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1964

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Heinz Höfl war Journalist bei der »Süddeutschen Zeitung« und regelmäßiger Gast in unserem Hause. Ich mochte ihn gerne, denn er sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen. Er war zehn Jahre jünger als die Alten, hatte aber den Krieg noch als Kind mitbekommen und wog immer ab, wenn wir zum Beispiel über politische Dinge sprachen: »Natürlich ist Adenauer eine Witzfigur, aber er kann nichts dafür!« Alles, was wir heute hätten, sei »auf jeden Fall viel, viel besser als bei Hitler«.

»Aber lange nicht gut genug«, erwiderte ich, als wir einen unserer langen Spaziergänge machten, zu denen er sich die Zeit nahm, um mit mir ausführlich über alles diskutieren zu können. »Es ist doch alles so ungerecht!«

»Das stimmt«, gestand er mir zu, »aber die meisten Menschen sehen das nicht. Sie werden es aber erst ändern, wenn sie es sehen.«

»Aber warum sehen sie es nicht«, entgegnete ich, »es ist doch ganz offensichtlich, ich kann es doch auch sehen, der Pfarrer sagt es in der Predigt, ihr schreibt es in den Zeitungen – jeder weiß es!«

Heinz Höfl lächelte.

Wir liefen durch die »Parkstadt«, an der ich auf meinem Schulweg nach Schwabing immer vorbeifuhr und von der ich gedacht hatte, dass dort nur Parkhäuser für Autos seien – dabei war damit gemeint, dass zwischen den Hochhäusern viele Wiesen lagen und Bäume gepflanzt waren. Die Häuser waren hässlich und wirkten eher wie Parkhäuser für Menschen. In einem von ihnen wohnte er mit seiner Freundin Lisl.

»Sie wollen es nicht sehen«, meinte Heinz Höfl schließlich, »weil es ihnen so gut geht. Aber wenn sie das Elend der anderen sähen, dann könnten sie ihren Luxus nicht so genießen.«

»Ja, aber das ist doch keine Begründung!«, rief ich. »Das ist doch eine Sauerei, dazu haben sie nicht das Recht!«

»Das mag schon sein«, räumte Heinz Höfl ein, »aber das ändert nichts an den Tatsachen.«

Inzwischen waren wir an seinem »Menschenparkhaus« angelangt und fuhren mit dem Aufzug hoch in den zwölften Stock.

Seine Freundin Lisl öffnete uns die Tür, eine unglaublich nette, stark bayrisch redende Frau; auch Heinz war ein Urbayer und sagte immer, er könne sich nie vorstellen, von München wegzugehen.

Lisl hatte Kaffee und Kuchen vorbereitet und bat uns zu Tisch.

»Wieso seid ihr eigentlich nicht verheiratet?«, fragte ich die beiden endlich, denn das interessierte mich schon lange brennend.

Sie sahen sich an und lächelten.

»Wenn man heiratet, ist es aus«, sagte Lisl schließlich lachend, »dann wird es langweilig.«

Heinz lachte, doch dann wurde er ernst: »Ich kämpfe jeden Tag um die Liebe dieser Frau.«

Sie errötete.

»Das muss so sein«, fügte Heinz hinzu, »sonst stirbt die Liebe ab.«

Lisl nickte.

Da fiel mir etwas ein und ich zitierte Goethe: »Nur der verdient sich Freiheit wie die Liebe, der täglich sie erobern muss!«

Die beiden lachten begeistert und applaudierten: »Bravo! Besser kann man es nicht ausdrücken – du hast haargenau verstanden, worum es geht!«

»Es gibt nichts Schlimmeres«, setzte Heinz Höfl hinzu, »als sich eines anderen Menschen ›sicher‹ zu sein. Und das gilt in besonders hohem Maße, wenn es sich um einen geliebten Menschen handelt.«

»Sicherheit ist tödlich«, sagte Lisl und holte frischen Kaffee.

