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1965

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Der Circus Krone hatte seinen Hauptsitz in München, ein sozusagen steinernes Zirkuszelt, das als Winterquartier diente. Es lag im Zentrum der Stadt in der Nähe des Hauptbahnhofs und im Sommer fanden dort kulturelle und politische Veranstaltungen statt. Dreitausend Menschen passten hinein, das hieß, was dort stattfand, war Stadtgespräch.

Für den Mai waren dort die Rolling Stones angekündigt. Ihr neuestes Lied »I can’t get no satisfaction« war gerade herausgekommen und in aller Munde beziehungsweise in aller Ohren. Ich fand den Song gut, vor allem aber seine Botschaft sprach mir aus tiefstem Herzen: Alles, wirklich alles, was diese Welt zu bieten hatte, war unbefriedigend.

Fips bevorzugte die Richtung der »Protestsongs«, also Musiker wie Bob Dylan, der mit »Blowin’ in the wind« das Leben eher philosophisch in Frage stellte oder Donovan, der mit seinem Song »Universal soldier« direkt die Politik beziehungsweise die Politiker angriff – ich fand die zu schmalzig. Ebby, der sowieso der Lässigste war und über allem stand, weil er schon Zigaretten rauchte, stimmte mir in dieser Beziehung zu, fand aber wiederum die Stones zu primitiv und bevorzugte die Beatles, die ich meinerseits als angepasst verurteilte.

Julia legte sich in dieser Hinsicht nicht fest, fand aber die Idee attraktiv, zusammen mit mir zu den Stones zu gehen. Also bearbeiteten wir unsere Eltern so lange, bis sie das Geld für die Eintittskarten herausrückten, die für unsere Verhältnisse unvorstellbar teuer waren. Ich fuhr extra in die Innenstadt, um am Schalter des Circus Krone die Karte zu erstehen.

Endlich war es so weit. Wir hatten einen seitlichen Logenplatz der rund um die Bühne gebauten, steil ansteigenden Sitzreihen, sodass wir die Bands zwar nur im Profil sehen konnten, dafür aber ganz aus der Nähe. Unsere Geduld wurde unendlich strapaziert – der Aufbau und die Einstellung der Verstärker wollte und wollte kein Ende nehmen.

Schließlich kam ein junger Mann in einer Arbeits-Latzhose auf die Bühne und das Publikum jubelte auf. Es war aber keiner von den Stones, sondern Eric Burdon – wie Julia wusste – von einer der Vorbands, den Animals, deren Name mir sympathisch war und mich an Hötzl erinnerte. Es wurde sofort deutlich, dass er mehr Ahnung von der ganzen Technik hatte als all die Schlamper, die bis dahin unsere Zeit gestohlen hatten – er nahm die ganze Sache in die Hand und zehn Minuten später begann tatsächlich die erste Gruppe zu spielen.

Bis dahin hatte ich nur davon gehört, dass es bei derartigen Konzerten ungebührlich laut und undiszipliniert zugehen solle, worüber sich die Spießer aller Welt mit Schaum vor dem Mund aufregten. Mehr noch bei den Beatles, aber auch bei den Stones, fielen angeblich vor allem Mädchen und junge Frauen vor Begeisterung reihenweise in Ohnmacht – so wild war es in Wirklichkeit nun auch wieder nicht, aber das Geschrei doch ziemlich laut; da wir so nah an der Bühne saßen, konnten wir noch alles gut hören. Ich selbst war mir zu fein, aufzuspringen und rumzugrölen, Julia sowieso.

Als die Animals spielten, die letzte Gruppe vor der Pause, nach der die Stones kamen, spürte ich freilich doch ein gewisses Zucken und Bedürfnis, meiner Begeisterung lautstark Ausdruck zu geben, riss mich aber zusammen, um mich vor Julia nicht zu blamieren. Doch während der qualvoll lange erwartete Augenblick tatsächlich Wirklichkeit wurde und erst Charlie Watts durch den Vorhang aus den Garderoben schlüpfte und sich stoischen Blickes hinter sein Schlagzeug zwängte, dann der Blondschopf Brian Jones lächelnd zu seiner Gitarre federte, die neben seinem Mikrofonständer auf ihn wartete, brauste ein derartiger Jubel auf, dass es mich nicht mehr auf dem Sitz hielt und ich wie alle anderen auch aufspringen musste! Und als zuletzt Mick Jagger lässig auf die Bühne schlenderte, brach ein Tosen und Toben aus, wie ich es mein Lebtag noch nicht erfahren hatte – ich vergaß alles, was ich mir vorgenommen hatte, verlor jegliche Kontrolle über mich, fuchtelte wild mit meinen Armen in der Luft herum und schrie mir die Kehle heiser, völlig außer Rand und Band.

