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Zwischenfall im Stadtpark

ILLEGALE ZUSAMMENKÜNFTE EINES JUGENDLICHEN PERSONENKREISES – DIE MORAL DER JUNGKOMMUNISTEN … – WER HAT GESCHOSSEN? – NACHFOLGEND VERHAFTUNGEN – DIE MORAL DER JUNGANARCHISTEN – HAT DER FALL KURUSANOW DAMIT ZU TUN?

Junger Mann vermisst

DAS DRAMA EINES VATERS • STOJU MINKOW SUCHT BEI DEN BEHÖRDEN UM HILFE • WO STECKT LASAR MINKOW? • ÜBERZEUGTER ANARCHO-KOMMUNIST

DAS NEUESTE AUS DER WELT IN KÜRZE: Im rumänischen Bukarest wurden zuletzt mehrere Todesfälle nach Neosalvarsan-Injektionen festgestellt. Hühner sind unempfindlich gegen Strychnin. Eine Trottellumme taucht bis zu 160 Meter tief. Ein gut geschliffener Diamant hat 58 Facetten. (siehe Seite 2)


(Manchmal, wenn er allein im Kontor war, sprang Projko Mankjow – alias Tarow – von seinem beklecksten Schreibtisch auf, verschwand in der Tiefe des Lagers hinter einer Bretterwand, wo es einen senkrechten Balken gab, der einen zweiten, waagerechten stützte. Projko Mankjow stellte sich mit dem Rücken dazu, spreizte seine langen Arme nach hinten, konnte den Querbalken gerade so umgreifen und zog die Füße an – hing so eine Weile, schwer und abgehackt atmend, still, mit glotzendem Blick, inmitten von Spinnweben und Staub. Dann kehrte er eilig zurück an seinen Tisch und schrieb blitzartig, unter Schnaufen und Zischen, mit wild kratzendem Federhalter ein rebellisches Gedicht. Zum Schluß griff er nach der Wasserkaraffe und trank, lange. Und er wusste genau: Fünf Minuten Hängen am Balkenkreuz und melancholisches Starren zogen unweigerlich die Idee für ein neues Gedicht nach sich – einen Reim, ein Bild, eine Beschwörung – und wenn schon kein Gedicht, dann wenigstens eine Werbung. Denn Projko Mankjow verfasste Werbesprüche für die Händler in der näheren Umgebung, und diese zahlten ihm Prozente, je nachdem, wie teuer der Abdruck der Werbung in der Freien Tribüne kam. Für städtische Bekanntmachungen in der Freien Tribüne galt in diesem schwülen Sommer 1923 ein Festpreis von zwei Lewa pro Quadratzentimeter – so hatte es die Stadtverwaltung festgelegt; für kommerzielle wurde nach Vereinbarung gezahlt, wie es Sitte war. Und Projko erkundigte sich immer erst diskret beim Redakteur Peow, worin diese Vereinbarung bestand. Er traute seinen Kunden nicht. Die ihm genauso wenig. Dabei war die Wirkung seiner Arbeiten garantiert, denn in der Art, wie sie geschrieben waren, erinnerten sie an solide Handarbeit. Es funktionierte nur leider nicht immer. Und weil eben nicht jeder Wurf glückte, hatten die Kunden Geduld mit ihm und ließen etwas springen – zwar soff der Kerl ausschließlich Chartreuse, ja nun, dann mussten sie ihm eben den einschenken und spendierten ihn gern, da sie doch wussten, wenn Projko nicht in Stimmung war, kam unter seiner Feder nichts weiter heraus als: das und das