Heinz Höfl wischte sich den Mund von den Kuchenkrümeln ab. »Vor allem die, die ›ganz sicher wissen‹, was richtig oder falsch ist, sind die Schlimmsten.«

Lisl war mit dem frischen Kaffee zurückgekommen, goss uns ein und fügte spöttisch lächelnd hinzu: »Oder die, die den ›Sinn des Lebens‹ kennen.«

»Der Sinn des Lebens ist, die Welt besser zu machen«, sagte ich, »da gibt es doch überhaupt keinen Zweifel88.«

»Zu versuchen, die Welt besser zu machen«, entgegnete Heinz, »ist eine Selbstverständlichkeit, da braucht’s keinen ›Sinn‹ dazu.«

»Das gehört sich einfach so«, bestätigte Lisl.

»Hast du schon mal einen Roman von Albert Camus gelesen?«, fragte Heinz Höfl.

»Nein«, antwortete ich, »aber ich glaube, die Alten haben was von ihm.«

»Lies doch mal ›Der Fremde‹«, schlug Heinz Höfl vor. »Dann unterhalten wir uns nochmal über den ›Sinn des Lebens‹.«

Zuhause fand ich mehrere Bücher von Albert Camus. Ich begann zu lesen.

Der bayrische Kultusminister hatte eine bahnbrechende Entscheidung gefällt: Es wurden gemischte Klassen eingeführt. Auch bei uns sollten bald Mädchen in die Klassen kommen, wir konnten es kaum erwarten. Aber die Lehrer dämpften uns: Wer sich nur das Geringste gegenüber den Mädchen zuschulden kommen lassen würde, fliege sofort von der Schule.

Eines Tages war es endlich so weit:

Unsere Lateinlehrerin Weinzierl – immer noch dieselbe – kam zum Unterricht in Begleitung eines schönen jungen Mädchens mit langen dunkelblonden Haaren. Sie hieß Angelika Müller, war bisher im Odenwald-Internat gewesen und nun nach München gezogen, weil ihre Mutter eine Stelle als Sängerin an der Staatsoper gefunden hatte. Da ich in der ersten Reihe saß und der Platz neben mir frei war, wurde sie89 neben mich gesetzt.

Ab der dritten Klasse lernten wir Griechisch. Der Lehrer hieß Hötzl, war klein, trug stets graue, schlabbrige Kordhosen und hatte ziemlich lange graue Haare, die ihm oft unkontrolliert in die Stirn fielen. Wenn er in ausholenden Schritten auf dem Gang zum Klassenzimmer wanderte, schwenkte er seine Aktentasche weit aus, als ob er ruderte. Er war streng, aber keiner nahm ihn so richtig ernst, weil er einen Tatterich hatte. Wenn er an die Tafel schrieb, musste er die Kreide sehr fest aufdrücken, damit die Buchstaben nicht zu verzackt aussahen, was aber dazu führte, dass es immer wieder laut quietschte. Wenn jemand deswegen lachte, wurde er fuchsteufelswild, fuhr, die Schreibhand fest auf die Tafel gedrückt lassend, herum und brüllte: »Ruhe!« Ich musste nicht lachen, denn er tat mir leid; ich spürte, dass er traurig war, und litt mit ihm – aber es ließ sich nicht ändern.

Im Pausenhof erzählte eines Tages ein Junge aus einer höheren Klasse, woher Hötzl den Tatterich hatte.

»Der war beim Russlandfeldzug dabei«, wusste der ältere Junge ganz wichtig. »Da hätt’s ihn beinah derwischt«, fuhr er fort, »der kann froh sein, dass er noch lebt!« Die Spannung stieg. Andere aus unserer Klasse, die spürten, dass gerade etwas Bedeutendes verhandelt wurde, kamen hinzu, sodass sich ein dichter Halbkreis um den älteren Schüler bildete.

»Und zwar war des so«, erklärte dieser, »der Hötzl war im Schützengraben am Maschinengewehr. Damit sollte er eigentlich die vorrückenden Russen abknallen, damit es bei uns keinen Kommunismus gibt.«

»Der Hitler war aber viel schlimmer als der Kommunismus«, gab ich zu bedenken.

