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EREIGNISSE VON HISTORISCHER TRAGWEITE

Unser K. wird in Ju. umbenannt – auf Erlass des Königs!

Dreitagefest der Gastlichkeit eröffnet

Dreitägige Kampagne mit vielen Gästen • Großversammlung zum Thema Umbenennung • Historische Quellen sprechen dafür • Offizielle Gäste aus Sofia begrüßen den Frieden in der Region • Brief des Ministerpräsidenten • Die Festivitäten dauern an • MEHR DARÜBER IN UNSERER KOMMENDEN AUSGABE!

Vollständige Hygienisierung von Ju. eingeleitet.

Pijtschew und Gudrehn: wer sind sie? – Moderne Wasserversorgung: Ein alter Traum wird Wirklichkeit!

Neue Bestimmung für Zeppelin-Hangar in Aussicht

Kann unsere Stadt zum Flughafen für Osteuropa werden? Worauf warten wir noch?


Die Ruhe, die in K. – zur tiefen Befriedigung aller – wieder eingekehrt war, hielt den ganzen August an, und auch der September 1923 begann bei trockenem, warmem Wetter beschaulich. Zwecks besserer Zusammenarbeit und Koordinierung bei der Ergreifung sich ins Nachbarland absetzender Räuber- und Terroristenbanden traf eine Garnisonsabordnung aus dem benachbarten türkischen Städtchen zur offiziellen Visite in K. ein. Im blendenden Schein vieler Magnesiumblitze schüttelten die Militärs einander ausgiebig und umständlich die Hände, salutierten immerzu und verursachten viel verwegenes krachledernes Geräusch. Bei den in freundschaftlicher Atmosphäre verlaufenden Gesprächen wurde beiderseits vollständige Übereinstimmung erzielt, Maßnahmen gemeinsamen Handelns wurden abgesteckt und unterzeichnet. Nach Abschluss der offiziellen Gespräche warteten unsere Offiziere vor ihren türkischen Kollegen mit einer Militärparade sowie einer Feuerwehrübung auf, und in der Harmonie gab es ein Bankett. Außerdem war das Volk in diesen Tagen zutiefst bewegt von der in der Freien Tribüne zum Ausdruck gebrachten, in jeder Hinsicht ergreifenden Dankbarkeit der Eltern jenes armen jungen Mannes, Nikifor Kowatschew, der im Juli in Eski Machle eines gewaltsamen Todes gestorben war. Sie hatten an den Direktionsrat der Spedition Balkanzug27 geschrieben, dass ihr toter Sohn in der Kanzlei der verehrten Compagnie diverse Waren in Koffern zur Aufbewahrung hinterlassen habe. Über den Verbleib der Ware wissen wir nicht, wo sie sich momentan gerade befindet, schrieben sie. Doch siehe da, der überaus gewissenhafte Kommissionär I. Todorow, sowie er von Nikifors tragischem Ende erfahren hatte, teilte ihnen telegraphisch nach Gabrowo mit, in seiner Firma seien die und die Gegenstände gelagert und stünden zur Abholung bereit. So dass die Ware in bestem Zustand übergeben wurde. Ganz K. staunte und zollte Beifall, bravo, hieß es von allen Seiten, wir hielten diesen Todorow für nun ja, aber nein!

Auch der Schutzmann Rustschow, Gandi, wurde wegen seines selbstlosen Verhaltens im Umgang mit dem verunfallten Papadopulos öffentlich belobigt und mit einer Geldprämie bedankt. Und schließlich wurde – eingedenk der gelungenen Befriedung extremistischer Umtriebe – mit persönlicher finanzieller Unterstützung von Major Leonkow, einem untadeligen Offizier neuen Typus, ein literarischer Almanach In memoriam erstellt und bei der Agentur Markow & Cie. gedruckt – gewidmet einem der Toten vom 26. März, Gedichte und Aufsätze beinhaltend, denen jedes Rachegelüst abging, im Gegenteil, die Werke waren erfüllt von frommer Andacht ob der unerforschlichen Wege des Schicksals und eines allzu vergänglichen Menschenlebens. Anfangs waren die Druckkosten noch nicht beisammen, doch verschiedene ehrenwerte Millionäre beglichen die Fehlsumme, indem sie für den edlen Zweck verschieden hohe Beträge von den Prämien abzweigten, die die Stadtverwaltung den Herren für ihren beispielhaft an den Tag gelegten Heroismus bei der Verfolgung der Räuber im Landkreis angewiesen hatte.