gibts bei dem und dem; vollkommen untauglich, doch das Geld behielt er; war er hingegen in Hochform, dann machte er etwas draus, dann feilte und polierte er, dass es eine Freude war und ein Stich im Herzen jedes Konkurrenten. So geschehen im Falle von Noah Markow, als dessen armer Sohn Iwan verstorben war und Noah Markow in seinem Wahn die halbe Stadt aufkaufte, da schrieb ihm Projko eine Reklame, mit der er alles Dagewesene übertraf. Ebenso für Sotir Kamburow letzten Herbst: Der Eiffelturm (Paris) steht auf vier Fässern. Böttcherei Sotir Kamburow, K. – und Sotir Kamburow, wie er die Reklame und die zugehörige Eiffelturmzeichnung sah und unter den vier Pfeilern die vier Fässer, die tatsächlich von ihm hätten sein können, da war er so hochzufrieden, dass er Projko hundert Prozent von dem zahlte, was die Anzeige hinterher in der Freien Tribüne kostete, nämlich drei Lewa der Quadratzentimeter. Elf Zentimeter breit mal sechs Zentimeter hoch, also 66 Quadratzentimeter mal drei macht 198, und das Ganze zehnmal abgedruckt: 1 980 Lewa Urheberbeteiligung allein von Sotir Kamburow, unterm Strich. Kam einem viel vor, doch erstens warf Kamburow, nachdem die Anzeige raus war, alle anderen Böttcher in K. aus dem Rennen, schlug wer weiß wie viele Fässer los, und zweitens kassierte Projko beileibe nicht immer und von jedem hundert Prozent. Von Noah Markow zum Beispiel, letztes Frühjahr, nahm er gar nichts, schrieb die Annonce für lau. Meistenteils aber verlangte er fünfundzwanzig Prozent oder dreißig. Das akzeptierten alle. Mit den Gedichten verhielt es sich vollkommen anders. Weil die wie Handgranaten waren, nicht wie braves Kunsthandwerk. Mit stählernem Griffel, smaragdenem Stichel, flammenden Auges gemeißelt ins Hirn. Sprich, Parabellum! Schicksal besiegelt, beißende Kabbala, bleischwere Stirn … und immer so weiter, das Gedicht hatte die Freie Tribüne im März abgedruckt, er hatte es den Anarchisten im Klub der Föderation vorgetragen und verkündet: so und so, das Gedicht sei ein Appell, damit wolle er sagen, dass sich der revolutionäre Anarchist die Waffe nicht aus der Hand nehmen lassen dürfe, keiner habe das Recht, sie ihm wegzunehmen, und so seien die Anarchisten verpflichtet, eisernen Widerstand gegen die Obrigkeit zu leisten, wenn die zur Entwaffnung schritt. Basta! Es wäre dasselbe, wie wenn man dem Menschen die Sinnesorgane raubte, so brüllte er. Oder die Lenden, mit denen er sich als Mensch verwirklicht! Und am 26. März dann war Projko Mankjow auf einen schweren Tisch gesprungen, den man aufs Pflaster herausgeschleppt hatte, und hatte selbiges Gedicht vor dem brodelnden Coburg-Platz deklamiert, die Verse schlugen ein in der gebeutelten, gnadenlos anarchistisch gestimmten Menge wie ein Blitz, entzündeten die Köpfe, ließen die Fäuste sich ballen zum blutigen Kampf. Und dieser Kampf brach los …)

