Читать книгу RAF oder Hollywood - Christof Wackernagel - Страница 18
1963
ОглавлениеAlle drei Jahre machte Onkel Helmut seine Weltrundreise. Sein letzter Besuch schien mir eine Ewigkeit her. Er begutachtete das neue Haus, war sehr zufrieden und lobte Heiner.
Er hatte mir eine Uhr60 mitgebracht, auf der man, durch Drehen eines gezackten Ringes, der sie umschloss, anzeigen konnte, wieviel Uhr es woanders auf der Welt war. Es war Mittagszeit, wir saßen am oberen Esstisch, während hinter der Durchreiche zu sehen und zu hören war, wie Heiner kochte. Onkel Helmut erklärte mir, wie die Uhr funktionierte: »In Australien ist es jetzt Mitternacht«, sagte er, nachdem er den Ring verstellt hatte, »hier ist Frühling, dort ist Herbst.«
Während ich begeistert an dem Ring herumdrehte, lehnte er sich zurück und setzte hinzu: »Und so wie überall eine andere Zeit herrscht, herrschen auch überall andere Verhältnisse!« Ich sah zu ihm hoch. »Diese Uhr soll dich daran erinnern, dass du in ganz wunderbaren Umständen lebst.« Ich fand es zwar grauenhaft, wie die Alten sich immer stritten, mich nervten meine Stiefschwestern und ich fand es überflüssig, wenn meine Mutter beim Essen immer betonte, wie billig sie es eingekauft hatte, aber wenn Onkel Helmut das sagte, musste etwas dran sein.
»Ich komme viel in der Welt herum«, fuhr Onkel Helmut fort, »das weißt du, und ich sehe viel Elend auf der Welt.« Er beugte sich vor, suchte meinen Blick und sagte eindringlich: »Es gibt unendlich viele arme Menschen auf der Welt, die Hunger haben – du ahnst gar nicht, in was für einem Reichtum du lebst.« Ich kannte das schon seit Kindheitstagen, wenn ich mit der Begründung aufessen sollte, dass in China Kinder hungerten – als ob sie davon satt würden, wenn ich mehr aß, als ich Hunger hatte – aber so, wie Onkel Helmut das sagte, klang das anders. Irgendwie war er traurig, diese Menschen taten ihm leid – und dann taten sie mir auch leid, denn ich mochte ihn sehr gern und ich wusste, dass er recht hatte. »Wir sollten immer versuchen, von unserem Reichtum etwas abzugeben«, sagte er, während Heiner eine dampfende Schüssel in die Durchreiche schob und uns aufforderte, sie auf den Tisch zu stellen. »Wenn wir immer bereit sind, zu teilen, wird es vielleicht mal besser in der Welt.«
Nachmittags besuchte uns eine Frau mit ihrem Freund und ihren beiden Kindern, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Unsere Alten hatten sie auf einer Veranstaltung zum Gedenken an die Weiße Rose kennen gelernt, sie war die Tochter eines Mitglieds61 der Widerstandsgruppe »20. Juli«62. Dort hatte sie sich mit meiner Mutter angefreundet, die sie so herzlich einlud, dass sie am Wochenende darauf schon kam. Sie hieß Katharina Heinemann, war sehr witzig und lachte selbst auch gerne. Vor allem aber gab sie Heiner mit seiner ständigen Meckerei und seinen zynischen Bemerkungen derart contra, dass er manchmal nicht mehr wusste, was er sagen sollte; Sabine und ich freuten uns diebisch darüber.
Ihre Tochter war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, und ich verliebte mich sofort unsterblich in sie. Ihr Name war Julia, sie war sehr zurückhaltend und wenn ich mit ihr sprach, dachte sie immer lange nach, bevor sie antwortete. Es war sehr schwer, ihr zu imponieren, sie ließ nichts gelten, was ich sagte, relativierte alles oder hatte Einwände. Ihr Bruder David war so alt wie meine Stiefschwestern und wir spielten Verstecken, die Älteren gegen die Jüngeren; so kam es, dass Julia und ich ganz bald im hintersten Winkel des Heizungskellers unauffindbar verschwanden.
