Читать книгу RAF oder Hollywood - Christof Wackernagel - Страница 21

1966

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Unser neuer Religionslehrer verkörperte das Gegenteil dessen, was ich bisher als Religionslehrer kennengelernt hatte: Er war nicht dünn, sondern dick, er war nicht schwarz, sondern bunt gekleidet, er war nicht ernst und gefasst vergeistigt über den Wolken schwebend, sondern handfest, humorvoll und lebenslustig.

Eine Diskussion darüber, dass Gott ein Trugbild war, ließ er allerdings nicht aufkommen: »Gott macht das Leben lebenswert«, verkündete er fröhlich, »er gibt uns die Freude und den Spaß!« Ich fand, dass er es sich damit etwas zu einfach machte, schließlich gab es genügend Menschen, denen das Leben aus guten Gründen überhaupt keinen Spaß machte, aber es war mir zu anstrengend, das zu diskutieren – er war wie eine Gummiwand, zwar weich und lustig wie auf dem Spielplatz früher, aber undurchdringlich.

Als er freilich in einer Stunde mal wieder damit anfing, dass die Werte »Gerechtigkeit«, »Mitmenschlichkeit« und »Liebe zur Kreatur als solcher« von Gott unabänderlich gesetzt seien, platzte mir der Kragen: »Warum sehen wir dann nirgends etwas davon?«, fragte ich. »Die Ungerechtigkeit auf der Erde wird doch eher immer größer als kleiner! Wenn alle Menschen Nutznießer der Schätze der Erde sind: Warum gibt es dann den Unterschied zwischen Arm und Reich?«

Er lächelte verschmitzt. »Gute Frage!«, lobte er mich. »Damit kommen wir nämlich zum Kern der Sache!«

Da war sie wieder, die Gummiwand.

»Das zu verwirklichen«, fuhr er fröhlich fort, »ist doch nicht Sache Gottes, sondern« – und nun kam die einstudierte Kunstpause, die er immer einlegte, bevor etwas Bedeutendes kam – »unsere Sache!«

Er lehnte sich zurück und wartete die Wirkung dieser – wie er wohl meinte – überraschenden Erklärung ab.

»Das ist es doch«, erläuterte er, »was das Leben so reich und vielfältig, so erfüllend macht: Wir haben eine Aufgabe!« Er strahlte uns an: »Das ist doch der Sinn des Lebens, nach dem alle suchen, die Gott noch nicht erkannt haben« – er wurde richtig gemütlich feurig – »dass wir immer und überall dafür kämpfen müssen, dass Gerechtigkeit tatsächlich und endlich für alle Wirklichkeit wird!«

»Und wie geht das Kämpfen?«, fragte ich.

»Bei uns selbst müssen wir anfangen«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, bevor irgendeine weitere Frage aufkam, »bei uns und in unserem unmittelbaren Umfeld, mehr geht sowieso nicht, und, das ist das Schwerste, daran besteht kein Zweifel, wir müssen Geduld haben, Geduld, Geduld und wieder Geduld.« Er holte kurz Luft und setzte sofort wieder zum Sprechen an, bevor ich meine nächste Frage loswerden konnte: »Das ist es doch, wofür wir Gott so unendlich dankbar sein dürfen: dass wir gar nicht nachzudenken brauchen, was unsere Arbeit hier auf Erden ist, sondern jederzeit und überall wissen, was wir zu tun haben: den Willen Gottes in die Tat umzusetzen und Gerechtigkeit unter den Menschen endlich – da geb ich dir recht, Wackernagel – lebendige Tatsache werden zu lassen.«

Damit erübrigte sich meine nächste Frage, nämlich, was denn die hungernden Kinder in China davon hätten, wenn ich hier in Deutschland, wo jeder Bettler im Vergleich zu ihnen reich war, in meinem Umkreis für etwas mehr Gerechtigkeit sorgte oder, wie man es uns als Kindern immer gesagt hatte, meinen Teller aufaß, weil sie nichts auf dem Teller hatten:

»… gar nicht nachzudenken brauchen!« – darum ging es bei dem Glauben.