Auch die sonst so zurückhaltende Julia kannte nichts und niemanden mehr, schrie, hüpfte und tanzte zur Musik und strahlte mich glücklich an. Zum Glück saßen wir so nah an der Bühne, dass wir überhaupt noch ein wenig von der Musik hören konnten – der Jubel war im unmittelbaren Sinne des Wortes Ohren betäubend. Aber als dann der alles übertreffende Höhepunkt, dem gegenüber das Vorherige nur laues Vorspiel schien, Wirklichkeit geworden war, nämlich als Mick Jagger »I can’t get no« anstimmte, steigerte sich, so unvorstellbar es sein mochte, der Krach- und Jubel-Pegel ein weiteres Mal und wir konnten tatsächlich, trotz unserer Nähe zum Podium, fast nichts mehr hören – nur sehen, wie Mick Jagger sich wie eine Schlange um den Mikrofonständer wand und das Mikro zu verschlingen schien.

Nur langsam kehrten nach dem Ende ein ruhigerer Herzschlag und der Verstand wieder. Ich sah Rot-Kreuz-Helfer mit Bahren sich durch das hinausströmende Publikum zwängen. Ein wenig fühlte ich mich wie früher, als ich noch in die Messe gegangen war und hinterher erleichtert und geläutert herauskam.

Von nun an besuchte ich jedes Konzert, für das ich eine Karte bekam oder das ich mir leisten konnte. Als es bei den German Bonds einmal nicht klappte, versuchte ich, durch das Klofenster einzusteigen, vom Fieber der nach draußen dringenden Musik und dem Jubel der Zuschauer beflügelt, aber ich blieb stecken und kam nur noch schwer wieder heraus. Doch die Befriedigung war nie wieder so groß wie nach »I can’t get no satisfaction«.

Dafür ergatterte ich mir bei einem Konzert der Beach Boys, die zwar langweilige und kitschige Musik machten, aber Angelika, meiner Schulkameradin, gefielen, meinen ersten Kuss – ganz hinten in der letzten Reihe der Empore, während die Beach Boys »good, good, good vibrations« schmalzten.

In diesem Sommer gingen wir, also Fips, Ebby und ich, nach der Schule bei gutem Wetter immer erst ins Eiscafé Rialto und dann an den Eisbach, der am Rande des Englischen Gartens entlangfloss. Wir hatten eine vom Weg kaum einsehbare Stelle gefunden, an der wir ungestört sitzen, quatschen oder auch baden konnten. Fips und ich aßen Eis, Ebby rauchte.

Ebby konnte kreisrunde Kringel aus Zigarettenrauch ausblasen. Er hatte gerade, den Kopf weit zurückgelehnt, drei perfekte ausgetoßen, da sagte er: »Dieses ganze Demokratiegesäusel von Weinzierl, Hötzl und Konsorten schmeckt mir nicht.«

Fips kicherte: »Lass sie doch, sie können nicht anders!«

»Ebby hat recht«, entgegnete ich, »das waren doch nur ein paar Hanseln, die sich da auf der Agora wichtig gemacht hatten, Faulenzer und Ausbeuter, die von der Knochenarbeit ihrer Sklaven lebten, was hat das mit ›Herrschaft des Volkes‹ zu tun? Gehörten die Sklaven nicht zum Volk? Sind doch auch Menschen?!«

Fips beugte sich über den Bach, tauchte seine vom Eis klebrigen Hände ein, spülte sie und wusch sich Mund und Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf: »Du immer gleich!«

»Immerhin ham sie’s erfunden«, gab Ebby zu bedenken und sandte drei weitere Kringel aus.

»Aller Anfang ist schwer«, sagte Fips und knabberte an seinen Fingernägeln.

Der Bach rauschte wild.

»Verlogen ist es trotzdem irgendwie«, fand Ebby, »andererseits.«

»Es stimmt einfach nicht«, beharrte ich, »wenn nicht alle davon was haben.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, meinte Fips.

»Wie lange wollen wir denn noch warten?«, rief ich, »ist doch heute nicht anders als damals, allenfalls äußerlich und pro forma. Wie viele Menschen bestimmen denn wirklich die Politik?« Ich schüttelte den Kopf: »Und in den meisten anderen Ländern erst recht schon gleich gar nicht!«

»Du wirst noch platzten mit deiner Ungeduld«, sagte Fips kichernd und watete ein paar Schritte in den Eisbach.

Ebby lachte meckernd und drückte seine Zigarette aus.

»›Die Politiker sind die Diener des Volkes‹«, schimpfte ich. »Guck sie dir doch an, Strauß und Konsorten, ein einziger Selbstbedienungsladen. Sie bedienen sich am Volk, das ist alles.«

Ebby streckte sich: »Alles ist einerseits, andererseits, es gibt schon auch Ausnahmen, Wehner102 zum Beispiel!«

»Okay«, wandte ich ein, »unser Bürgermeister103 meinetwegen, fährt morgens mit der Straßenbahn ins Rathaus und nicht mit dem Dienstmercedes, arbeitet dabei sogar schon in seinen Akten, das ist ein Diener des Volkes.«

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, kicherte Fips.

»Danke«, sagte ich und watete ins Flüsschen.