So war das.

Besonders lange hing Projko am Samstag, dem 11. August, an seinem Kreuz, als er erfuhr, dass Lilka sich das Leben genommen hatte. So lange hatte er noch nie dagehangen. Bis er schließlich durch das Lager wetzte und schrieb, dass ihm der Schweiß strömte, niederschrieb in einem Zug: Wie Leuchtkugeln über dem Dachfirst kreuzen sich in mir die Erinnerungen, spucken Rauch und Feuer, um hernach zu zergehen – der Tod, o Geliebte! im Tode werden wir uns wiedersehen! – um anschließend, mit untröstlichem Seufzer, auf ein anderes Blatt zu wechseln und hinzukritzeln: GROSSER GLASWAREN-SCHLUSSVERKAUF BEI KULJU PASKOW AM COBURG-PLATZ! NICHTS WIE HIN, BEVOR ALLES ZU BRUCH GEHT! Nonsens natürlich, aber einer, über den mit Kulju und mit Todor Peow Einigkeit bestand, dass er dreimal hintereinander im Format elf mal fünf erscheinen würde. Elf mal fünf mal drei mal drei macht 495. Dreißig Prozent davon – 148,50! – für ihn.

Steuerfrei!

Das Gedicht riss er in kleine Stücke und verstreute sie.

Am Abend desselben Tages ging er kurz bei den Suflarer Gärten vorbei, um Lasar, dem Jungen von Stojan Minkow, Geld abzuknöpfen; er hatte ihm für drei Tage seine Parabellum geliehen und sechs Patronen dazu. Hundert Lewa pro Tag für die Waffe macht dreihundert, plus die Patronen – zwanzig pro Stück, also noch mal hundertzwanzig, vierhundertzwanzig Lewa gesamt.

Beim Bezahlen wollte der Junge das Ding aber noch zwei Tage länger behalten und zählte ihm die komplette Summe zitternd in die Hand.

Sechshundertzwanzig, mit anderen Worten.

Auf dem Rückweg ging Projko Mankjow erst bei Mitrju Prawew vorbei und ließ sich rasieren, denn anschließend wollte er Jenny bei ihrem Onkel abholen und ins Kino ausführen, Der heilige Hass, Abendvorstellung, um Viertel nach neun. Der heilige Hass war ein Kriminal- und Liebesdrama aus dem indischen Leben in zwei Folgen à fünf Teilen mit Beteiligung sämtlicher Großwildarten – Tiger, Elefanten, Krokodile, Malaysia-Schwarzbären, Schlangen – und einer Bulgarin, Zweta Datschewa, in der Hauptrolle. Obwohl (er hatte nicht extra nachgesehen), es konnte auch sein, dass sie in der hiesigen Filiale des Modernen Theaters anstelle vom Heiligen Hass schon das seit langem angekündigte Cherchez la femme mit Lucie Dorain zeigten – auch das ein Rührstück, aus dem Leben gegriffen. Egal. Für Projko Mankjow spielte es keine Rolle, ob heiliger Hass oder gesuchte Frau, entscheidend war nur, dass nach dem Kino ein neuer Versuch anstand, die sich ewig zierende Jenny mit in den dunklen Lagerraum der Gebrüder Kaischew zu nehmen. Wobei er dieses Mal alles tun würde: niederknien, sie mit Ingrimm bezirzen, damit er sie endlich rumkriegte, hinter die Bretterwand zerren und auf den schmutzigen Strohsack schmeißen konnte. Ihre Röcke raffen, ihr die Beine spreizen, sie zu Boden drücken, ihre festen Mädchenbrüste kneten und endlich über sie steigen und losreiten, wild und ausdauernd, im beizenden Geruch von rumänischem Teer, Fußbodenöl, Schmierfett und Hobelspänen (aus den Kisten mit den Gläsern) … Wenn er nur daran dachte, brach ihm der Schweiß aus. Oh ja, das sollte ein wilder, ein stürmischer Ritt werden, er wollte sie leiden sehen, ihr Stöhnen im Ohr haben, sich selbst verzehren und verströmen bis ins Letzte, um die Scham auszumerzen, die noch in ihm brannte, wenn er an Lilka dachte, an ihre kühle, frische Haut, die plötzliche, durchdringende Lust in ihrer fiebrigen Flüsterstimme, und wie ihr Kopf alsbald zu zittern anfing, ihr seliges Lächeln, und wie sie die Arme um seine nackten Schulterblätter schlang. Während draußen Soldaten durch die aufgeheizte Stadt patrouillierten, die Klubs durchkämmten, Projkos verschreckte Kumpane aus den Wohnungen und Schlupflöchern zogen, sie auf Kopf und Rücken schlugen, am Kragen hinaufzerrten zu den Kavalleriekasernen, hatte er im Lagerraum der Stern-Apotheke in Lilkas Armen gelegen, die glücklich und erschrocken zugleich war und bereit schien, die waffenstarrenden Militärs mit bloßen Händen zu erwürgen. Die Worte, die sie für ihn fand, waren voller Gier und Ergebenheit. Ob er sich Kinder wünsche, wollte sie wissen. Die Hoffnung in ihren Augen erschreckte ihn, er schauderte, sagte dann: Ja, ich hätte gern Kinder und ein Haus, und wenn sich der schreckliche Sturm draußen erst einmal gelegt hätte, würde er sie heiraten, ganz bestimmt. Es gab Momente, da glaubte er selber daran. Sie hatte gelacht. Dann versteckte er seine Pistolen an einem sicheren Ort, den nur sie beide kannten. Und tatsächlich hatte er (als die Zeitungen der Opposition schon ihr Ach und Weh hinausposaunten und Alexander Stambolijski15 höchstselbst im Sofioter Anarchistenklub auftauchte, um sich zu rechtfertigen – die Schlächterei sei durch das verantwortungslose Handeln der Militärliga verursacht, behauptete er und suchte die Geister zu bezähmen und zu beschwichtigen, während die Militärs grollend in die Kasernen zurückkehrten und sich dort verschanzten) die Apotheke als ein neuer Mensch verlassen, schön und schuftig, und konnte seine Waffen einsammeln gehen. Die Soldaten sahen ihm mit hasserfülltem Staunen nach, die Kameraden mit Neid. Als Erinnerung an jene Märztage bewahrte er die luxuriös gebundenen sechs Ausgaben der Zeitschrift Die thrakische Lyra auf, herausgegeben vom legendären Dichter Iwan Karanowski zu Jambol im längst vergessenen Jahr 1915, ein Geschenk von Lilka mit der Widmung: Meinem Geliebten von seiner Geliebten! – ohne Unterschrift. Jetzt lag der große, flache Band zuunterst in seiner Schublade, manchmal holte er ihn hervor, blätterte zerstreut die prächtigen, schneeweißen Seiten.