»Sei staad«90, kanzelte mich der ältere Junge ab und fuhr fort: »Die Russen sind aber nicht gelaufen, sondern mit massenhaft Panzern angerollt gekommen und gegen die konnten unsere Soldaten nix machen mit ihren Maschinengewehren.« Er legte eine weihevolle Kunstpause ein und wir hingen alle an seinen Lippen. »Und so kamen sie näher und näher und schossen aus allen Rohren – schon da hätt’s den Hötzl derwischen können. Aber weglaufen konnt er ja auch nicht – da hättns ihn sauber weggschossn. Und jetzt kommt’s!« Der Junge kniff seine Lippen zusammen und nickte. »Da ist dann ein Panzer genau über den Hötzl im Schützengraben drübergefahren – der Hötzl hat sich total geduckt, damit er nicht derquetscht wird – aber dann ist er genau über dem Hötzl stehenblieben!«

»Und dann hams ihn rausgeholt und gefangen?«, fragte ein Junge atemlos.

»Naa, ganz anders«, berichtete der ältere Junge, »des is nämlich so mit den Panzern: Die haben unten einen dicken großen runden Stempel, den sie mit einer hydraulischen Pumpe hochfahren können, damit sie sich auf der Stelle drehen können und ihre Granaten 360 Grad überallhin schießen können. Des wusste natürlich der Hötzl und der lag ja genau drunter.«

Wir alle erschauderten bei dieser Vorstellung.

»Wahrscheinlich hat er schon dreimal das Kreuz geschlagen, weil er gedacht hat ’s ist aus.«

Grauenhaft, einfach furchtbar, so genau hatte ich noch nie gehört, was Krieg eigentlich war.

»Des muss ewig lang so ’gangen sein«, schloss der Junge seinen Bericht, »da is der Hötzl wahrscheinlich schier verrückt worn – aber dann ist der Panzer weiter gfahrn – sonst hätten wir ja unsern Hötzl nicht – und er hat dann nicht mehr aufhörn können zu zittern.«

Nachdenklich zerstreute sich die Gruppe wieder.

Meine Achtung vor Hötzl war durch diese Geschichte gestiegen. Inzwischen hatten wir schon drei Mädchen in der Klasse und Hötzl legte besonderen Wert darauf, dass wir ihnen mit Respekt begegneten – er vermittelte das mit einem Ernst, der nicht die geringste Ahnung eines Widerspruchs aufkommen ließ. Ein Mann, der auf diese Weise gelernt hatte, was es überhaupt bedeutete zu leben, wusste auch, wie man mit dem Leben umzugehen hatte.

Und so war er dazu prädestiniert und verstand es, uns nicht nur die altgriechische Sprache beizubringen, sondern auch die ethischen, politischen und moralischen Werte der griechischen Kultur.

»Der Mensch ist ein ›zoon politicon‹ – ein politisches Tier«, erklärte er eindringlich, leicht vornübergebeugt auf seinem kleinen Podest neben dem Schreibtisch stehend, ein wenig weiß eingestäubt von durch den heftigen Druck abgesplitterten Kreidebröseln. »Herrschaften, eines dürft ihr nie vergessen: Wir sind Tiere, in erster Linie und vor allem Tiere91.« Kurz wartete er ab, ob sich Protest oder Widerspruch regen würde, dann lächelte er: »Das hättet ihr jetzt nicht gedacht, dass ich das sage, was?«

Er nickte in sich hinein, drehte sich wieder um und ging zur Tafel. Zitternd und quietschend schrieb er auf Altgriechisch das Wort

ДЕМОКРАТІА

darauf.

Dann wandte sich wieder uns Schülern zu und brüllte uns regelrecht an: »Wozu brauchen wir denn diesen ganzen hochgestochenen Quatsch, meine Damen und Herren?!« Wieder wartete er ab, ob es eine Reaktion gebe, aber niemand wagte etwas zu sagen. »Weil«, rief er, rot im Gesicht, beide Hände hochhebend und Spucketröpfchen spritzend, »das Tier in uns gebändigt werden muss, weil es Chaos, Mord und Totschlag, Krieg und Vernichtung gäbe, wenn wir uns nicht an diese untersten, niedrigsten, minimalsten Spielregeln halten würden! Fressen und gefressen werden – nichts anderes gäbe es auf dieser Welt ohne die Demokratie!«

Die Klasse war mucksmäuschenstill.