Der junge Mann verdiente diesen Almanach im Übrigen durchaus. Ein kluger, bescheidener Junge, Bestschüler, mit allzeit vorbildlichem Benehmen, engelsgleich; der Herrgott allein mochte wissen, was ihn am 26. März dazu getrieben hatte, sich der aufgewiegelten Anarchistenmeute zuzugesellen, wie es dazu kommen konnte, dass er sich ihrer Schnapsideen annahm und sie in seinem klugen Kopf bewegte. Purer Zufall, wie manche meinten.

Die Befriedung der Lage hatte einige weitere, für das wirtschaftliche Aufblühen und den sozialen Fortschritt in K. wie auch seine moralische Gesundung gedeihliche Folgen. Da war zunächst die Ankunft zweier namhafter Ingenieure aus Burgas, der Herren Pijtschew und Gudrehn, von denen letzterer Deutscher war, die ihre Dienste und Fertigkeiten in Bezug auf das Flussdilemma anboten. Ihr Plan sah vor, die alten, morschen Deiche abzutragen und an ihrer Stelle neue zu errichten, die, nach ihren Worten, den Ansprüchen des modernen Wasserbaus genügten. Außerdem, so sagten sie, bedürfen die gegenwärtig zwei stinkenden Flussarme der unverzüglichen Korrektur und ihre Ufer einer Befestigung aus Stein und Zement. Das würde der weiteren Hygienisierung der Stadt und ihrer sanitären Verträglichkeit nur bekommen. Die Freie Tribüne widmete dem glänzenden Projekt sogleich eine Extraausgabe mit eingehender Beschreibung. Die Ratsversammlung nahm den Vorschlag dankend an und verkündete bald darauf im Amtsblatt die Bedingungen der öffentlichen Ausschreibung betreffs der nötigen Lieferungen Holz, Bau- und sonstiger Materialien sowie anfallender Transportleistungen.

Auch die Arbeitsdienstpflicht28 erfuhr neue Belebung. Die unverzügliche Erstellung neuer Arbeitslosenregister wurde in die Wege geleitet, damit die betreffenden Personen neben den von den Ingenieuren gedungenen Lohnkräften zum Deichbau und zur Uferbefestigung herangezogen werden konnten; hierbei ließ sich gewiss der eine oder andere Lew verdienen.

Aufsehenerregend auch der Vorschlag eines anderen Ingenieurs aus Sofia, Flieger im Ersten Weltkrieg. Er brachte in K. ein glänzendes Projekt zur Umgestaltung des Zeppelin-Hangars ein, welcher im Krieg das deutsche Luftschiff LZ-104 und seine wackere Besatzung sowie zweihundert Mann Bodenpersonal beherbergt hatte und seither ungenutzt stand. Das unter persönlicher Aufsicht des berühmten Konstrukteurs Ferdinand Graf von Zeppelin gebaute und nach seinem Tod vom nicht minder ruhmreichen Nachfolger Hugo Eckener vollendete LZ-104 war ein Riesending. Zweihundertundsiebenundzwanzig Meter lang und in der Mitte reichlich zwanzig Meter dick. Siebzehn wasserstoffgefüllte Zellen hielten es in der Luft, und die fünf Motoren sorgten für eine Geschwindigkeit von über einhundert Kilometer pro Stunde, so hatten es die Deutschen den staunenden Einwohnern von K. seinerzeit erklärt. In die Geschichte der militärischen Luftschifffahrt ging das LZ-104 vor allem mit seinem triumphalen Erkundungsflug nach Afrika im Winter 1917 ein. Der Wagemut der Besatzung – dreiundzwanzig Recken in Pelzmänteln und Pelzkappen, angeführt vom wackeren Kapitän Ludwig Bockholt – kannte keine Grenzen. Fünfundneunzig Stunden, fünf Minuten und dreißig Sekunden in der Luft – über See, Wüste und Dschungel, aus der hiesigen Kälte in die afrikanische Glut, mit drei Tonnen Waffen und achteinhalb Tonnen Munition sowie drei Tonnen Medikamenten und Verbandszeug an Bord, dazu noch Benzin, Öl, Wasser und Verpflegung, außerdem fünfzig Kilo Feldpost, ebensoviele Bücher – alles für das Fähnlein tapferer Krieger des noch tapfereren Generalmajors Paul von Lettow-Vorbeck – und nicht zuletzt eine Kiste Riesling, Mosel-Saar-Ruwer, um die Landung in Tansania gebührend zu feiern … Wo sie aber nicht ankamen. Sie kamen nur bis in die Nähe von Khartum, wo der Funkspruch sie erreichte, die Engländer hätten Deutsch-Ostafrika besetzt. Sofort umkehren! Also machte sich der Zeppelin auf den Rückweg, geriet über Kleinasien in einen schweren Sturm, entkam dem Sperrfeuer des Panzerkreuzers Agamemnon über der Ägais und landete wohlbehalten wieder in K. (nach einer zurückgelegten Strecke, von der es hieß, sie sei so weit wie von Friedrichshafen nach Chicago!) – und hier, enttäuscht und verstimmt, tat man sich denn auch an dem Weine gütlich. Nach Kriegsende wurde der Zeppelin nach Deutschland zurückgeführt, und sein Hangar, diese gewaltige Konstruktion aus Gußeisen und Stahl, mit dickem Blech verkleidet und von durchbrochenen Pylonen und Gestängen eingefasst, rostete unerbittlich vor sich hin und verdarb. Man umgab das imposante Bauwerk mit einem dicht geflochtenen Stacheldrahtzaun und vergaß es. Höchstens ein paar Kinder statteten ihm hin und wieder einen Besuch ab, krochen unter dem Stacheldraht hindurch, kletterten die Pfeiler hinauf bis auf das Blechdach und standen dort wie angewurzelt, zitternd von der ungewohnten Höhe und dem Wind, der dort oben ständig wehte. Wenn herauskam, dass sie dort gewesen waren, bezogen sie eine Tracht Prügel von den Eltern. Trotzdem gingen sie bei nächster Gelegenheit wieder hin.

