Читать книгу RAF oder Hollywood - Christof Wackernagel - Страница 15
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Bald zogen wir in das zu unserem genau gleich aussehende Reihenhaus meines Stiefvaters Heiner Guter mit seinen beiden Töchtern. Der einzige Vorteil war, dass man draußen besser spielen konnte, weil gegenüber des Handtuchgärtchens keine Häuser waren, sondern eine Wiese und noch etwas weiter hinten ein Flüsschen, die Würm; dort gab es viele Bäume und Büsche, wo man sich gut verstecken konnte. Es war alles sehr beengt und meine Eltern, »die Alten«, wie wir Kinder sie nannten, stritten sich dauernd; da aber fast täglich Gäste kamen, immer wieder neue, vertrugen sie sich wieder, jedenfalls, solange die Gäste da waren.
Wir Kinder wurden nie ausgeschlossen von den Gesprächen der Alten und ihrer Gäste. Eines der Hauptthemen in diesem Jahr war, dass Spione der Israelis einen alten Nazi, der nach Argentinien geflohen war, aufgestöbert und geklaut hatten.31 Alle Freundinnen und Freunde der Alten waren sich einig, dass das in Ordnung gewesen war. Der Mossad32, so hieß die Organisation der Spione, hatte ihn heimlich entführt – das hörte sich alles wahnsinnig spannend an. Auch wenn die Erwachsenen oft dummes Zeug redeten, in diesem Fall hatten sie recht. Die Zeitungen regten sich auf, dass das nicht legal gewesen sei – und darüber regten sich die Erwachsenen auf: Es habe sich nichts geändert in unserem Land, überall hätten die alten Nazis noch das Sagen, es gebe keine freie Presse. Heiner Guter, der sonst immer nur zynische Kommentare zum Besten gab, war in diesem Fall sehr ernst und höchst befriedigt. Meine Mutter nickte mit bitterem Lächeln und sagte: »Das hat der aber wirklich verdient.« Und ein andermal sagte sie: »Das ist eine Genugtuung für unsere Familie!«33
Aber das Spannendste daran war etwas anderes. Wochenlang wurde darüber geredet, auch weil es eine technische Sensation war: der Prozess gegen Adolf Eichmann34 sollte live aus Jerusalem im Fernsehen übertragen werden! Es war unglaublich, man konnte es sich kaum vorstellen, wie das gehen sollte. Das, was die Kameras aufnahmen, wurde per Funk nach Deutschland und in alle Welt gesandt und dann hier ausgestrahlt! Unvorstellbar! Alle fieberten diesem Tag entgegen; normalerweise durften wir Kinder nicht Fernsehen, obwohl – beziehungsweise weil – meine Mutter beim Fernsehen arbeitete. An diesem Tag hätten wir aber gemusst, wenn wir nicht sowieso unbedingt gewollt hätten.
Und am 11. April war es endlich so weit: Die Sonne schien, aber wir versammelten uns alle aufgeregt um den kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher im Wohnzimmer unseres Reihenhäuschens. Die Alten waren nicht zur Arbeit gegangen, wir Kinder nicht in die Schule. Und wir konnten tatsächlich hier in München-Obermenzing sehen, was im selben Moment ganz weit weg im Jerusalemer Bezirksgericht stattfand:
Von weit oben konnten wir sehen, wie ein in einen grauen Strickpulli mit einem V-Ausschnitt gekleideter Mann in einen gläsernen Käfig geführt wurde, der links in dem Gerichtssaal stand. Mit ihm zwei Bewacher – alle drei setzten sich. Er klammerte sich mit beiden Händen am Tisch fest und guckte fragend vor sich hin. Dann stand er hektisch auf und machte die Andeutung einer Verbeugung vor dem Richter. Danach nahm er wieder Platz und setzte Kopfhörer auf. Man hörte den Richter hebräisch sprechen, aber sofort legte sich eine Deutsch übersetzende Stimme darüber.
Eichmann dachte über jede Frage nur kurz nach, bevor er prompt und präzise antwortete. Es klang alles ganz selbstverständlich. Manchmal schüttelte er den Kopf, widersprach aber nicht, sondern verbesserte den Richter. Er wirkte beflissen, teilweise fast rechthaberisch.
Eigentlich sah er aus wie jeder andere. Nichts Besonderes. Ein gar nicht mal so alter Mann mit Krawatte und einem ausdruckslosen Gesicht.
Ich empfand gar nichts und mir grauste zugleich, obwohl ich nicht wusste, wovon das ausgelöst wurde.