An einem sonnigen Sonntagmittag klingelte es an der Haustür. Wir waren gerade erst aufgestanden, weil in der Nacht zuvor eine rauschende Party zum Geburtstag meiner Mutter stattgefunden hatte; überall standen prächtige Blumensträuße, die von den Reflexionen der durch die vollverglaste Wohnzimmerfront einfallenden Sonnenstrahlen rot-gelb-blau-violett-grün glitzerten – als ob ein Regenbogenartiger Schimmer das ganze Haus erstrahlen ließ. Meine Mutter zog sich schnell einen Morgenmantel an und versuchte, ihre zerstrubbelten Haare einigermaßen zurechtzuschieben, während ich die Treppe herunter hastete, sodass wir zusammen öffneten.

Vor der Tür stand ein Kollege104 meiner Mutter vom Bayrischen Rundfunk, wo sie inzwischen freiberuflich arbeitete, einen riesigen Blumenstrauß in der Hand. Ein blond-blauäugiger Hüne, der Inbegriff des Vollblutariers, dem eine goldene Locke affektiert auf seine Stirn fiel, sein Markenzeichen. Er war schon öfters zum Kaffeetrinken dagewesen, verehrte meine Mutter, was nicht unbedingt von ihr erwidert wurde, redete – leicht lispelnd – so gewählt wie gestelzt und hatte stets etwas schmachtend Leidendes an sich.

»Verehrteste!«, begrüßte er meine Mutter, »welch ein Glückstag für uns alle, dass Sie außerordentliche Frau geboren wurden!« – und überreichte ihr den Blumenstrauß.

»Ach, das ist ja reizend von Ihnen«, bedankte sich meine Mutter, ihre Verlegenheit nur mühsam verbergend, »kommen Sie doch rein!« Sie trat etwas zurück und wies mit ihrer freien Hand in den Gang.

Da entdeckte er, dass das ganze Haus voller Blumen war, also eine Party stattgefunden hatte – zu der er nicht eingeladen gewesen war.

Sein Blick vereiste.

Ich rannte kichernd die Treppe hoch, um Sabine zu berichten. Wir amüsierten uns köstlich über diesen »blasierten Germanen« und kosteten mit Schadenfreude die peinliche Situation für meine Mutter105 aus, obwohl sie ja recht gehabt hatte, ihn nicht einzuladen.

Dabei war er nicht der Einzige, über den wir uns gerne lustig machten.

Eines unserer Lieblingsopfer, über die wir uns heimlich mokierten, war Ulrich Sonnemann106. Der war zwar wirklich sehr nett und hatte auch immer ein Späßchen für uns Kinder auf Lager – und ein wohlgesetztes Kompliment für meine heranblühende Sabine! –, aber er war Philosophieprofessor und trug das wie einen Rettungsring-großen Heiligenschein mit und um sich herum.

Die jährliche Sommerparty fand immer im Garten statt, das Buffet war in der Doppelgarage aufgebaut, am Schwimmbad war der Filterdurchlauf angestellt, was hieß, dass aus einem Rohr mit vielen kleinen Löchern am unteren Ende des Pools Wasser wie ein kleiner Springbrunnen sprühte, das abgesaugt und durch den Filter gereinigt wieder herausgesprüht wurde; zu später Stunde sprangen die Gäste mehr oder weniger bekleidet dort hinein.

Sonnemann stand nachmittags zu Beginn der Party neben dem rauschenden Wasser, die Pfeife in der Hand und dozierte – wegen des lauten Rauschens mussten seine Zuhörer sich nah zum ihm hinbeugen.

»Das macht der extra«, sagte ich zu Sabine, »damit sie sich quasi vor ihn hinknien müssen!« Sabine prustete. Seit er ihre Schönheit hochgelobt hatte, lästerte sie sparsamer.

Aber später am Abend, als es schon dunkel war und die Gäste sich in kleinen Gruppen unter der Holzveranda, im chinesischen Holzhäuschen hinter dem Haus oder um den tiefergelegten Grillplatz neben dem Schwimmbad versammelt hatten, kam sie plötzlich kichernd in mein Zimmer, wo ich es vorzog, die neue Schallplatte der Beatles zu hören, und sagte: »Das musst du sehen!« Gespannt folgte ich ihr. Wir schlichen über die Außentreppe vor der Küche herunter in den Garten bis zur Schiebetür, die zur Veranda führte. Leise öffnete Sabine einen Spalt und wir lugten hindurch:

In der hinteren Ecke der Veranda saß Pfeife schmauchend der Professor107, das Licht der über ihm hängenden japanischen Papierlampe blinkte aus den Gläsern seiner übergroßen schwarzen Hornbrille, und verkündete milde lächelnd der Weisheit letzten Schluss. Andächtig und ergriffen lauschend saß ein Kreis von Gästen um ihn herum, ernsten Blickes seine funkelnden Geistesblitze bedenkend. Die Heiligkeit dieses Moments triefte mit bedeutungsschweren Tropfen aus allen Poren.

Sabine zog vorsichtig die Tür zu, damit Sonnemann und seine Jünger unser Kichern nicht hören konnten.

RAF oder Hollywood

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