Jenseits des Bahnhofs, im grauen Brachland zwischen K. und dem Hasenberg29 gelegen, nahm der Hangar eine riesige Fläche ein, so groß wie das Fußballfeld des Sportvereins Elvira, wenn nicht größer. Und gammelte vor sich hin. Nun aber kam dieser Fliegeringenieur mit seinem Vorschlag, den stählernen Bau zu einem Flughafen umzurüsten! Denn, so verkündete er mit vor Nachdruck bebender Stimme, die Eröffnung der Fluglinie London-Bombay stehe bevor, und die Engländer suchten fieberhaft nach einem geeigneten Zwischenlandeplatz, und bis jetzt suchten sie dummerweise nur in Serbien und der Türkei, dabei sei Serbien viel zu nahe und die Türkei hoffnungslos weit weg. Und bei euch ist alles Nötige schon vorhanden! Gebt mir so und so viel Geld zur Unternehmensgründung, und ich stelle euch einen Flughafen hin, der sich gewaschen hat! Von Flughäfen verstehe ich was! So sprach er und setzte im Überschwang hinzu, die Ratsversammlung könne getrost schon ihren Mann nach London entsenden, der für K. die Bewerbung anmeldet und der Königlichen Fluggesellschaft mitteilt, dass man einen praktisch fix und fertigen Flughafen zur Verfügung habe! Er werde den Gesandten mit der kompletten Dokumentation ausrüsten! Und ob die verehrten Ratsmitglieder sich eigentlich vorstellen können, was das bedeutete, einen Weltflughafen in K. zu haben? Ich bitte Sie!, rief er aus. Die große Welt hielte Einzug in Ihrer Stadt, bedenken Sie nur! Die kühnsten Piloten, berühmte Männer mit Goldzähnen und herrlichen Frauen im Arm, lustwandelten in den Straßen, weshalb die Regierung euch – ob ihr das passt oder nicht – das Pflaster erneuern muss, auf Staatskosten, versteht sich! Denn keiner in dieser Regierung wird so blöd sein und riskieren, dass die staatliche Autorität untergraben wird durch den Anblick dieser staubigen oder aber schlammigen Straßen, wo man sich fragt, wie ein Mensch da überhaupt langgehen soll! Nicht wahr? Das zum einen. Zum Zweiten: Stichwort Elektrizität! Die ganze Stadt würde mit dem Flughafen in einem Aufwasch mitelektrifiziert. Elektrische Beleuchtung! Lampen, Leuchtreklamen allerorten! Hier wird ein regelrechtes Europa aufgezogen! Zum Dritten: Der Flughafen selbst wird mit Lokalitäten ausgestattet: Cafés und große Geschäfte für Fluggäste mit Aufenthalt, und alle diese Sachen werden natürlich von euern Leuten betrieben. Dazu noch die für den Flughafenbetrieb nötigen Arbeitskräfte!