Als wir verschwitzt und durstig wieder in den Garten hochkamen, fanden wir Julias Mutter im intensiven Gespräch mit Onkel Helmut. Sie konnte gerade nicht aufhören zu lachen, so wurden wir neugierig und setzten uns dazu. »Ja ja«, sagte Onkel Helmut und nickte nachdenklich lächelnd. »Aber es kommt noch verrückter«, fuhr er fort und Katharina sah ihn gespannt an, »in den ersten sechs Monaten war ich im Auffanglager für Einwanderer in einer speziellen Abteilung für deutsche jüdische Flüchtlinge. Wir wurden besonders genau kontrolliert, ob wir wirklich Juden waren und nicht Spione.«
Katharina lachte und schüttelte den Kopf: »Dabei waren die Nazis viel zu primitiv und verbohrt, um einen Spion als Juden auszugeben, das wäre gegen ihre rassische Arroganz gegangen!«
Nun lachte Onkel Helmut und nickte. »Aber in Sachen ›rassische Arroganz‹ kommt es noch viel besser«, versetzte er. »Als es im ganzen Lager Aufrufe gab, Blut für die australischen Soldaten zu spenden, die im Krieg gegen Deutschland verletzt worden waren, meldete ich mich natürlich sofort.« Schon wieder hielt er inne und nickte. »Aber als ich bei Aufnahme der Personalien angab, aus Deutschland geflohen zu sein, unterbrach der Wachsoldat seine Notizen. ›Sind Sie also Deutscher?‹, fragte er. ›Ich bin deutscher Jude‹, antwortete ich, ›deshalb musste ich ja fliehen.‹ Der Wachsoldat kratzte sich am Kopf und dachte angestrengt nach. ›Hm‹, machte er, ›ich weiß nicht, ob das geht.‹ ›Was geht?‹, fragte ich. ›Dass Sie Blut spenden!‹, antwortete er. ›Warum denn nicht?‹, fragte ich. Er druckste herum. Schließlich sagte er gequält: ›Ja, weil Sie als Deutscher deutsches Blut in Ihren Adern haben – das können wir doch unseren Soldaten nicht zumuten!‹«
Katharina63 Heinemann lachte schallend und schlug sich auf die Schenkel. Julia und ich sahen uns befremdet an – die hatten doch alle miteinander nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Ich musste eine halbe Stunde warten«, beendete Onkel Helmut seine Geschichte, »weil der Wachsoldat erst seine Vorgesetzten fragen wollte – und dann bekam ich von höchster Stelle den Bescheid, dass es undenkbar sei, mein deutsch-verseuchtes Blut64 australischen Soldaten zu geben.«
Jetzt lachten sie beide nicht mehr, sondern sahen schweigend nachdenklich vor sich hin.
Julia65 und ich zogen es vor, wieder wegzugehen und ich fragte sie, ob sie nicht mit mir in mein Zimmer kommen wolle.
Unter dem Eindruck des eben Gehörten wollte freilich keine rechte Stimmung aufkommen.
»Meine Großmutter66«, setzte Julia schließlich an, »erzählt auch manchmal von der Nazizeit.«
»Heiner nie«, sagte ich. »Ich kenn das nur von meinen Verwandten aus England, der Schwester von Onkel Helmut und von ihm natürlich. Die Bücher von Onkel Otto haben sie verbrannt. Und Tante Yella hat mal erzählt, dass die SA bei einer Hausdurchsuchung die Lederrücken von ihren Lexikonbänden mit scharfen Messern aufgeschlitzt haben, das waren ganz teure Bücher, mit Goldschnitt!«
»Bei meinen Großeltern haben sie mal eine Hausdurchsuchung gemacht«, erzählte Julia, »bloß, weil mein Großvater SPD-Abgeordneter gewesen war. Dabei hätten sie das gar nicht machen dürfen, weil Abgeordnete eigentlich immun sind! Und dabei haben sie meiner Großmutter in den Bauch getreten, obwohl sie mit meiner Mutter schwanger war.«
»Boah!«, machte ich.
»Deswegen hat meine Mutter diese Wunde mit dem Knubbel am Auge«, erklärte Julia, »auf dem Auge kann sie auch nicht gut sehen!«
»Wahnsinn!«, sagte ich und es schauderte mich. »Da kann man heute noch sehen, was die damals alles Schlimmes gemacht haben.«
Am nächsten Sonntag ging ich wie immer in die Kirche. Ich war Messdiener, eine Aufgabe, die ich gerne und mit Gewissenhaftigkeit erfüllte. Ich fühlte mich geborgen in den heiligen Hallen, roch gerne den Weihrauch und liebte diese stille, von allem Weltlichen losgelöste Atmosphäre. Es war wie ein Rausch, manchmal ging ich extra in die Kirche in Englschalking, nur um ungestört nachdenken und alles um mich herum zu vergessen zu können.