So ging Projko Mankjow in seinem tadellos geschnittenen und genähten Shantung-Anzug, roter Moiré-Weste und aufgesteckter Fliege, mit flatternden Hosenbeinen über den zweifarbigen spitzen Schuhen, auf dem Kopf einen hohen, hellblauen Filzhut mit breitem Band und auf die legere englische Art hängender Krempe, eine Zigarette rauchend (Marke Jazz-Band – Feinschnitt! – einschlägig fabriziert bei Sultanier, ein Geschenk der beiden spindeldürren Inhaber), hinauf in Richtung Stadtzentrum, dergestalt eine Fahne von Parfüm, gutem Tabak und rundum guten Manieren hinter sich herziehend, dass die Leute sich nach ihm umdrehten, tz-tz! machten und sich fragten, woher dieser arme Schlucker auf einmal das Geld nahm.

Und er lächelte nur still und ging seiner Wege.

Jener Lasar Minkow indes, in seiner dicken Winterschuljacke schwitzend, wie die Schüler am Gemischten Pädagogischen Gymnasium16 sie trugen (er trug sie jetzt nur wegen der Parabellum unter der Achsel), eilte durch Nebenstraßen zum Stadtpark, drängte durch die vielen Leute dort, schien jemanden zu suchen; dann lief er, sich die schrundigen Lippen blutig beißend, entschlossen auf den Klub der Kommunistischen Partei zu.

Dort, Ecke Battenberg-Boulevard17 / Coburg-Platz, angekommen, sah er jedoch ein Vorhängeschloss an der Tür zum Klub prangen, ein dünner, grimmig blickender Polizist lief davor auf und ab. Der Junge hielt bestürzt inne, schien nicht weiter zu wissen, verzog sich erst einmal zur gegenüberliegenden Ecke, wo sich Mitrju Prawews Friseurgeschäft befand, und prompt traf ihn von drinnen, durch das Schaufenster mit den aufgemalten Profilen, der eiskalte Blick von Projko Mankjow.

Er stürzte nach links – und wäre beinahe Baldakow in die Arme gerannt, der sich stürmischen Schrittes von der Post her näherte.

Der Junge schluckte, sah sich um – inzwischen hatte auch der Wachmann vor dem Klub Verdacht geschöpft und schaute herüber.