Ganz zu schweigen davon, setzte der fremde Gast noch eins drauf, dass allein schon durch die Pacht, die die königliche Fluggesellschaft der Stadt zu zahlen hätte, das Stadtsäckel auf ewig gefüllt wäre! Auf ewig, sage ich! Wenn ihr versteht, was ich damit sagen will!

So ging das weiter. Und was er damit sagen wollte, verstand man durchaus, zögerte vielleicht anfangs noch, was man darauf erwidern sollte – doch als die Rede auf die zu erwartende königliche Pacht kam, war man alsbald bereit, einen beträchtlichen Teil der für die Anschubfinanzierung verlangten Summe bereitzustellen. Als Vorschuss, wie man eilfertig versicherte. Lässig steckte der Mann das Geld in die Tasche und ließ sich einstweilen in K. nicht mehr blicken – bis sich noch später herausstellte, dass er weder Ingenieur noch Pilot war, sondern der dringend gesuchte Hochstapler und Heiratsschwindler Kiro Raffzahn, der berüchtigte Kuppler von Plewen, dessen berückende und entzückende Mägdelein die reichen Söhne im ganzen Land kopflos und hitzig werden ließen, so dass sie ihnen hoppla-hopp die Ehe antrugen und einen Haufen Geld dazu, wodurch die Väter um ihr Kapital gebracht waren.

Kiro Raffzahn bekam von den Damen Prozente.

All das würde aber erst im Frühjahr 1924 ruchbar werden und sich zu einem Riesenskandal auswachsen, bei dem etliche Leute großen Ärger bekämen, sich dutzendweise in den Gerichtssälen Asche auf die ohnehin ergrauten Häupter zu streuen hätten und so weiter, und so weiter, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Jetzt, in diesen Zeiten der Besinnung und des Aufbruchs, ergriff die Obrigkeit erst einmal ein paar entschlossene Maßnahmen zur Gesundung der Moral in ihrer Stadt. Und zwar in dem Sinne, dass ein Hort geschlechtlicher Unzucht attakiert und ausgeräuchert wurde, nämlich im Hause einer gewissen Frau Shela, im Teil Zwei gelegen. Seit längerem wurde von den Bewohnern des Viertels verstärkt signalisiert, dass Shela Männer zum Zwecke der Ausübung unzüchtiger Handlungen empfing, also auf den Strich ging. Signalisiert wurde ferner, dass es sich bei den Besuchern des Hauses häufig um Zureisende aus anderen Städten, Geschäftsleute und so weiter handele, so gehe es nicht weiter! Denn diejenigen, die die genaue Adresse nicht wüssten, klopften des Nachts gern einmal an die Pforten umliegender Häuser, um sich zu erkundigen, ob hier nicht zufällig eine Frau Shela wohne. Das geschah jeden zweiten, dritten Abend, und es kam zu unerfreulichen Zwischenfällen, bei denen auch Kinder Zeuge wurden. Schon einmal Anfang August hatte die Freie Tribüne einer dieser empörten Stimmen Raum gegeben und die Obrigkeit dazu aufgerufen, gegen diesen Ausbund an Schamlosigkeit tätig zu werden und allen unguten Gerüchten den Boden zu entziehen. Die Obrigkeit – in Gestalt der erneuerten Polizei – kam dem Aufruf nach und schickte am Abend des 1. September eine verstärkte Streife zu Shelas Haus – ursprünglich nur mit der Absicht nachzusehen, was Sache war. Im Verlaufe dieser Überprüfung kam es jedoch überraschend zu einem bewaffneten Zusammenstoß, einer richtigen Schießerei. Zunächst schoss jemand aus den verdunkelten Fenstern und verletzte einen Polizisten schwer! Der nachfolgende, eine gute halbe Stunde anhaltende Schusswechsel führte zu einem weiteren Opfer auf Seiten der Polizei sowie zum Tod besagter Shela und jener bewaffneten Widerstand leistenden männlichen Person. Es handelte sich um einen Getreidehändler aus Harmanli mit Namen Mitrju Mitrew. Was die in der Freien Tribüne geäußerte Vermutung erhärtete, dass vorzugsweise Fremde diese Frau aufgesucht hatten …