Ich betete oft – das Gerede der Gleichaltrigen, die glaubten »weiter« zu sein, das »nicht mehr nötig« zu haben, ließ mich kalt, zumal Fips und Ebby die Einzigen waren, die nicht deswegen über mich lästerten.
Gott war das Beste, das es gab, und er wollte nichts als das Beste für alle Menschen67 – dass es auf der Welt anders aussah, lag allein an den Menschen, die nicht an ihn glaubten. Er war nur lieb zu allen – das, konnte ich mich sogar noch erinnern, habe ich von meinem Papi gelernt.
Gott war eine unumstößliche Tatsache, er stand einfach nur für das Gute – so hatte ich das von meinem Vater übernommen.
Als ich Weihrauch schwenkend68 hinter dem Pfarrer in das Kirchenschiff trat, fiel mir plötzlich wieder ein, was Onkel Helmut von den Armen und Hungernden überall in der Welt erzählt hatte. Ich wusste das ja schon lange, aber so wie Onkel Helmut es erzählt hatte, war mir zum ersten Mal richtig klar geworden, dass das die größte Ungerechtigkeit überhaupt war. Und so flehte ich Gott an, ihnen zu helfen – wenn jemand es verstehen musste, dann Gott. Das alles war nur wieder einmal noch ein Grund mehr für mich, Papst zu werden: um wirklich etwas besser machen zu können in dieser Welt!69
Am nächsten Tag in der Schulpause, als Ebby, Fips und ich unsere Kreise im Hof zogen, überlegten wir, wohin wir nach der Schule gehen sollten, denn die letzte Stunde fiel aus. Eis kaufen, Hot Dogs essen, in Schallplattenläden gehen – alles langweilig. Da sagte Ebby: »Ich weiß, wo die Gammler im Englischen Garten immer sitzen, ich hab gestern mit denen geredet: da gehen wir hin.« Ich war Feuer und Flamme, fand die Idee wahnsinnig spannend, Fips zuckte mit den Achseln: »Anschauen können wir sie uns ja mal«, meinte er.
Die Gammler waren – nach den Protesten im Jahr zuvor – das neueste rote Tuch, über das sich die Erwachsenen aufregten. So wurden junge Leute genannt, die sich weigerten zu arbeiten und den ganzen Tag nichts machten, eben »gammelten«. Sie waren daran zu erkennen, dass sie immer in dunkelgrüne Parkas gekleidet irgendwo herumsaßen, Rotwein tranken und die staatlichen Autoritäten nicht respektierten; darüber empörten sich die Zeitungen am meisten – aber gerade das machte sie am interessantesten und erstmal grundsätzlich sympathisch.
Ich war sehr gespannt. Ebby führte uns über die »Münchner Freiheit«, den großen Platz, den man vom Maxgymnasium aus sehen konnte, direkt in den Englischen Garten, durch den der »Eisbach« floss, an dem wir stadteinwärts pilgerten, bis sich der Weg gabelte und auf der Wiese unter einem der riesigen alten und weitausladenden Baum tatsächlich die Gammler saßen: Sie hingen lässig rum, quatschten miteinander, tranken tatsächlich jetzt am Mittag schon Rotwein aus großen, mit hellem Bast umwickelten Flaschen und spielten Gitarre oder trommelten.
Und jetzt? Fips und ich sahen uns ratlos an, irgendwie ernüchtert – was daran so toll sein sollte, erschloss sich uns nicht; Fips knabberte an seinen Fingernägeln. »Und wen kennst du da?«, fragte ich Ebby. »Muss doch nicht«, antwortete er und schlenderte einfach auf die Wiese, wir ihm nach.
Plötzlich blieb mir schier das Herz stehen. Julia70 saß bei so einem bärtigen Gammler und unterhielt sich angeregt mit ihm. Sie war so mit ihm ins Gespräch vertieft, dass sie nicht einmal bemerkte, wie ich ihr zuwinkte.
Ebby hatte sich inzwischen neben einem Gammler auf der Wiese niedergelassen und ihn einfach angesprochen; wie betäubt setzte ich mich hinzu. Fips machte eine Runde um die ganze Gruppe, bevor er sich auch zu uns setzte. Als Julia dadurch von ihrer Unterhaltung mit dem blöden Gammler abgelenkt wurde und zu Fips hochsah, entdeckte sie mich und winkte mir kurz zu, als sei das alles das Normalste auf der Welt.