Denn wenn man nachdachte, fiel man in das tiefe schwarze Loch.

Einer der Freunde meiner Alten war Leiter des »Theater der Jugend« in Schwabing. Er hieß Wolfgang Jobst, hatte lange graue Haare und trug stets eine speckige Lederweste. »Du kannst doch bestimmt gut spielen«, sprach er mich eines Tages an, als ich von er Schule kam und er mit meiner Mutter im Garten saß, »bei der Mutter!«

Ich zuckte mit den Achseln. Sabine wollte brennend Schauspielerin werden – ich auf keinen Fall. »Immer das Gleiche«, antwortete ich.

»Ich brauch noch einen Jungen in deinem Alter für mein neues Stück«, kam er daraufhin direkt zur Sache, »hast du keine Lust? Kannst Geld verdienen!«

Letzteres klang interessant. Ich wollte unbedingt ein Schlagzeug haben und mit Fips, Ebby und einem Verehrer von Sabine, der schon studierte, eine Band gründen – der Name stand schon fest: »the sad classics«. Auch welche Stücke wir nachspielen sollten, wusste ich genau, vor allem »Cadillac« von den Renegades, weil Julia das so liebte. Den Anfang des Stückes konnte ich schon auf der Tischplatte trommeln und hatte ihn Julia vorgespielt – daraufhin hatte sie quirlig gelacht, wie ich es so liebte an ihr, und ich war glücklich gewesen. Aber die Alten rückten das Geld nicht heraus.

Und so ging ich nach der Schule nur ein paar Straßen weiter ins »Theater der Jugend« am Hohenzollernplatz, aß in der Kantine Würstchen und Kartoffelsalat oder Nudeln, die ich von den Spesen, die ich bekam, selbst bezahlen konnte, hatte dann jeden Tag Probe in meiner Rolle als »Fuchs«, machte nebenher meine Hausaufgaben und kam erst abends nach Hause, was sehr spannend war und die Sache allein schon wert machte.

Vor allem aber konnte ich, als ich gegen Ende der Probenzeit mein erstes Geld bekam, endlich das Schlagzeug kaufen und sofort mit den Bandproben bei uns im Keller beginnen. Da ich das Ganze initiiert hatte, schlug ich auch immer vor, was und wie und wann wir spielten und es schien den anderen gerade recht zu sein. Schnell hatten wir genügend Stücke zusammen, um auf der nächsten Party meiner Eltern auftreten zu können.

Als wir bei einer der letzten Proben vor der Premiere in unseren Kostümen mitten im Bühnenbild saßen und eine kleine Pause machten, erzählte ich den anderen davon und wollte vor allem vor Jobst angeben.

»Ich bin jetzt Bandleader!«, prahlte ich, sprang auf und trommelte den Anfang von »Cadillac« auf einer Stuhllehne, »wir können schon ganz viele Stücke, auch von den Troggs, von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich und sogar Jimi Hendrix!«

Jobst, der eben noch mit uns gescherzt und gelacht hatte, wurde plötzlich sehr ernst.

»Setz dich mal wieder hin«, sagte er, beugte sich auf seinem Stuhl vor und sah mich intensiv an.

»Was heißt ›leader‹ auf Deutsch?«, fragte er.

»Führer«, übersetzte ich eher unwillig.

»Dieses Wort«, fuhr Jobst an alle gewandt, fort, »kann man in Deutschland nicht mehr aussprechen.«

Ich wurde rot vor Scham.

»Der so Bezeichnete – ihr wisst alle, von wem ich rede – hat so viel Unheil über die Welt gebracht, dass wir ein für alle Mal unsere Lehren daraus ziehen müssen«. Nun lächelte er wieder und sah mich an: »Du hast es zwar nicht so gemeint und auf Englisch merkt man es nicht so – aber es ist das Gleiche: Das hast du gar nicht nötig, Christof!«

Ich hätte mich ohrfeigen können – das hätte mir nicht passieren dürfen! Ich hatte doch auch nur mit der Musik angeben wollen, nicht mit der Rolle, die ich dabei spielte. Am liebsten wäre ich weggelaufen.