Nachdem das Problem Shela gelöst war, unternahm die Obrigkeit löbliche Anstrengungen, um Schamlosigkeiten anderer Art zu unterbinden. Es betraf die Fleischer der Stadt, die in diesem Hochsommer des Jahres 1923 die empörende Gewohnheit entwickelt hatten, ihre Ware mit Hilfe obszöner Couplets und anzüglicher Reden feilzubieten. Zuerst einmal suchte man ihnen ins Gewissen zu reden, wie es sich gehörte: Dass ihr euch verdammt noch mal nicht schämt! Erwachsene Leute! … Was zum Teufel fällt euch ein, hier solche Sachen zu krakeelen! Habt ihr sie noch alle? Wörter, die man gar nicht wiederholen möchte! Reißt euch gefälligst zusammen, Leute, habt ihr denn gar keine Gottesfurcht? Der städtische Marktplatz ist keine Stammkneipe, wo ihr euch zu Hause fühlen könnt! Habt ihr mal daran gedacht, dass unschuldige Mädchen des Weges kommen könnten? Eine Schande ist das! … So redete man mit ihnen. Die Fleischer aber dachten nicht daran, sich zu schämen, geschweige zu besinnen; sie grienten nur und verkündeten dreist, das sei aber nun mal ihre Angelegenheit, wie und wodurch sie für ihr Geschäft und die Waren Reklame machen …

Wir werden es nicht dulden!, schäumte die Obrigkeit und brummte ihnen am Ende zwei saftige Geldstrafen pro Nase auf. Da waren die Dickschädel augenblicklich bekehrt, und auf dem Marktplatz zogen wieder Ruhe und Anstand ein.

Denn die Zeit war schon am Fliegen, und nachts, da heulte sie, dass es zum Fürchten war!

Derweil wurde Ende August, Anfang September der Allerhöchste Beschluss zur Umbenennung von K. an die Presse gegeben.

Und K. hieß nicht mehr K., sondern Ju.!

Im Erlass Seiner Majestät wurde ausgeführt, dass die Umbennung von K. in Ju. auf Vorschlag der Regierung erfolge, nämlich auf die allgemeine Beruhigung der Gemüter und der antagonistischen Leidenschaften hin, in Anerkennung des unschätzbaren Beitrages der Stadt K. und ihrer Öffentlichkeit zur Erneuerung des politischen Klimas im Königreich nach dem 9. Juni – und nicht zuletzt, weil K. ein türkischer Name war, Ju. hingegen ein rein bulgarischer.

Der Erlass wurde allseits mit tiefer Genugtuung aufgenommen, die Dankbarkeit im ganzen Landkreis kannte keine Grenzen. In der Garnison wollten die donnernden Hurra-Rufe lange nicht verebben, überall ertönte Musik, und in der Stadt wurde eilends ein Initiativkomitee gebildet, das ein dreitägiges Kultur- und Gewerbefest zu organisieren versprach. Dem Komitee standen der Bürgermeister, der Polizeidirektor und der Garnisonskommandant vor, sie waren es auch, die sich den famosen Namen dafür ausdachten: Dreitagefest der Gastlichkeit von Ju.

In Vorbereitung des Festes wurde die ganze Stadt gründlich gereinigt und auf jede erdenkliche Art geschmückt. Überall in den Straßen wehte die Trikolore der bulgarischen Nation, an die Fassade des Rathauses kam eine neue Inschrift in erhabenen Goldbuchstaben – RATHAUS – und links und rechts davon zwei schöne, lichtstarke Petroleumlaternen, die sie des Nachts beleuchteten; auch hier hing natürlich eine große Fahne. Zwei metallene Skulpturen wurden aufgestellt, die bulgarische Krieger darstellten und die Treppe in Richtung Offizierskasino flankierten, und im Stadtpark beim alten Rosarium mit der Laube und den zwischen Buschwerk verborgenen Bänken fand, um der Romantik Genüge zu tun, eine nackte Weiblichkeit aus Granit in einem Brunnen aus Carrara-Marmor ihren Platz. Auch der Kirklar-Hügel30 vor den Toren der Stadt sollte seinen hässlichen türkischen Namen ablegen und von nun an Elez heißen, was auf erlesene Art bulgarisch, ja, geradezu patriotisch klang. Während des Dreitagefestes sollte die Polizeistunde aufgehoben werden (und hinterher konnte man im Polizeibericht lesen, dass trotz der Maßnahme in diesen Tagen nur ein einziges Delikt registriert wurde, nämlich die Entführung eines getrimmten Hündchens namens Pekki, Eigentum einer unvergleichlichen Sofioter Dame, Täter unbekannt, und am Ende fand sich sogar Pekki wieder an, was bloß gut war, denn es handelte es sich um einen Pekinesen!)

