren Stoff zu beschädigen. Paulsen schien ihre Vorsicht zu bemerken, denn er sagte: „Bitte, fühlen Sie sich hier wie zuhause. Meine Möbel sind zur Nutzung da, keine Sorge.“ Charlotte lächelte ertappt und legte ihre Tasche vorsichtig neben sich auf das Sofa. „Richard, bringen Sie uns bitte Kaffee“, sagte Paulsen höflich. Der Privatsekretär setzte sich umgehend in Bewegung. Charlotte hatte ihn komplett vergessen, seit sie Paulsen erblickt hatte. Ihr Gastgeber nahm wieder in seinem Ohrensessel Platz, der zur selben Reihe gehörte wie das Sofa. Er schlug seine Beine locker übereinander, und Charlotte bemerkte jetzt, dass sie in seidenen Pyjamahosen steckten. Paulsen sah Charlotte lächelnd an. „Also Frau Bienert, ich war ja schon etwas überrascht, als Ihr Chef bei mir anfragte. Aber ich muss zugeben, ich fühle mich geschmeichelt. Ich habe zwar schon für ... sagen wir mal ... größere Magazine Interviews gegeben, aber es ist nochmal was anderes, ein so ausführliches Porträt von sich angefertigt zu bekommen. Also, legen Sie los. Was möchten Sie von mir wissen?“, fragte er und lehnte sich zurück.

„Oh ja, Augenblick“, sagte sie. Dass Paulsen so schnell in medias res gehen würde, hatte sie nicht erwartet. Hastig suchte Charlotte in ihrer Handtasche nach ihrem Notizblock. Als sie ihn gefunden hatte, schlug sie die Seite mit den zuvor erdachten Fragen an Paulsen auf. Als ihr Blick dabei auf das Wort Rebsorte fiel, schweiften ihre Gedanken unvermittelt schon wieder zum gestrigen Morgen ab. Und zu der Leiche in den Weinbergen. ‚Reiß dich zusammen‘, schalt sie sich. Sie räusperte sich, um sich zu konzentrieren: „Also schön, dann fangen wir doch gleich mal an.“ Sie schluckte nervös, während Paulsen sie mit offenem Blick erwartungsvoll ansah. „Wie kamen Sie auf die Idee, eine Rebsorte in drei Ländern gleichzeitig anzubauen und zu verkaufen?“ Doch bevor Paulsen antworten konnte, kam Richard mit einem silbernen Tablett wieder herein. Er stellte eine ebenfalls silberne Kanne und zwei zierliche Porzellantassen sowie eine passende Zuckerdose und ein Milchkännchen auf dem Tisch zwischen ihnen ab. „Danke, Richard“, sagte Paulsen und lehnte sich nach vorne, um die heiße, dampfende Flüssigkeit in beide Tassen zu füllen. „Milch und Zucker?“, fragte er dabei Charlotte. „Schwarz, danke“, erwiderte Charlotte. Sie hatte sich vor geraumer Zeit beides aus dem Kaffee abgewöhnt – der Figur wegen. Paulsen hob die Augenbrauen, als er ihr ihre Tasse reichte. „Schwarz wie die Seele“, sagte er dabei schmunzelnd. Bevor Charlotte etwas erwidern konnte, fuhr er übergangslos fort: „So neu ist die Idee gar nicht. Der Weißburgunder wird hauptsächlich in den USA, Australien oder Neuseeland angebaut. In Deutschland wiederum eher im Rheinland, aber naja“, er lachte leise. „Hier war ich schon im Besitz der Fläche, als ich mich an die Umsetzung meines Projekts gemacht habe.“ Charlotte machte sich sorgsam ein paar Notizen. Dann nahm sie einen Schluck Kaffee und stellte fest, dass er sehr stark war. Sie wollte die Tasse zurück auf die Untertasse auf dem Tisch stellen, verfehlte diese aber um ein paar Zentimeter. Peinlich berührt vom schabenden Geräusch murmelte Charlotte „Entschuldigung“ bevor sie die Tasse endlich sauber abstellte. Ein paar Minuten lang arbeiteten sie sich Charlottes Fragenliste entlang, als Paulsen mitten im Gespräch innehielt. „Sagen Sie, Frau Bienert, ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich, aber Sie machen mir einen etwas verstreuten Eindruck. Liegt es an der Situation?“ Charlotte lief augenblicklich rot an. Sie stotterte: „Ähm, nein, tut ... tut mir leid. Nein, es liegt nicht an der Situation. Oder, naja, es ist schon imposant hier“, sie lächelte nervös. „Aber ... ich ... hatte gestern ein etwas unerfreuliches Erlebnis. Ziemlich unerfreulich“, korrigierte sie sich gedankenverloren. Im selben Moment hätte sie sich am liebsten die Hand vor den Mund geschlagen. Genau darüber sollte sie doch auf keinen Fall sprechen. Am wenigsten mit Paulsen. Doch dieser lehnte sich jetzt interessiert nach vorne. „Erzählen Sie mir davon.“

Mord im Weinberg

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