»Menschen«, schloss Jobst, »brauchen keine Führer. Das unterscheidet uns von Tieren – Tiere können nicht anders, als dem Leithammel zu folgen. Das ist das Erste, was wir an Hitler, der furchtbarsten Form von Führer, zu lernen haben.«

Er stand auf, die Probe ging weiter.

»Aber, weil sehr viele Menschen eben doch noch verführbar sind«, sagte er wie nebenbei, »dürfen wir nicht das geringste bisschen zulassen, das wieder in diese Richtung führt.«

Ich sagte den Rest der Probe nichts mehr. Zuhause ging ich sofort in mein Zimmer. Die Wunde brannte tief.

Klaus Hehl war zwar ein Freund meiner Schwester Sabine, aber wir befreundeten uns schnell auch unabhängig von ihr. Er war Abiturient und hatte eine sehr tiefe Stimme, die ihn älter wirken ließ, als er war, und etwas Ehrfurcht, fast Autorität Gebietendes an sich hatte. Er lebte ganz in unserer Nähe in einem kleinen, mit Büchern überladenen Zimmer, in dem ich ihn eine Zeitlang so oft es ging besuchte und mit ihm über die Bücher, von deren Inhalt er mir entweder nur berichtete oder die er mir zum Lesen mitgab, diskutierte.

Eines der spannendsten Bücher, das ich durch ihn kennenlernte, war Sigmund Freuds »Unbehagen in der Kultur«. Ich war begeistert davon, wie einfach es sich für einen Fünfzehnjährigen lesen ließ, es bestätigte alle meine Erkenntnisse über das Blendwerk der Religion und es bestätigte meine Erfahrungen mit dem Zauber- und Feuerwerk der Sexualität, die ich meiner Freundin Angelika an schönen Sommernachmittagen in den buschigen Ufern der Isarauen, begleitet von Rotwein und hinterher einer »Overstolz« zu verdanken hatte; sie hatte auf der Odenwaldschule schon mit zwölf damit begonnen. Sexualität war das Zentrum des Daseins überhaupt!

Und wir hatten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Glück, sie so unbeschwert wie entfesselt zu genießen! Als meine Mutter – ihr Mutterinstinkt hatte es wohl gespürt –, ausgerechnet als ich von dem ersten dieser Isartreffen zurückkam und unbemerkt in mein Zimmer hochschleichen wollte, aus dem Wohnzimmer geschossen kam und, auf den ersten Treppenstufen stehend, zu mir, der ich schon fast oben war, hoch rief: »Du kannst mit den Mädchen machen, was du willst, aber bring mir kein Kind nach Hause!« – da konnte ich sie beruhigen: »Wozu gibt es die Pille?« Und lässig fügte ich hinzu: »Mach dir mal keine Sorgen! Wir haben das im Griff: Wir müssen nicht aufpassen!«

Wenn also Freud schrieb Das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung ist unvergleichlich intensiver, als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes108, dann aber, wie ich bei einem Spaziergang mit Klaus Hehl neben den Schienen der S-Bahn, die unser beider Wohnungen trennte, zusammenfasste, »uns damit kommt, man müsse die Sexualität unterdrücken, um mit der dadurch erzeugten Energie, Kunst und Kultur erschaffen zu können, also praktisch nach dem Motto: ohne Unterdrückung des Sexualtriebes keine zivilisierte Gesellschaft, kann er mir den Buckel runterrutschen. Das stimmt einfach nicht.«

Klaus Hehl lachte in seinen tiefsten Basstönen. »So steht das da nicht drin«, behauptete er, »auch wenn man das sinngemäß und stark vereinfacht so darstellen könnte. Freud beschreibt nur, wie es ist; den Zusammenhang zwischen Beherrschung von Sexualität und Entstehung von Kultur, er sagt nicht, dass es so sein sollte.«

»Aber er tut so, als ginge es nicht anders!«

Klaus Hehl schüttelte den Kopf: »Die ganze Sache verhält sich schon etwas komplexer.«

Eine S-Bahn fuhr vorbei und ich musste schreien: »Nein! Man darf die Sachen nicht unnötig komplizieren! Man muss zum Kern der Sache kommen.«

»Wild und ungebändigt sind die Tiere«, wandte Klaus Hehl ein. »Die Menschheit hat lange genug gebraucht, um davon wegzukommen – und es sind ja noch lange nicht alle so weit! Dabei spielte die Zähmung des unkontrolliert ausbrechenden Sexualtriebs eine wesentliche Rolle.«

»Aber die Zeiten sind vorbei!«, rief ich. »Vielleicht war das ja nötig, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind, aber jetzt: jetzt brauchen wir das nicht mehr.«

»Und woraus leitest du das ab?«, fragte Klaus Hehl.