Und die Leute kamen geströmt von außerhalb her –, so viele wie nie zuvor, ließ sich mit Fug und Recht behaupten: weder zu den Viehmärkten im Frühjahr noch zu den Herbstmärkten mit Zirkus, Himalaja-Zoo und Karussellen war so ein Ansturm zu verzeichnen gewesen. Das Neu-Amerika war überfüllt und alle Gasthäuser und Herbergen ebenso, die Plätze reichten trotzdem nicht aus, so dass die Stadtverwaltung an den Edelmut und die Gastfreundschaft der Bürger appellierte, ihre Gästezimmer gegen Entgelt als Quartiere zur Verfügung zu stellen für die aus dem ganzen Land anreisenden Freunde der Stadt. Und tatsächlich folgten etliche dem Aufruf.

Was die Kultur anging, so wurden während der drei Tage in der Lesehalle mehrere Theatervorstellungen gegeben, auch eine Kinderoperette über Schneeglöckchen im Frühling, Puppentheater-Aufführungen und diverse Humoresken. Außerdem reisten nun endlich tatsächlich die Trommler aus Sofia an, und am Fluss schlug der berühmte Zirkus Krone sein Zelt auf. Vier Blasorchester waren unentwegt im Einsatz, wechselten einander an sieben verschiedenen Lokalitäten ab, darunter an zwei Stellen im Stadtpark, auf dem Hof des Offizierskasinos und natürlich auf dem festlich erglänzten Coburg-Platz; die hölzernen Estraden, die die Musiker wechselweise bestiegen, ertranken überall in Blumen und Fahnen. Im roten Restaurant des Neu-Amerika, zwischen Plüsch und geschliffenen Wandspiegeln, stampfte eine unermüdliche deutsche Jazzband, die nur um die Mittagszeit und zur frühen Abendstunde durch ein tschechisches Salonorchester aus der Schule des berühmten Maestro Sáfrány31 abgelöst wurde. In den übrigen Schenken und Kneipen der Stadt, den gesitteteren ebenso wie den primitiven, spielten rund um die Uhr Musiker aller Art: dürre, dunkelhäutige ungarische Zymbalspieler, geschmeidige argentinische Gitarristen aus Plowdiw, rumänische Doinas aus Knesha32 und anderer, weniger raffinierter Bums, während im Savoy und im Sliwen die Phonographen tönten. Im Kino gab es sieben oder acht Vorführungen täglich – so dass auch das Moderne Theater, ungeachtet großzügig ermäßigter Eintrittspreise, einen gehörigen Profit aus der Festlichkeit zu schlagen vermochte.

Und am anderen Ufer wallte, brodelte, schäumte, stöhnte der Basar. Zahllose Stände waren hier aufgeschlagen, noch in den Gässchen weitab vom eigentlichen Marktplatz und bis über die Brücke herüber reihten sich die Tische, und, du lieber Gott!, was wurde da nicht alles geboten! Ein Fest für Auge, Ohr und Nase, und für die Seele ungemein erhebend. Muhen, Blöken, Hufgetrappel, Getöse jedweder Art aus den Menagerien und vom Viehmarkt, über alledem ein anhaltendes Stimmengewirr, und der Staub – aufgewirbelt von Hunderten Füßen, mischte sich üppig in den beißenden Rauch von den Rosten der Kebabbrater, die nicht müde wurden, die zwei Finger dicken und kaum weniger als einen Fuß langen Kebabtscheta zu zwirbeln und die handtellergroßen, scharf gewürzten Kjufteta33 zu kneten – stieg auf und verhüllte einer barbarischen Wolke gleich die rote Sonne. An mehreren Stellen waren Planen und Stoffbahnen gespannt, hinter denen schmutzige, abgerissene, herb nach dem Staub der Landstraßen riechende Wanderschauspieler und Puppenspieler Szenen und Stücke für Menschen oder Puppen zum Besten gaben, Feuer schluckten; grellbunte Clowns, Harlekine, Pentscho und Marijka34 brachten die Leute zum Lachen, bis ihnen vor Glück die Tränen rannen; zu bestaunen gab es allerlei Naturwunder, zum Beispiel ein Kalb mit zwei elenden Köpfen und ein Schaf mit dreien, ein junges Weib mit nackten Brüsten und Fischschwanz im Wasserkübel, aus dem es nach Gulli roch; geheimnisvolle, furchteinflößende Misters in Turban, Frack und Pelerine führten magische Tricks und andere Illusionen vor, Fakirkunststücke und optische Täuschungen, oder sie verschlossen freiwilligen Mitspielern aus dem Publikum zu ihrer Verblüffung mit großen blitzenden Vorhängeschlössern direkt durch die Wangen den Mund, und wie hieß es so schön in dem Lied, das in jenen Tagen unter den Zeltbahnen der Kebabbrater und an den Schankbuden am häufigsten gesungen und gehört wurde: Ach, mir geht es gut! Wie‘s mir gut gehn tut! Hat das Meer ein Loch, ei-ei? Unterm Rock sind ihrer zwei. Çok selam35, kleiner Mann, grüß mir deine Schwester! Oder: Wenn die Geister, all die ganzen, nachts in Holzpantinen tanzen, und wie ging doch gleich das andere, das ganz harmlos anfängt mit der Kornelkirschblüte, die wo ausgeblieben ist, und am Ende kriegt man einen roten Kopf …