Panisch presste der Junge die Pistole unter der Achsel, murmelte heiser einen wirren, sinnlosen, kaum verständlichen Gruß, machte kehrt und rannte wieder in Richtung Park.

Verschreckt hetzte er den Battenberg-Boulevard hinab, wobei er das längs der Gemäuer des Offizierskasinos lustwandelnde Volk beiseitestoßen musste, unter den jungen Kastanien entlang – die Staubschicht auf den Blättern wie Samt –, über die alte Holzbrücke am Türkischen Bad und von da quer durch den Stadtpark, das samstägliche Gewühle. Vorbei an der Rundbühne, auf der das Blasorchester des legendären Siebenunddreißigsten Piriner Infanteriebataillons einen schweren English Waltz wummerte, vorbei an Scharen von Dämchen und allerlei Herrschaften, aufgeputzten Jüngelchen und schneidigen Offizieren, Lumpen, Bettlern, Taschendieben, Bauchladenverkäufern, schlug er sich zielstrebig durch Kraut und Büsche an der Rückseite des Spielfelds vom Sportklub Elvira, hinab zu einer verschwiegenen Biegung des Flusses, wo das Licht spärlich, der Boden tief und das Grün am dichtesten war, kurz: dahin, wo die Jungkommunisten sich in letzter Zeit gerne trafen.

Tatsächlich waren sie da: Der Junge kam dazu, wie sie heftig stritten. Bei seinem Anblick verstummten sie jedoch, äugten misstrauisch, und als Lasar seinerseits die Frage stammelte, wieso denn der Klub zu sei und ein Schloss davorhänge, da schnaubten sie, das gehe ihn einen Dreck an. Ein Wort gab das andere, und der Streit ging wieder los, wie in der Schule schon das ganze Frühjahr und den Winter davor. Denn dazu muss man wissen, dass in den Klassenräumen des Gemischten Pädagogischen Gymnasiums von K. tagtäglich Grabenkämpfe stattfanden zwischen unversöhnlichen Feinden: Kommunisten und Anarchisten; es genügte ein Wort, dass der unbezähmbare Streit wieder aufflammte, Augen feurig wurden, Fäuste sich ballten. Die Lehrer betraten die aufgewiegelten Räume und suchten vergeblich die Stimmgewalt zu erringen, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, sie konnten noch so empört Zeigestock, Holzzirkel und -dreieck auf die Tische knallen, keiner nahm sie zur Kenntnis; jemanden zu prüfen hatte ebenso wenig Sinn, wie eine neue Lektion beginnen zu wollen. So wie dort geschah es nun auch hier, und da der Streit vom Zaun gebrochen war, dauerte es nicht lange, dass man auf den 26. März kam und der Name Sofija M. fiel. Was den 26. März anging, so ließen die Komsomolzen Lasar wissen, dass alle gleichermaßen angeschissen wären damit, und beim Namen Sofija M. kochten sie vollends über: Hör uns bloß auf mit Sofija M.! Seht ihr immer noch nicht, dass solche wie eure Sofija M. an allem schuld sind? Und dass, überbrüllten sie ihn, einer wie Sofija M. nur daran gelegen ist, uns gegeneinander aufzuwiegeln, zu verfeinden? Einen Keil wollen die zwischen uns treiben, Mann, dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen und kaltmachen, das wäre denen am liebsten! Und weil wir alle miteinander blöd genug sind, ihr genauso wie wir, haben sie den Dreh gefunden, dass wir aufeinander eindreschen.

Da ging nun auch Lasar Minkow der Hut hoch, er brüllte: Untersteht euch, noch einmal den Namen Sofija M. in den Mund zu nehmen, sonst fliegen die Fetzen! Sofija M. soll schuld am 26. März sein? Wisst ihr, was ihr da sagt? Sie ist eine Heilige!, ereiferte er sich. Schändet ihren Namen nicht, sonst weiß ich nicht, was geschieht! Ist ja gut, lenkten die anderen friedfertig ein. Dass sie ganz allein schuld ist, wollen wir gar nicht behaupten – solche wie sie, war gemeint! Und da die Jungkommunisten sahen, dass Lasar immer noch auf hundertachtzig war, sie aber keine Lust mehr zum Streiten hatten, reichten sie ihm die Hand. Nur dass Lasar nicht daran dachte einzuschlagen, im Gegenteil: Er sprang zurück und hob einen Stein auf, wie um ihn zu werfen. Ach, sagten die Jungkommunisten verdrossen. Wussten wirs doch. Mit euch kann man nicht normal reden … Lasar aber, als er sah, dass die anderen sich verächtlich abwandten, stieß einen dreckigen Fluch aus und warf den Stein tatsächlich.