Das konnte ich so unmittelbar nicht beantworten.

Schweigend liefen wir an den Bahngleisen entlang. Das war das Tolle an den Diskussionen mit Klaus: Man konnte auch zusammen schweigen.

»Mit einer Frau zu schlafen ist das Schönste, was es gibt«, begann ich schließlich erneut, »das kann einfach nicht sein, dass sowas unterdrückt werden muss.«

Klaus Hehl lächelte und sagte nichts.

Wieder liefen wir lange schweigend nebeneinander.

»Es ist genau umgekehrt«, wurde mir plötzlich klar: »Wenn man mit einer Frau geschlafen hat, kommen einem erst richtig die Ideen und man bekommt so gute Laune, dass man Lust hat, Musik zu machen oder zu malen oder zu dichten und was es alles gibt!«

Klaus Hehl blieb stehen und sah mich an. Er überlegte lange. Dann sagte er:

»Das ist Utopie. Vielleicht ist das in ein paar hundert Jahren so weit. Im Moment müssen wir davon ausgehen, wie es jetzt ist, ob es uns passt oder nicht.«

Ich seufzte, zuckte mit den Achseln, ging weiter und sagte: »Das sagt Julia auch immer: ›s’ist halt so‹ – das macht mich rasend, das halte ich nicht aus!«

Zuhause ging ich in Sabines Zimmer und erzählte ihr von dem Gespräch, obwohl sie gerade Hausaufgaben machen musste. Ich fragte sie, ob sie schon mal mit Klaus geschlafen habe, weil ich wissen wollte, wie das war als Frau, also ob es auch so toll war, wie ich es erlebt hatte. Sie antwortete nicht, wurde aber rot, sah weg und fragte dann leise, aber aufgeregt: »Kann ich mich hundertprozentig drauf verlassen, dass du nichts verrätst?«

Ich war beleidigt, dass sie diese Frage überhaupt stellte – und gespannt wie ein Flitzebogen!

Sie nahm ihr Handtäschchen und suchte umständlich darin herum, bis sie ein Passfoto herausgekramt hatte, das sie mir verlegen kichernd gab:

Ein pechschwarzer Mann sah mich an! Er hatte den typischen leeren Passfotoblick und dicke Lippen. War das etwa ihr –?

»Das ist Calistus«, erklärte Sabine, »er kommt aus Nigeria!«

»Und mit ihm hast du?«

Sie strahlte glücklich. »Wir haben uns ein Hotelzimmer gemietet.«

Ich bewunderte meine große Schwester, sie war einmalig!

»Wir mussten so tun, als seien wir verheiratet«, berichtete sie, »und wir wollen in Gretna Green109 heiraten, bevor er zurück muss – dann gehe ich mit nach Nigeria.«

Das klang zwar spannend, aber die Aussicht, Sabine zu verlieren, fand ich weniger schön.

»Dann kannst du uns dort besuchen – Afrika ist wunderbar«, schwärmte sie110. »Wir werden es paradiesisch schön haben.«

Das alles war wahnsinnig aufregend und es war klar, dass unsere Alten das überhaupt nicht gut finden würden. Obwohl ich bei dem Gedanken, dass meine Schwester dann sehr weit weg wohnen würde, traurig wurde, überlegten wir, welche Rolle ich spielen könnte, um die Alten abzulenken. Wir beschlossen, darauf zu dringen, endlich wieder einmal Gaby in England besuchen zu dürfen – von dort könnte Sabine dann leicht nach Gretna Green abhauen.