Und so ging das weiter, das Volk wie im Rausch, denn deswegen war es hier: sich kopfüber ins Getümmel zu werfen, die Freuden dreier toller Tage zu genießen, alles hinter sich zu lassen: die Dürre, den Dreck, die zwischen den Knochen vom Schlachthof streunenden Hunde, die Räuber und das sündhaft teure Brot.

Für die Kinder gab es Schaukeln und Karusselle, die kunterbunt in den Augen flirrten, solange sie sich drehten, angeschoben von kräftigen, ausdauernden Burschen, die sich hier ein bisschen was dazuverdienten. Und es gab die von puffenden und paffenden Benzinmotoren angetriebenen Kettenkarusselle, von denen sich Jungen und auch vorwitzige Mädchen bis zur schwindelerregenden Waagerechten in den kupferbronzenen Himmel heben ließen – die Jungen wild juchzend und eifrig sich mühend, ihre Ketten mit denen der Mädchen zu verhaken, während die Mädchen kieksten wie irre und herausfordernd keckerten in diesen sonderbaren Verflechtungen. Und damals kam unter den jungen Leuten gerade eine neue Mode auf: Man kaute Erdpech oder auch Bienenwachs, das von wortkargen, grauhäutigen Imkern am Rande des Marktes feilgeboten wurde; manche kauten Kiefernharz, andere Lakritze. Letzteres Wort, auf besondere Art ausgesprochen, brachte Halbwüchsige regelmäßig zum Tuscheln und Kichern … So hatten alle ihren Spaß.

Von Sofia kamen per Bahn und Automobil zahlreiche Persönlichkeiten gereist, denen eine Schar Journalisten mit breitkrempigen Panamahüten nicht von der Seite wich. So fand bereits am Vormittag des ersten Tages auf dem Coburg-Platz ein Dankgottesdienst statt und am Abend dann die öffentliche Versammlung vor großem Publikum in der Lesehalle, auf der der Erlass des Königs über die Umbenennung verlesen wurde, wonach der ganze Saal sich erhob und Es rauscht die Mariza sang. Anschließend wurde eine lange, konfuse Grußadresse verlesen, die die persönliche Unterschrift von Ministerpräsident Prof. Zankow trug. Von Prosperität, Wirtschaftswachstum und Volksbildung war irgendwie die Rede. Im weiteren nahmen noch Dutzende Redner das Wort: Wichtige Politiker sprachen zur Bevölkerung in enthusiastischen Worten von der Befriedung des Königreiches, vom Zusammenschluss der Parteien zur Demokratischen Eintracht36 und von der brutalen Korruption während der Herrschaft der Bauernpartei, sodann erinnerten sie an die Ereignisse von Tarnowo37 vor genau einem Jahr und an den vorgeblichen Umsturzversuch des Baron v. Wrangel38; schließlich kamen bärtige Gelehrte aus Sofia und Plowdiw an die Reihe, die K. noch einmal als türkischen Namen abstempelten und Ju. als bulgarischen priesen. Hingebungsvoll predigten sie vom Katheder seine Rechtmäßigkeit, wofür sie viele unwiderlegbare Beispiele ausgruben und einander darin übertrafen, immer weiter in die Vergangenheit des Vaterlandes zurückzugreifen, drei Reiche durchmessend, bis sie am Ende, keiner wusste wie und wozu, an jenem historischen Moment herauskamen, da Khan Krum den Becher aus Kaiser Nikephoros’ Schädel an die Lippen setzte39 und rief: Wohl bekomms, ihr Recken! Jedenfalls war es langer Rede kurzer Sinn, dass es so war, wie sie sagten: dass K. ein türkischer, rückwärtsgewandter Name und Ju. ein urbulgarischer Name sei für eine bulgarische Stadt, K. etwas Nichtswürdiges, Nichtssagendes, Ju. hingegen so klangvoll und edel, wie das Lied der Bulgaren auf angestammten Boden allzeit gewesen.