Ha!, riefen die Komsomolzen verdutzt. Wen wolltest du treffen mit deinem verdammten Stein, du anarchistisches Arschloch? Wen hast du auf dem Kieker, sag an!

Und sie wollten sich auf ihn werfen, doch Lasar, als er begriff, dass er verprügelt werden sollte, zog hektisch die Pistole unter der Achsel hervor, fuchtelte damit und zischte: Kommt nur näher! Kommt! – und als die anderen tatsächlich ankamen und nach der Pistole grapschten, sie von sich abzuwenden suchten, gen Himmel oder zur Erde, da drückte der Junge ab …

Der Schuß ging los, verhallte dumpf und mickrig über ihren Köpfen. Es klang eher lächerlich und blöd.

Doch im selben Moment kamen rings aus den Büschen überall Polizisten gesprungen!

Sofort ließen die Jungen von Lasar ab, stoben blitzartig in alle Richtungen davon; er ließ einen zweiten Schuss in den Abendhimmel gehen und lief gleichfalls los. Halt! Halt! Halt!, brüllten die Polizisten und nahmen mit Krach und Getöse die Verfolgung der zwischen Büschen und Bäumen Haken schlagenden Jugendlichen auf. Auch kamen von allen Seiten die Offiziere in ihren feschen Sonntagsuniformen gesprungen – mit einem munteren Pardon! lösten sie sich von ihren Damen, wetzten über die Grünanlagen, brüllten wie die Polizisten: Halt! Halt! Halt!, und gingen ihnen nach Kräften zur Hand, am Ende hatten sie tatsächlich vier oder fünf geschnappt. Riegelten die Brücke ab und fingen noch einen. Bugsierten sie alle zusammen durch das aufgescheuchte Flaniervolk den Battenberg-Boulevard hinauf zum Polizeirevier, stießen sie vor sich her.

Nur Lasar Minkow war es gelungen, hurtig durch das bisschen stinkende Jauche des Flusses zu tappen, sich hinter die Flechtzäune der Gärten unterhalb der alten Festung zu ducken und zu entwischen, worüber – das heißt: über die eigene, unerwartete Wendigkeit – er sich nachher nicht genug wundern konnte und beinahe etwas wie Scham empfand. Derweil die Arretierten glaubhaft zu machen hatten, dass nicht sie es gewesen waren, die geschossen hatten. Sie hätten ja gar keine Waffe dabei, argumentierten sie wütend. Ah ja, dann wirds wohl die Großmutter gewesen sein!, höhnten die Polizisten. Bewaffneter Terror gehört überhaupt nicht zu unserer Taktik!, protestierten die Jungkommunisten. Wir wahren eiserne Neutralität! Russew18 selbst hat euch befohlen, unsere Neutralität zu achten! Soso, eure Großmutter schießt auf uns, und ihr seid neutral, fuhren die Polizisten fort, sich lustig zu machen, darauf die Jugendlichen: Dass wir die Stadt nicht verlassen, haben wir schon unterschrieben, was wollt ihr denn noch? Ruhig Blut, entgegneten die Polizisten und teilten erst einmal ein paar leidenschaftslose Fausthiebe aus, damit die Burschen wussten, woran sie waren, und nicht auf falsche Gedanken kamen, dabei drohten sie träge: Passt mal auf, wenn wir euch erst unsere Taktik vorführen, dann könnt ihr euch eure Neutralität in den Arsch stecken …