Wahrscheinlich war das ein Fehler gewesen.

Als ich ein paar Tage später nach Hause kam, empfing mich meine Mutter hochroten Kopfes mit der Frage: »Wusstest du davon?!«

Mir war natürlich sofort klar, dass alles aufgeflogen war, aber ich gab mich ahnungslos. Ich musste mit ins Wohnzimmer, in dem Sabine wie ein heulendes Häufchen Elend in der Ecke saß, Heiner finsteren Blickes ihr gegenüber am Couchtisch. »Der lügt doch genauso, der Scheißkerl«, raunzte er meine Mutter an, als sie ihm berichtete, was ich gesagt hatte. »Ja ja«, höhnte er, »deine Kinder, auf die du immer so stolz bist.« Nun fing auch meine Mutter an zu weinen und ich wäre am liebsten rausgelaufen, konnte Sabine aber nicht alleine lassen.

Die Alten hatte Lunte gerochen – vielleicht waren sie sogar dadurch drauf gekommen, dass wir ohne richtigen Grund unbedingt zu Gaby wollten – und Heiner war wie ein Detektiv eines Nachmittags, als Sabine behauptet hatte, eine Freundin besuchen zu wollen, ihr heimlich gefolgt. Als sie in der Nähe des Hauptbahnhofs in ein kleines Restaurant gegangen war, hatte er von außen hineingelugt und gesehen, dass sie sich dort mit einem »finsteren Negerkerl« getroffen hatte. Dann hatte er in einer Türnische gewartet, bis die beiden aus dem Lokal rauskamen, war ihnen bis zum Hotel gefolgt und dann genau in dem Moment dazugekommen, als sie ihren Hotelzimmerschlüssel in Empfang genommen hatten.

»Es war so furchtbar, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen«, erzählte Sabine, als wir endlich wieder alleine waren. »Ich wäre am liebsten tot umgefallen.« Er hatte Calistus beschimpft und angedroht, ihn anzuzeigen, wenn er seine Tochter noch einmal auch nur versuchen würde zu kontaktieren, dabei war Sabine gar nicht seine Tochter. Er werde dafür sorgen, dass Calistus seine Aufenthaltsgenehmigung verliere. Wenn Sabine schwanger sei, werde er sein blaues Wunder erleben.

»Aber die Nazis als Rassisten beschimpfen«, regte ich mich auf, »ist doch selber kein Deut besser!« – Aber Sabine hatte andere Probleme: Sie hatte Hausarrest! Meine neunzehnjährige Schwester durfte das Haus nicht verlassen – unfassbar! »Nach außen hin geben sie sich ganz toll und fortschrittlich«, erregte ich mich, »aber in Wirklichkeit sind sie genauso spießig wie die, die sie als Spießer verachten!«

Ich ging zu Franz Müller und beschwerte mich über Heiners Verlogenheit. Lächelnd sagte er: »Dr Heiner isch hald a aldr Seggl«, aber er meine es gut: »Vielleicht würde die Sabine es ja hinterher doch bereuen, aber dann wäre es zu spät!« Er lehne Heiners Vorgehensweise ab und werde mit ihm reden – aber in der Sache sei es vielleicht doch das Beste für Sabine. Manche Dinge ließen sich eben nicht von heute auf morgen verwirklichen:

»Als wir zusammen mit den Kommunisten nach dem Krieg ein neues, besseres Deutschland aufbauen wollten, sind wir auch gescheitert. Die alten Nazis waren einfach stärker! Adenauer war zwar sauber, die Nazis hatten ihn ja sogar am Schluss noch eingesperrt, aber hinterher hat er sie alle gedeckt, ihnen sogar Posten gegeben – während die Antifaschisten im angeblich demokratischen Deutschland keinen Fuß auf den Boden bekommen haben.«

»Ja und? Warum sagst du das, wenn es um Sabine geht?«

»Weil es das gleiche Problem ist: Die Zeit war noch nicht reif!«

Es kam eben bei jeder Gelegenheit und von allen nur die eine ewig gleiche Botschaft: »Das dauert noch«, »du musst Geduld haben«, »ist doch nur Utopie!«, »muss erst erkämpft werden«, »das ist doch völlig unrealistisch!« – und so weiter.