Von der Versammlung weg ging man zuerst die Nachtübung der Feuerwehr inspizieren und von da zum Staatsbankett, das der Rat der Stadt zwischen geschliffenen Spiegeln, Kristall, Palmen, Plüsch und rotem Samt, zu den Klängen des Pilsener Salonorchesters und dieses etwas später abgelöst vom dröhnenden deutschen Jazz, kurz: im Neu-Amerika ausrichtete. Die Tische waren zu einem großen Quadrat gestellt, in dessen Mitte eine stattliche Kübelpalme stand. Sage und schreibe siebenundachtzig Toasts wurden im Verlaufe des Abends ausgebracht – der eine auf die bestehende Ordnung und das erblühende Königreich, der nächste auf den Fortschritt, den Frieden, das Volkswohl, wieder andere auf den sagenhaften Elan und die kühnsten Träume der Industrie von heute, den freien bulgarischen Handel, das für ganz Europa beispielhaft grenzenlose Unternehmertum und so weiter, und so fort. Draußen tobte der Karneval, riefen Trompeten und Schalltrichter ins Chapiteau des Zirkus Krone, und noch in tiefer Nacht flitzten die Journalisten zum Post- und Telegraphenamt, um den Zeitungsredaktionen ausführliche Reportagen vom ersten Tag des Ereignisses zu übermitteln, inklusive der genauen Anzahl der Gäste – und natürlich waren sie es, die die Toasts im Neu-Amerika mitgezählt hatten: siebenundachtzig an der Zahl!

Am zweiten Festtag traf es sich (wie abgesprochen – war es aber nicht!), dass aus dem fernen England der neue Gasmotor für die Mühle der Produktionsgenossenschaft Fortschritt eintraf. Blumengeschmückt und behangen mit den Porträts namhafter Verfechter des Genossenschaftswesens wie Hermann Schulze-Delitzsch, Ferdinand Lassalle, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Luigi Luzzatti, Eduard Anselm, Ann Isabelle Milbank (bekannt als Lady Byron) und Gevatter Pawel Christow aus dem Dorf Mirkowo (einer der Gründungsväter der ersten Genossenschaft im Königreich Bulgarien Oralo), wurde der Motor von den Genossenschaftlern eigenhändig vom Bahnhof zum Klinkergebäude der Mühle getragen, wofür die ganze jubilierende Stadt zu durchqueren war. Eine hochgestimmte Menge folgte den Männern; darin sah man auch die Panamahüte der unermüdlichen Hauptstadtjournaille umherhuschen, die hinterher hervorhebenswert fand (und die Zeitungen setzten es in kursive Schönschrift), dass der Motor nagelneu war, direkt aus der Fabrik Ruston & Hornsby Ltd. in Stockport/Liverpool geliefert, wie in schwarzen Druckbuchstaben auf der Kiste aus hellem, duftendem Fichtenholz zu lesen stand, und abgewickelt worden war die Lieferung durch das gut beleumdete Anglo-Amerikanische Handels- und Industriemuseum Iwan Kurtew & Co., Stara Sagora.

Das Dreitagefest der Gastlichkeit von Ju. begann am 7. und endete in wohliger Erschöpfung der Allgemeinheit am 9. September 1923.

Letzterer fiel auf einen Sonntag.

An den neuen Namen ihrer Stadt hatten die Leute sich da noch nicht gewöhnt und versprachen sich in einem fort, sagten aus alter Gewohnheit K., anstatt richtigerweise Ju. zu sagen, aber das war alles eine Frage der Zeit.

So war das.

Teufelszwirn

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