Später wurde ernsthafter nachgefragt: Wenn nicht ihr, wer hat dann geschossen? – und die Jungen bissen die Zähne zusammen und knirschten: Irgend so ein Gangster, wir kennen ihn nicht. – Aha!, sagten die Polizisten. Und was hat dieser Gangster gewollt, fragten sie. Geld, kam die einleuchtende Erklärung. Geld oder Leben, habe er gerufen, und da sie nun mal kein Geld hatten, habe er geschossen, zur Abschreckung. Aha!, sagten die Polizisten noch einmal, nickten verständnisvoll und schienen es einzusehen, aber dann setzte es wieder eins mit der Faust – damit die Jungen wussten: Mit der Macht war nicht zu spaßen! –, worauf sie plötzlich zugeben sollten, in krimineller Verbindung mit Kurusanow zu stehen. Kurusanow, welchem Kurusanow?, fragten die Jungen perplex. Der Freiwillige, wo sich umgebracht hat, erklärten die Polizisten mit Nachdruck – oder ob sie vielleicht Kontakt zur Untergrundbande Schwarzer März hätten, überrumpelten sie sie mit einer neuen Frage, und die Jungen schnellten erneut von den Stühlen und protestierten: Mit dem Lumpenproletariat hätten sie nichts zu tun, und mit Anarchisten erst recht nicht! Ja, protestiert nur, protestiert, bekamen sie von den Polizisten gesagt, protestieren kann nie schaden! –, und dann wurden die Jungen hart angefasst, von wegen Leibesvisitation, Waffen am Körper oder Flugblätter, es fand sich natürlich weder das eine noch das andere und nichts Entlarvendes sonst, was den Beweis für ihre verbrecherische Tätigkeit geliefert hätte, zumindest für Mittäterschaft, Helfershelferschaft und sonstige Machenschaft gegen den Staat, auch bezüglich der Verbindungen zu Kurusanow und zum Schwarzen März fanden sich rein gar keine Anhaltspunkte. Zuletzt, kurz nach Mitternacht, wurden sie allesamt in den Keller geworfen, hinter ihnen schepperten die Riegel ins Schloss. Da konnten die Jungen noch so viel Protest einlegen und brüllen, dass Russew ihnen die Neutralität zugesichert habe, darauf hatten die draußen nur säuerlich zu bemerken: Protestiert nur, protestiert, Hauptsache nicht so laut, sonst müssen wir andere Saiten aufziehen … So ging das zu. Bald beruhigten sich die Gemüter, und aus dem Keller war nurmehr das Ächzen des grün und blau geschlagenen Peter St. Komitow zu hören und sein grässliches Winseln, er sei schon halbtot …

Am Sonntagmorgen aber ging Stoju Minkow zur Polizei und meldete seinen Sohn Lasar als vermisst – ob er nicht zufällig eingebuchtet worden sei. Auf die strenge Nachfrage indes, wieso er seinen Sohn vermisse und wie er darauf komme, ausgerechnet bei der Polizei nach ihm zu fragen, wurde Stojan Minkow blass, weil ihm aufging, dass er sich mit seiner Frage zu weit vorgewagt hatte. Er versuchte den Rückzug anzutreten, sich schnell wieder davonzumachen, doch als das nicht ging, berichtete er zerknirscht, sein Sohn Lasar habe gestern um die Mittagszeit das Haus verlassen, sei bis zum Abend nicht wiederaufgetaucht, auch die ganze Nacht nicht, sei immer noch nicht wieder da. Man hörte ihn arglistig an, brachte das Gesagte zu Papier und schickte ihn nach Hause mit der Versicherung, dass sein Sohn sich nicht auf dem Revier befinde, doch werde man ihn schon auftreiben, und sollte er in der Zwischenzeit zu Hause aufkreuzen, so habe er sich unverzüglich auf dem Revier einzufinden, um den Sachverhalt zu klären.

Dies trug sich am Sonntag zu. Selbigen Tages, am Nachmittag, wurden die Jungen ein weiteres Mal verhört und dann laufen gelassen.

Und als K. am Montagmorgen erwachte, gab es kein Brot.

Teufelszwirn

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