Wie lange sollte man denn noch warten? Und auf wen? Wer sollte denn eine neue Welt verwirklichen, wenn nicht wir? Und hieß das alles nicht, dass es nicht umgekehrt allerhöchste Eisenbahn war, endlich mit dem neuen Leben anzufangen?

Die Beatles wollten keine Konzerte mehr geben. Auch eine Art von Anfang – ich fand es spannend, nachdem mir ihre Indienausflüge zu wichtigtuerischen Gurus eher unkoscher vorgekommen waren. Ihre letzte Konzerttour hatte als vorletzte Station den Circus Krone in München.

Es war praktisch unmöglich, Karten zu bekommen. Außerdem kosteten sie die astronomische Summe von über sechzig Mark, was jegliche Taschengelddimension überstieg. Aber meine Mutter kannte einen Redakteur des Bayrischen Rundfunks, der sie verehrte und ihr regelrecht nachlief: Er hatte Freikarten! Und überließ sie ihr!

Die öffentliche Anteilnahme an dem sensationellen Ereignis war größer als beim Eichmann-Prozess. Ich konnte live im Fernsehen die Ankunft der Beatles auf dem Flughafen München Riem, ein paar Kilometer von unserem Haus in Englschalking entfernt, miterleben. Sie stiegen aus dem Flugzeug, winkten in die Kameras und stiegen direkt in ein offenes Mercedes Cabrio, das neben dem Flugzeug auf dem Flugfeld stand, ohne Kontrolle, ohne alles! Damit fuhren sie im Sonnenschein unter Münchens blauem Himmel direkt ins Hotel »Vier Jahreszeiten«, dem vornehmsten und teuersten in ganz München, in dem die ganze oberste Etage für sie reserviert war. Die schönsten Mädchen Münchens warteten dort auf sie!

Ich schwang mich aufs Fahrrad und strampelte so schnell es ging in die Stadtmitte, wo sich auf der kleinen baumbestandenen Wiese vor dem Hotel schon hunderte von Fans versammelt hatten, die lautstark riefen, John, Paul, George und Ringo sollten ans Fenster kommen. Ich mochte Ringo am liebsten und hatte etxtra Schlagzeug gelernt, um Julia zu imponieren, die ich auch in der Menge sah. Aber die Beatles vergnügten sich wahrscheinlich mit den hübschen Mädchen. Die Polizei drängte uns immer wieder zurück, wenn wir die Straße blockierten, und es gab auch hier unten viele hübsche Mädchen, deren Blicke aber nur in den vierten Stock gerichtet waren.

Endlich wurde ein Vorhang beiseite gezogen und ein ohrenbetäubendes Gebrüll brach aus, bevor überhaupt jemand zu erkennen war! Es war natürlich Ringo, der sich zeigte – ich hüpfte vor Freude und brüllte aus vollem Halse, er war der normalste und netteste von allen! Nachdem die anderen es nicht für nötig hielten, sich auch zu zeigen, verlor ich die Lust: Ihnen war der Ruhm zu Kopf gestiegen, dann interessierten sie mich auch nicht!

Die Stimmung im Circus Krone war eine ganz andere als bei den Rolling Stones. Viel nüchterner, fast geschäftsmäßig. Es gab inzwischen Lautsprecher, aus denen Musik zu hören war, solange noch keine Band spielte. Ihr neuester Song »Paperback writer« war gerade rausgekommen und wurde wieder und wieder wiederholt.

Der Moment, in dem die berühmtesten Menschen der Welt auf die Bühne kamen, war zwar spannungsgeladen, aber lange nicht so aufregend wie bei den Stones. Sie hatten zwar die durch sie berühmt gewordenen Pilzköpfe – wie ich auch! –, aber sauber und adrett, irgendwie angepasst. Sie nahmen ihre Gitarren, sagten eine kurze Begrüßung auf und one two three ging’s los. Es war schon irgendwie toll, das live zu hören, was ich nur von der Schallplatte kannte, aber auch ernüchternd. Das Getobe klang pflichtgemäß, ich beteiligte mich nur moderat daran. Ich verstand, warum sie sich auflösten, sie hatten recht und ich bewunderte ihre Konsequenz.