Ich hasste diesen unappetitlichen Idioten, fand alle Gammler doof und wusste nicht, was wir hier verloren hatten. Was da geredet wurde, interessierte mich nicht. Als ich dann auch noch Julias glockenhelles Lachen hörte, in das ich mich so verliebt hatte, stand ich auf und ging.
Fips kam mit mir, Ebby war geblieben. »Die kommen sich wohl toll vor, bloß, weil sie nicht arbeiten«, fand ich, »und womit bezahlen sie ihren Rotwein?«
»Die schnorren halt«, meinte Fips achselzuckend.
Ich wollte natürlich nicht wie die Erwachsenen argumentieren und suchte nach schlagenden Argumenten, warum das nichts war für mich, aber meine bohrende Eifersucht ließ keinen klaren Gedanken zu.
Direkt am Englischen Garten wohnte in einem kleinen Reihenhaus mit Garten Franz Müller71, einer der Freunde von Heiner aus der Zeit der »Weißen Rose«. Ich mochte ihn von Anfang an, weil er zuhörte und selbst Fragen stellte, über die man nachdenken musste. Im Gegensatz zu Heiner erzählte er gerne aus der Zeit, in der sie gegen Hitler gekämpft hatten, was jedes Mal sehr spannend war.
Schon als es um die Proteste im letzten Jahr ging, hatte er eine andere Meinung als unsere Alten gehabt; er stritt sich oft mit Heiner über politische Dinge, freundschaftlich, aber hart. Ich wollte unbedingt wissen, was er von den Gammlern hielt und besuchte ihn einfach zusammen mit Fips. Da er freischaffend arbeitete, wie meine Mutter, war die Chance groß, ihn zuhause anzutreffen.
Tatsächlich öffnete er sofort, freute sich und lud ganz selbstverständlich auch Fips ein, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Dort saß er an einem Couchtisch und sortierte Schmuckstücke aus großen Kartons in bunte Döschen, Schächtelchen, Kästchen und Tütchen. Er handelte mit Schmuck und es war mir immer ein Rätsel gewesen, wie er davon leben konnte, weil meine Mutter dauernd klagte, wie schwer es sei, Geld zu verdienen; ich traute mich aber nicht, direkt zu fragen.
»Wir waren eben bei den Gammlern!«, berichtete ich, gespannt auf seine Reaktion.
»Und?«, fragte er nur und sortierte weiter seinen Schmuck.
Ratlos sah ich zu Fips.
»Weiß auch nicht«, sagte der.
Franz Müller lachte.
»Die kommen sich so toll vor«, sagte ich, immer noch beleidigt.
»Dabei haben sie gar keinen Grund dazu«, fand Fips, fingernägelkauend.
»Warum nicht?«, fragte Franz Müller, schmucksortierenderweise.
Ich sah Fips an.
»Sie sind schon irgendwie anders als normal«, räumte er ein, »aber –«
»– aber nicht richtig dagegen«, fügte ich hinzu.
Franz Müller sah zu uns hoch.
»Wogegen?«, fragte er.
»Na gegen den ganzen Mist, der bei uns läuft«, erklärte ich, »davon redet ihr doch selber die ganze Zeit, die alten Nazis und so weiter.«
»Der Stinkstiefel Adenauer«, brummte Fips.
Franz Müller lachte aus vollem Halse.
»Ja, und wie findest du die Gammler?«, fragte ich ungeduldig.
»Naja«, sagte er, »jeder kann machen, was er will, solange er niemandem zur Last fällt oder andere beeinträchtigt.«
»Findest du richtig oder falsch, was die machen?«, wollte ich wissen.
»Das kann man so allgemein nicht sagen«, antwortete Franz Müller, »jeder muss selber wissen, ob ihm das gefällt oder nicht, verboten ist es nicht.«
»Und gefällt dir das oder nicht?«, insistierte ich.
»Mein Fall ist es nicht«, sagte Franz Müller und sortierte weiter seinen Schmuck, »aber stören tut es mich auch nicht.«
Fips und ich sahen uns an.
»Weil«, gab ich zu bedenken, »die Krawalle letztes Jahr fandest du ja gut!«
»Das war etwas anderes«, sagte Franz Müller und zog einen weiteren Karton auf seinen Schoß.
»Was ist der Unterschied?«, fragte ich.