Hötzl musste erstmal Luft holen, ging zurück zu seinem Schreibtisch und setzte sich. »Ja ja«, sagte er und amüsierte sich befriedigt über unsere Betroffenheit. Dann hob er seinen Zeigefinger und schwenkte ihn zitternd: »Vergesst das nie, was ich euch gesagt habe, Herrschaften, denn ihr werdet es bitter nötig haben in eurem zukünftigen Leben.«

Erschöpft schloss er die Augen, zog zitternd umständlich ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich damit den Schweiß von der Stirn und sagte mit bebender Stimme leise, nachdenklich, fast demütig: »Ihr werdet als Unternehmer, Wissenschaftler oder Politiker dieses Land in die Zukunft führen. Ihr seid die zukünftige Elite dieses Landes!« Dann überkreuzte er seine Arme, legte sie auf den Schreibtisch, beugte sich weit vor und sagte so zitternd wie eindringlich: »Damit liegt eine große, ja, ungeheure Verantwortung auf euren jungen Schultern, meine sehr verehrten Damen und Herren!«

Als könnten die in den Sommerhimmel gezeichneten vertrauten Wege genauso gut ins Gefängnis wie in vertrauten Schlaf führen. 92

Ich entdeckte in mir süße Unterdrücker-Träume. Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war.

Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach solch einer Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen. 93

Doch von dem Augenblick an, da das Christentum am Ende seines Triumphs die Kritik der Vernunft wurde, wurde in gleichem Maß, wie die Göttlichkeit Christi geleugnet wurde, der Schmerz aufs Neue zum Los der Menschen. Der betrogene Christus ist nur ein Unschuldiger mehr, den die Vertreter des Gottes Abrahams in öffentlicher Schaustellung hingerichtet haben. Der Abgrund, der den Herrn vom Sklaven trennt, öffnet sich von Neuem, und die Revolte brüllt wieder vor dem versteinerten Gesicht eines eifersüchtigen Gottes. 94

Ich wusste nicht mehr, wie mir war.

Gott war eine Lüge.

Die Religion war Betrug.

Das Christentum war Verrat an den Ideen Christi.

Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass ich vor Kurzem noch Papst hatte werden wollen, um »die Welt zu retten«.

Die heiligen Hallen Roms, die vorher so beschützend und Geborgenheit vermittelnd auf mich gewirkt hatten, waren nun bedrohlich, klein machend, Ablenkungsmanöver. Wie konnte mein angebeteter Vater, der mich so sanft und Vertrauen erweckend in den Vatikan eingeführt hatte, das nicht erkennen? Meine Großmutter, die auf Knien nach Lourdes gekrochen war, weil sie glaubte, dass Gott dann ihre Krebskrankheit heilen werde – natürlich war das alles nur Blendung.

Tagelang konnte ich mit niemandem über das reden, was diese Lektüre in meinem Denken ausgelöst hatte.

Ich verstand es selbst nicht.

Es gab nichts mehr, an dem ich mich festhalten konnte.

Landgeräusche stiegen zu mir herauf. Gerüche nach Nacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich wie eine Flut. In dem Moment und an der Grenze der Nacht haben Sirenen geheult. Sie kündigten Abreisen in eine Welt an, die mir jetzt für immer gleichgültig war. 95

Ich empfand Abscheu davor, wieder in die Kirche zu gehen.96

Ich fiel in ein tiefes schwarzes, bodenloses Loch.

Aber dass alles sinnlos sein sollte, war ich nicht bereit hinzunehmen.

Mit einem Mitschüler, Dominik, dem Sohn des Schauspielers Robert Graf97, den ich bewunderte und den Dominik, ähnlich wie ich meinen Vater, früh verloren hatte, gründete ich mit drei weiteren eine Theatergruppe. Regelmäßig gingen wir ins Residenztheater oder in die Münchner Kammerspiele. Wir bereiteten uns auf die Stücke vor, indem wir sie zusammen lasen und darüber sprachen – hinterher gingen wir noch etwas trinken und machten Kritik.

Nach einer Vorstellung, in der die Schauspielerin Kathrin Ackermann98 mitgespielt hatte, die eine Nachbarin von uns war und oft meine Eltern besuchte, gingen wir zum Bühneneingang und baten darum, in die Garderoben gelassen zu werden, um Autogramme zu bekommen. Dank Dominik als Sohn von Robert Graf gelang uns das spielend und die schöne Kathrin Ackermann war überrascht, mich dort zu sehen. Ich lobte ihr Spiel über den Daumen und schmeichelte ihr in den höchsten Tönen – sie lächelte amüsiert und merkte genau, dass ich in sie verknallt war.