Nach dem Ende der Beatles begann eine neue Zeitrechnung. Eine Art neuer Freiheit brach an. Jetzt waren wir selbst dran.

Unser Mitschüler »Buuz« Unseld war der Klassenclown. Im neugebauten Kaufhaus Hertie an der »Münchner Freiheit« gab es eine aus Amerika eingeführte Erfindung: Rolltreppen. Manchmal gingen wir dort nach der Schule hin und fuhren einfach nur rauf und runter; zu Stoßzeiten standen dort Kontrolleure, die uns zurückwiesen, wenn deutlich war, dass wir gar nichts kaufen wollten.

Buuz machte sich ein Vergnügen daraus, wenn er runterfuhr, etwa in der Mitte der Treppe, auf der gegenüberliegenden Seite hochfahrenden Leuten, die sich am Band festhielten, auf die Finger zu hauen, um dann höhnisch lachend nach unten zu laufen, während die Leute sich ohnmächtig aufregten.

Mit ihm, Fips, Thomas Zauner, dessen Vater Sciencefiction-Romane schrieb, und unserer neuen Mitschülerin Mi, der Tochter eines Akkupunkturarztes, die von der oberen Klasse in unsere durchgefallen war, ließen wir ein Happening auf dem Garagendach meines Elternhauses in der Lützenkirchenstraße steigen.

Wir zogen uns schwarze Anzüge an, Mi ein rosa Spitzenkleid, ich stellte das Schlagzeug meiner »sad classics« auf, Buuz hatte eine Trompete mitgebracht, Mi spielte Bach auf ihrer Querflöte, über Mikrophon von einem Verstärker so laut gemacht, dass es quietschte, ich trommelte, was das Zeug hielt, Thomas Zauner zerquetschte rohe Eier und kreischte zum Himmel, Fips gab improvisierte Lautfolgen zum Besten und las Zahlengedichte von Schwitters, die wir, im Unterricht uns gegenseitig unter den Bänken zuschiebend, gelesen und uns darüber halb totgelacht hatten. Ebby saß am Rande und rauchte – ab und zu holte er eine Maultrommel aus seiner Tasche und quäkte damit ins schrille Mikrophon.

Es dauerte nicht lange, bis wir unser Ziel erreicht hatten und die erwünschte Aufmerksamkeit bekamen: Nachbarn alarmierten die Polizei, unsere Personalien wurden aufgenommen und meine Alten, die natürlich nicht anwesend waren, bekamen eine Abmahnung. Heiner fand das überhaupt nicht komisch, aber meine Mutter war stolz auf mich. Sabine hatte mir bei den Vorbereitungen geholfen.

Eines Tages besuchte Heinz Höfl meine Mutter völlig verzweifelt und bat sie um Rat. Der »Spiegel« hatte ihm ein Angebot gemacht – normalerweise ein Traum für einen Journalisten im besten Alter. Aber Heinz Höfl, dieses breitschultrige Trumm von einem Mann, saß wie ein Häufchen Elend am großen Couchtisch im Wohnzimmer und drehte seine Kaffeetasse in der Hand.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er gekommen war, und als ich zufällig ins Wohnzimmer kam, um ein Buch zu suchen, sah ich ihn in diesem Zustand und erschrak: Dieser weise junge Mann, der mir so viele Ratschläge, Denkhinweise und Anregungen gegeben hatte, sah völlig ratlos aus.

»Ja, aber was ist denn das Problem?«, fragte ich, meinerseits völlig verständnislos, nachdem er mir von dieser Chance seines Lebens erzählt hatte; so weit wusste ich Bescheid, dass man höher als zum »Spiegel« nicht aufrücken konnte.

»Dann muss ich doch nach Hamburg umziehen!«, rief er, breitete seine Arme aus und ließ sie kraftlos auf seine Schenkel fallen.

»Aber das ist doch toll!«, rief ich begeistert, »mal was anderes: das Gegenteil von München!«

»Das ist doch das Problem«, kam es kleinlaut von ihm zurück und er sank noch tiefer in seinen Sessel.