So sah ein Nazi aus? Ein Massenmörder? Waren sie alle so?
Ich hatte schon Hitler oder Goebbels und Göring im Fernsehen gesehen, wie sie rumbrüllten und blöde gestikulierten – hatte das aber eher lächerlich und unappetitlich gefunden.
Eichmann35 war ganz anders. Völlig ruhig und unaufgeregt. Ich spürte, dass ich Herzklopfen hatte – keine Angst, aber ein dumpfes, unangenehmes Gefühl.
Völlig aufgewühlt gingen wir auf die Veranda unseres Handtuchgärtchens, nachdem die Übertragung zu Ende war. Die Alten tranken Kaffee und schwiegen vor sich hin. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.
»Wieso ist Tante Lily36 eigentlich nicht geflohen wie Yella, Otto und Helmut?«, wollte ich plötzlich wissen.
Heiner Guter grinste böse und sah zu meiner Mutter.
Ihr war die Frage sichtlich unangenehm. »Das ist schwierig zu beantworten«, wich sie aus.
»Aber die Nazis wollten doch alle Juden umbringen«, insistierte ich, »wenn sie sie sogar selbst aus Afrika geholt haben, um sie nach Auschwitz zu bringen!«
»Wenn Hitler nicht besiegt worden wäre«, warf Heiner Guter ein, »hätten sie das auch geschafft.«
Ich wusste, dass meine Mutter Tante Lily nicht besonders mochte. Aber Tante Lily betonte immer, wie sehr meine Mutter sie als Kind geliebt habe, weil sie so gerochen habe wie ihre Schwester, die früh verstorbene Mutter meiner Mutter. Irgendetwas stimmte da nicht.
»Musste sie nicht auch einen gelben Stern tragen?«, fragte ich.
»Wieso willst du denn das jetzt plötzlich alles wissen?«, fragte meine Mutter, »das ändert doch nichts.«
»Yella und Otto kommen nie mehr nach Deutschland und Lily war sogar da, als Eichmann alle holte – das verstehe ich nicht.«
»Es gab auch Ausnahmen«, sagte Heiner Guter.
»Warum?«
»Mein Großvater«, sagte meine Mutter widerstrebend, »also dein Urgroßvater war ein hoher Soldat im Ersten Weltkrieg, deshalb hat man bei meiner Großmutter darüber hinweggesehen, dass sie Jüdin war, sie musste keinen gelben Stern tragen.«
»Weil ihr Mann den Heldentod erlitten hat«, spottete Heiner Guter.
»Aber am Ersten Weltkrieg waren doch auch die Deutschen schuld«, widersprach ich, »so habt ihr mir das jedenfalls erklärt.«
»Klar«, sagte Heiner, »deswegen hatten sie ja nichts gegen den Zweiten.«
»Aber warum sind dann Yella, Otto und Helmut geflohen und Lily nicht!?«, fragte ich und wurde sauer.
»›Wer Jude ist, bestimme ich‹«, zitierte Heiner, »das hat Göring gesagt.«
»Ja, aber warum?!«, rief ich wütend.
»Unsere Vorfahren waren zwar Juden«, fuhr meine Mutter fort, »aber das war ihnen egal, sie fühlten sich als Deutsche und haben ja auch schon für das Deutsche Reich Militäruniformen hergestellt.«
»Viele von denen waren deutscher als die deutschesten Deutschen«, spottete Heiner. »Hitler hat sie überhaupt erst drauf gebracht, dass sie Juden sind.«
»Ich will aber wissen, warum Tante Lily hiergeblieben ist!«, schrie ich und stampfte mit dem Fuß auf.
Meine Mutter sah mich traurig an. »Weil sie Tante Lily brauchen konnten«, sagte sie leise.
»Wie?!«
»Tante Lily konnte eine bestimmte Art von Stenographie, die sonst niemand konnte«, erklärte meine Mutter traurig, »dadurch war sie unentbehrlich für das Militär.«
»Was?!?«
»Ja«, sagte Heiner Guter, »sie hat für die Wehrmacht gearbeitet. Sie war Chefsekretärin der Obersten Heeresleitung.«
»Wie bitte?!?« Ich verstand gar nichts. »Tante Lily hat für die Nazis gearbeitet?!?«
Ich sah die beiden an und meine Mutter nickte: »Deswegen arbeitet sie ja heute wieder für die Bundeswehr!«
Heiner sagte nichts.
»Sie hat wirklich mit Eichmann gearbeitet?!?« Ich konnte es nicht fassen.