»Beides ist Protest«, bemerkte Fips.
»Der eine Protest ist aktiv, der andere passiv«, antwortete Franz Müller, stellte den Karton auf den Boden und sah uns an, »einfach nur nicht mitzumachen ändert nichts. Die jungen Leute letztes Jahr haben für ihre Rechte gekämpft und sind sogar teilweise dafür ins Gefängnis gegangen – und das hat vielen anderen klargemacht, dass sich in unserem Land etwas ändern muss.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Gammler tun einfach gar nichts, das ist uninteressant, dadurch ändert sich nichts.«
Es war klar, dass wir langsam gehen sollten, aber mir lag noch etwas anderes auf der Seele.
»Der Heiner hat mir gestern gezeigt, wie man Zwiebeln schneiden kann ohne sich zu verletzen«, wandte ich mich nochmal an ihn, obwohl wir schon standen, »und dabei hat er gesagt, dass er das im Kriegsgefangenenlager bei den Franzosen gelernt hat. Wieso war der denn im Lager, der war doch im Gefängnis, weil ihr gegen Hitler gekämpft habt? Der Heiner erzählt ja nie was!«
Franz Müller schüttelte lachend den Kopf. »Ja ja, der Heiner!«, seufzte er amüsiert, »isch hal a aldr Seggl72« Dann wurde er wieder ernst. »Der Freisler73«, erklärte er, »hat uns ja nicht zum Tod verurteilt, weil wir damals noch minderjährig waren. Dem Heiner konnte nur ›Mitwisserschaft‹ nachgewiesen waren, deshalb bekam er nur zwei Jahre Haft und wir anderen74 zweieinhalb, weil wir Flugblätter verteilt hatten. Das heißt, er kam schon raus, als Hitler noch an der Macht war. Dann haben sie ihn sofort zum Militär eingezogen, weil sie keine Leute mehr hatten, dann war der Krieg auch gleich zu Ende und er wurde in Uniform verhaftet.«
»Ja, aber warum hat er dann nicht gesagt, dass er im Widerstand gewesen war?«, fragte ich.
Franz Müller lachte. »Weil der Heiner nie was sagt, außerdem hätte er es ja nicht beweisen können.«
Wir standen schon in der Tür, als Franz Müller uns noch zum Abschied erzählte: »Ich bin dann in einem Jeep von den Amis durch die Lager gefahren und habe mit einem Megaphon überall nach Heiner gerufen; war nicht leicht, aber ich habe ihn gefunden. Da hat er dann auch nichts gesagt, aber als ich ihm die fette Salami gegeben habe, die ich für ihn dabeihatte, da hat er sich aber gefreut!«
An Weihnachten gab es bei uns eine Tradition, die noch mein Vater eingeführt hatte. Es wurden Menschen eingeladen, die alleine waren oder niemanden hatten, mit dem sie feiern konnten. Das gehöre zum Geist dieses Festes, hatte mein Vater gesagt.
In Ulm waren es die gesellschaftlich verfemten Homosexuellen gewesen, in München vor allem die jüdischen Freunde meiner Eltern, die am 24.12. zu uns kamen. Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat, danach saß man zusammen, trank etwas und redete. Trotz der verschiedenen Religionszugehörigkeiten wurde durchaus Weihnachten als Fest der Toleranz und Verständigung gewürdigt.
Hans Lamm75 war nicht nur an diesen Tagen ein gern gesehener Gast in unserem Haus. Er brachte mir ein Buch mit, in dem ein Artikel zu finden war, den er verfasst hatte; er handelte – passend zum Fest – von Religionsfreiheit. Vorne drin stand eine Widmung: »Für Christof Wackernagel, auf daß er 1964 nie mehr Bauchweh bekomme.«
Er lächelte stets etwas melancholisch, aber unverdrossen. »Es gibt sowieso nur einen Gott«, erklärte er mir, als er mir das Buch überreichte, »also ist es ihm egal, in welcher Form man zu ihm betet.« Das kratzte zwar ein wenig an der von mir gelernten Auffassung, dass eigentlich nur die katholische Religion zählte, war aber einleuchtend.