Nun verstand ich gar nichts mehr. »Sei doch froh, immer das Gleiche ist doch furchtbar!«

Er fuhr in seinem Sessel hoch: »I bi aus Minga!«111, rief er und funkelte mich anklagend an. »I bin a Bayer!«

Ich zuckte mit den Achseln. Meine Mutter lachte wohlwollend. »Christof hat recht«, sagte sie milde, »das ist doch eine enorme Erweiterung deines Horizonts.«

»Erika!«, rief Heinz Höfl, »Du kennst mich doch jetzt lange genug, das halte ich nicht aus mit den Hamburgern!«

Langsam ging mir ein Licht auf. »Die können nicht richtig Deutsch sprechen«, bestätigte ich ihn lachend. »Das gilt aber auch für die Bayern und Sachsen!«

»Ach was!«, schimpfte Heinz Höfl, ärgerlich werdend. »Bayern ist meine Heimat, hier bin ich aufgewachsen, hier gehör ich hin!«

»Heimat?«, fragte ich entsetzt. Diesen Begriff kannte ich nur von den »Heimatvertriebenen«, den ganz Rechten, die sich einmal im Jahr trafen und die Rückeroberung der Ostgebiete forderten, Schlesier und ähnliche verkappte Nazis – ein solcher Begriff aus dem Munde von Heinz Höfl?

Meine Mutter lenkte ein. Nachdenklich sagte sie: »Ja ja, jeder hat seine Wurzeln, das ist schon wahr.«

»Menschen haben doch keine Wurzeln«, widersprach ich, »früher gab es Völkerwanderungen!«

»Das ist doch nur im übertragenen Sinne gemeint«, herrschte mich meine Mutter an, »sei doch nicht immer so pingelig, ich weiß gar nicht, woher du das hast!«

Ich zuckte mit den Achseln. »Man kann nicht was sagen und was anderes meinen. ›Heimat‹, ›Wurzeln‹ da kann ich nichts mit anfangen.«

»Man kann nicht über seinen Schatten springen!«, stellte meine Mutter abschließend fest, ungeduldig verärgert.

»Und was ist mit Lisl?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, es hatte eh keinen Sinn, mit meiner Mutter zu diskutieren, wenn sie so daherkam. »Bleibt sie dann in München?«

»Oh nein doch!«, rief Heinz Höfl lachend. »Dann wäre ja alles aus! Nein, nein – sie kommt mit – und wir werden heiraten.«

Eine Welt brach für mich zusammen.

Heinz und Lisl – das Beispielpaar, die beiden, von denen ich gelernt hatte, dass Heiraten das Gegenteil von dem erzeugte, was es behauptete, dass man um eine Liebe täglich kämpfen muss, dass nichts fest und sicher sein darf, sie machten eine Kehrtwende? Heinz Höfl, das Vorbild, die Leitfigur, der Mann, der zeigte, dass es auch anders geht, dass man einfach nur damit anfangen musste, den neuen Weg zu gehen, dass es möglich war, das Alte hinter sich zu lassen – gab auf? Resignierte? Wurde nun selbst zum Spießer?

Tief betrübt sagte ich, dass ich meine Hausaufgaben machen musste, und verließ das Wohnzimmer.

Auf dem oberen Wohnzimmertisch lag die »Süddeutsche Zeitung«. Ich blätterte ziellos darin herum und blieb bei einem Artikel über Wassernot in Israel hängen. Raffinierte Techniker hatten Methoden entwickelt, jeden Tropfen Regenwasser zu retten, Meerwasser zu entsalzen und dreckiges Wasser zu säubern.

Hans Lamm hatte mir von den Kibbuzim in Israel erzählt. Dort lebten die Menschen in einer Gemeinschaft von Gleichen und teilten sich Arbeit wie Ertrag derselben. Man konnte sich ihnen anschließen, wenn man wollte, ich mit meiner jüdischen Herkunft allemal.

Vielleicht sollte ich in ein Kibbuz gehen, um endlich etwas wirklich Sinnvolles zu tun!

RAF oder Hollywood

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