»So direkt nicht«, wiegelte meine Mutter ab. »Aber deswegen reden ja Yella und Otto nicht mehr mit Lily.«
»Sie hat also für die Nazis gearbeitet, während Eichmann Tante Lotte ins KZ verfrachtet hat!« Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich wusste nur eines: Ich wollte weder37 Deutscher noch Jude sein.
September
Direkt nach meinem zehnten Geburtstag konnte ich endlich raus aus dieser furchtbaren Volksschule. Meine Mutter schickte mich aufs Königlich Bayrische Humanistische Maximiliansgymnasium38. Es wirkte allerdings nicht weniger bedrohlich – nur vornehmer. Auf den Kapitellen der dorischen Säulen, die die mächtigen, intarsienverzierten Flügel des Portals aus dunklem Holz säumten, thronten Löwen und sahen hochmütig auf uns Kleine hinab, die die ehrfurchtgebietenden breiten und nach oben zulaufenden Stufen hinaufsteigen mussten. Im dunklen Eingang begrüßte ebenfalls auf einer Säule die Büste Max Plancks39 die Eleven, und zu den ersten Informationen über diese Eliteschule gehörte, dass der Verteidigungsminister Franz Josef Strauß40 hier sein Abitur allein deshalb mit nur 1,2 gemacht hatte, weil er in Turnen eine Vier bekommen hatte. Die Zeitungen waren voll davon, dass die Flugzeuge, die er als Verteidigungsminister für die Bundeswehr gekauft hatte, abgestürzt waren.41 Heiner Guter lachte spöttisch darüber: »Das ist ein alter Drecksack! Werd bloß nicht so wie der!« Ich wollte sowieso lieber Papst werden, und hier am Gymnasium konnte man Latein lernen.
Der Direktor war ein freundlicher älterer Herr. Jedes Kind, das neu in seine Schule kam, begrüßte er persönlich in seinem Büro. Die Eltern wurden hinausgeschickt.
Hinter seinem schwarzen, fast leeren Schreibtisch sitzend, bat er mich, davor Platz nehmen. »Ich freue mich, dass du auf unsere Schule gehen willst!«, sagte er, nachdem ich mich vorgestellt hatte. »Du solltest deinen Eltern dankbar sein, dass sie diese Entscheidung getroffen haben.« Das Maxgymnasium sei eine ganz besondere Schule mit Tradition, erklärte er, ich könne stolz sein, hier auf das Leben vorbereitet zu werden.
»Ihr werdet später die Geschicke dieses unseres Landes leiten«, sprach er zu mir, milde lächelnd, fast liebevoll, »das ist eine große Verantwortung!«
In der Klasse gab es einen Jungen, der beim Turnen blitzschnell auf alle Geräte klettern konnte. Schwupp – schon saß er oben auf dem Reck oder der großen Leiter. »Guckt mal!«, sagte ein anderer Junge und zeigte auf ihn, »das ist Fips, der Affe!« Alle lachten, aber der so Angesprochene war nicht beleidigt. Im Gegenteil: Er nannte sich von nun an selbst Fips42.
Der blaue Schal, den er immer trug, stammte von den »jungen Pionieren«43 aus der DDR. Seine Eltern hatten kurz vor dem Mauerbau »rübergemacht«, wie man es bezeichnete, wenn Leute aus dem Osten in den Westen flohen. Sein Vater war Zahnarzt und hatte in der DDR eine privilegierte Stellung, weswegen Fips dort viele Vorteile hatte, von denen andere Kinder nur träumen konnten. Deswegen war er stinksauer auf seine Eltern, dass sie ihn gezwungen hatten, dieses schöne Leben zu verlassen. Plötzlich musste er in hässlichen Auffanglagern mit ganz vielen Leuten auf ungemütlichen Feldbetten schlafen, bekam nicht mehr so gutes Essen wie in der DDR und musste im Radio Beschimpfungen der DDR anhören.
»Adenauer ist ein Verbrecher«, erklärte er, als wir in der Pause auf dem Schulhof zusammen liefen; wir waren schnell Freunde geworden. »Der Sozialismus ist viel besser als der Kapitalismus«, lernte ich von ihm. Und dass hier bei uns nicht alles mit rechten Dingen zuging, vor allem, dass die Nazis überall noch ihre Finger drin hatten, wusste ich ja schon von meinen Alten, also waren wir uns völlig einig – auch gegen alle anderen Klassenkameraden, die von diesen Dingen keine Ahnung hatten.