Der Titel des Buches stammte von Goethe:
»Das ist der Weisheit letzter Schluß. Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß. Ein Buch für junge Bürger«76, herausgegeben von Claus Schöndube77
Das war das Schlusszitat des letzten Beitrages in diesem Buch, einer Rede von John F. Kennedy, die er in der Paulskirche gehalten hatte und in der er an die Frankfurter Nationalversammlung 1948 erinnerte:
So ist die Saat der amerikanischen Revolution von 1776 schon vorher aus Europa herübergebracht worden und hat später in aller Welt Wurzeln geschlagen. Und auch die deutsche Revolution von 1848 sandte Ideen und Idealisten nach Amerika und anderen Ländern aus. […]
All dies sind in erster Linie große Menschheitsabenteuer. 78
John F. Kennedy
»Nichts bleibt, wie es ist«, erklärte Hans Lamm dazu, »wenn alles gut ist und man denkt, das sei sicher – hat man schon verloren.« Er lächelte milde. »Man muss immer kämpfen«, fuhr er fort, »sonst verliert man seine Seele.«
Seine Worte erregten mich sehr.
Revolution! Das war wie die Zusammenfassung der Botschaft dieses Buches!
Ich wusste, dass Hans Lamm unter der Naziverfolgung gelitten hatte und fand es toll, dass er – im Gegensatz zu Onkel Otto – trotzdem wieder nach Deutschland gekommen war. Dieser Mann wusste, wovon er sprach, und ich hatte das Glück, ihm zuhören zu dürfen:
»Glaube nie jemandem, der vorgibt, ›die Wahrheit‹ zu kennen. Überprüfe alles. Glaube auch mir nicht.«
Ich verschlang das Buch:
Am Ende des ersten Beitrages, der sich mit dem Begriff »Freiheit« beschäftigte, stand:
Freiheit ist die Unruhe, die die Uhr der Menschheit in Gang hält. 79
Und in Umkehrung der Devise, die die staatlichen Autoritäten ausgaben:
Unruhe ist die erste Bügerpflicht! 80
Hans Lamm schrieb in seinem Beitrag:
Als Jude steht es mir nicht zu, den Christen mehr christliche Bruderliebe anzuempfehlen. Aber als Mensch darf ich den Mitmenschen den altgriechischen Ausspruch »Nicht mitzuhassen – mitzulieben bin ich da« zurufen; er sollte uns alle, Christen und Nicht-Christen zu einer mitmenschlichen, sich alltäglich bewährenden Brüderlichkeit der Tat vereinen. 81
»… der Tat«, darum ging es, das wurde immer klarer. Vor allem eines lernte ich und schwor mir, dass ich es den Rest meines Lebens nie mehr vergessen dürfte:
Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht. 82
Marie von Ebner-Eschenbach
Auf der Seite der Schwachen musste man sein. Den Schwachen helfen.
Hier in Deutschland lebte die Idee der Freiheit ungebrochen, sie lebte in Abertausenden von Zellen, aber sie lebte. Einen Stock tiefer in den tragischen Polizeikellern unseres Landes schlugen Zehntausende von Herzen im Largo des Leides. […] Und hier, nicht im sonnenüberglänzten Wutalltag des Nazireichs, hier unten offenbarte sich die Schönheit menschlicher Grösse, die schweigende Kameradschaft der Hingegebenen, der Bruderschaft des noblen Elends, das gefangene Heer der Freiheit. 83
Günter Weisenborn
In diesem Buch fand ich Wahrheiten, die mich, im Gegensatz dem dem, was mir in der Schule versucht wurde einzutrichtern, unmittelbar und felsenfest überzeugten:
Freiheit kann nur Freiheit für alle sein, alle Menschen und alle Völker. 84
Salvador de Madariaga
Deswegen war der Nationalsozialismus solch eine Katastrophe: weil er nur für eine Nation das Beste wollte, nicht für alle Menschen!
Als deutscher Staatsbürger, als deutscher Hochschullehrer und als politischer Mensch erachte ich es als Recht nicht nur, sondern als sittliche Pflicht, an der Gestaltung der deutschen Geschicke mitzuarbeiten, offenkundige Schäden aufzudecken und zu bekämpfen. 85
Professor Kurt Huber, Mitglied der Weißen Rose
Für die Freiheit […] kann und soll man das Leben wagen. 86
Cervantes
… für eine Welt der Gerechtigkeit. 87
John F. Kennedy
Und ich »junger Bürger«, für den dieses Buch herausgegeben worden war, verstand: Es war nicht nur mein Recht, sondern meine sittliche Pflicht, für Freiheit und eine Welt der Gerechtigkeit zu kämpfen und eventuell sogar mein Leben zu wagen.