Aber die ernüchternde Realität hinter den Kulissen, die Schauspieler ohne Kostüm und Maske, die abgewetzten engen Gänge, die muffigen Garderoben, die wie Zellen wirkten, das zynische, hochnäsige Gerede der aufgedreht müden Akteure, das Sein hinter dem Schein bestätigte mich einmal mehr, dass dies nicht meine Welt war.

Man musste das alles anders machen. Dominik und ich schrieben ein eigenes Stück! Er inszenierte, aber wir wollten alle mitreden, was er wiederum nicht gut fand.

»Eine Inszenierung muss eine erkennbare Handschrift haben«, dozierte er, die Arme auf dem Rücken verschränkt, nervös im Wohnzimmer der Villa seiner Eltern auf- und ablaufend, »wenn da jeder mitmischt, gibt es nur langweiligen Brei.«

»Aber das ist doch dann genau das Gleiche wie in den Kammerspielen«, gab ich zu bedenken, »wir wollen doch mal was Neues probieren.«

»Aber wir diskutieren doch alles bis zum Gehtnichtmehr!«, rief Dominik verzweifelt. »Wer soll denn entscheiden, was am Ende gilt?!«

Es wurde uns schnell klar, dass wir niemals auf einen Nenner kommen würden, obwohl wir nur fünf Leute waren. Wir zerstritten uns nicht – wir resignierten. Die Gruppe löste sich nicht auf – sie zerfiel.99

Professor Haber100 machte im Bayrischen Rundfunk wissenschaftliche Sendungen für Kinder und Jugendliche. Eine der wenigen Sendungen, die wir Kinder sehen durften, zumal meine Mutter ihn kannte. Von ihm lernte ich, dass die Sonne eines Tages verglühen und dann die Menschheit aussterben werde.

Ich konnte es nicht glauben, aber alle, ganz gleich ob Chemie- oder Religionslehrer, bestätigten das.

Also doch alles sinnlos?

Auf jeden Fall war klar, wozu die Menschen die Lüge vom Paradies brauchten, wenn eh alles ungerecht war und dann auch noch so zu Ende gehen sollte.

In der nächsten Sendung erklärte Professor Haber die Bedeutung und Funktion von Wasser101. Er lächelte stets ein wenig, sprach deutlich und langsam:

»Wasser ist Leben. Ein Mensch kann einige Wochen ohne Essen leben, aber nur einige Tage ohne Wasser. Der Mensch selbst besteht zu siebzig Prozent aus Wasser.«

Er zeigte Grafiken, Tabellen und Statistiken, einfach, überschaubar, klar verständlich.

Wasser, vor allem Trinkwasser, war überhaupt nicht das Selbstverständlichste auf der Welt, für das ich es gehalten hatte.

Dass Trinkwasser aus dem Wasserhahn kam, war »eine der größten und wichtigsten Errungenschaften der Menschheit«, erklärte Professor Haber freundlich lächelnd, eindringlich und glaubhaft.

»Täglich sterben unzählige Menschen auf der Welt«, fuhr der Fernsehprofessor auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm fort, »weil sie nur vergiftetes Trinkwasser zur Verfügung haben!«

Ja, aber warum wurden dann nicht überall woanders Wasserleitungen gelegt? Wenn man es schon erfunden hatte, musste es doch nur gebaut werden!? Man konnte doch sogar schon in den Weltraum fliegen?!

Aber diese Fragen beantwortete Professor Haber nicht.

Stattdessen ermahnte er uns alle am Schluss der Sendung:

»Seid froh und dankbar, dass ihr in einem Land leben dürft, in dem es sauberes Trinkwasser für jeden Bürger in Hülle und Fülle gibt – guten Abend, ihr Lieben!«

Die Sendung hatte mich aufgewühlt. Niemand war da, mit dem ich darüber reden konnte. Also ging ich alleine neben den S-Bahnschienen spazieren.

Es war doch alles ganz einfach! Alle mussten Wasser haben – das wäre das Paradies auf Erden! Der Rest ginge von alleine! Dafür musste man kämpfen – nicht aufs Paradies warten!

RAF oder Hollywood

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