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EINWURF


Die Trainerschmiede Magglingen

Die Lektionen, die Joachim Löw von Rolf Fringer erhalten hatte, konnte er während seiner Trainerausbildung in der schweizerischen Sportschule Magglingen vertiefen. Hier liegt denn auch die eigentliche Quelle für die späterere »Helvetisierung« der deutschen Nationalelf. Denn Magglingen war in den 1990er Jahren, was die Ausbildung von Fußball-Lehrern und die Vermittlung von Lehrmethoden betraf, eine Hochburg der Innovation und ein Geheimtipp für Eingeweihte. Leiter der Trainerausbildung war damals ein Mann, den heute in Deutschland jeder Fußballinteressierte kennt: Urs Siegenthaler. Jener Mann also, den man im Mai 2005 unter dem Titel »Chefscout« in Klinsmanns Trainerteam holen und der eine wichtige Rolle bei der »Fußballrevolution« im DFB übernehmen wird. Er sei stolz darauf, wird er sagen, dass ihn »aufrichtige, innovative Leute« unbedingt hätten haben wollen. Andere Experten werden den damals nahezu unbekannten, eher introvertierten und öffentlichkeitsscheuen Taktikfuchs als schweizerisches Kuriosum belächeln, im Team jedoch wird man ihn sehr gut aufnehmen. Denn Joachim Löw, der in der Schweiz sozialisierte Trainer, wird bis dahin seine Aufklärungsarbeit bereits geleistet und deutlich gemacht haben, dass man in dem Alpenland fußballerisch nicht hinter dem Mond lebt.

»Wenn ich die deutsche Nationalelf spielen sehe«, sagte im Jahr 2007 der damalige Bundesligatrainer Marcel Koller, »dann erkenne ich die Handschrift von Joachim Löw – und die von Urs Siegenthaler.« Der Schweizer Koller, langjähriger Trainer des VfL Bochum, kennt sich aus. Denn er war wie Löw – und übrigens auch Ottmar Hitzfeld – einst im schweizerischen Magglingen vom Trainerausbilder Urs Siegenthaler unterrichtet worden. Ein weiterer Siegenthaler-Schüler ist Martin Andermatt, der 1999 als Nachfolger Ralf Rangnicks den Aufstieg des SSV Ulm bewerkstelligte. »Eine legendäre Trainerausbildung war das«, schwärmt Andermatt noch heute. Vom akribischen Tüftler Siegenthaler, der »keine Halbheiten« geduldet habe, sei man da auf den neuesten taktischen und trainingsmethodischen Stand gebracht worden.

Wer aber ist dieser Urs Siegenthaler? Die Rahmendaten: Geboren 1947 in Basel, spielte als Verteidiger hochklassig mit dem Erstligisten FC Basel, war fünfmal Schweizer Meister, schloss ein Studium als Bauingenieur ab, gründete 1970 die »Urs Siegenthaler AG« in Basel, eine Firma für Mess-, Steuer- und Regeltechnik. Der Brotberuf allein füllte den fußballverrückten Ex-Profi Siegenthaler jedoch nicht aus. 1978 ging er an die Sporthochschule Köln, um dort seinen Trainerschein zu machen. »Er war sehr ehrgeizig, hat früh über den Zaun geschaut, sich für andere Kulturen und Sportarten interessiert«, erinnert sich der Ausbildungsleiter Gero Bisanz, sein Schweizer Schüler sei »forsch, selbstbewusst und diskussionsfreudig« gewesen. Ein wenig glich er wohl dem jungen Joachim Löw, als der in Magglingen seine Trainerausbildung aufgenommen hatte. Einem der dortigen Instruktoren, Roland Frei, ist der heutige Bundestrainer als besonders aufgeweckter Schüler in Erinnerung geblieben: »Mir ist damals aufgefallen, wie wissbegierig er war.«

Joachim Löw war auch stets einer der Fleißigsten. Das war Siegenthaler einst in Köln offensichtlich nicht. Bei der Abschlussprüfung erhielt er jedenfalls im Bereich »Trainingslehre und Taktik« lediglich die Note drei. Was den Prüfling später, als er Chefspion der deutschen Nationalelf geworden war, überhaupt nicht mehr stören wird: »Ich habe dazugelernt.«

Siegenthaler versuchte sich in der Schweiz zunächst als Spielertrainer bei kleineren Vereinen wie dem FC Schaffhausen und dem FC Laufen. 1983 wurde er beim FC Toulouse (1. französische Division) Assistent seines schweizerischen Landsmannes Daniel Jeandupeux, unter dem er 1986 auch Assistent der Schweizer Nationalmannschaft werden sollte. Schließlich trat er 1987 beim FC Basel seine erste Cheftrainerstelle im Profifußball an. Es sollte zugleich seine letzte sein. Bereits in seiner ersten Saison stieg er mit dem Traditionsklub ab, die Entlassung erfolgte ein Jahr später, als er mit seinem Team den direkten Wiederaufstieg verpasst hatte. Er sei nicht konservativ genug gewesen für den Trainerjob, kommentierte Siegenthaler sein Scheitern.

Sein Streben nach Veränderung in Trainingslehre und Taktik konnte er mit seiner Tätigkeit als Trainerausbilder beim Fußballverband der Schweiz, die er inzwischen aufgenommen hatte, weitaus besser verfolgen. »Unter ihm und Nationaltrainer Daniel Jeandupeux wurden in der Schweiz viele Dinge geprägt, neue Ideen geboren, der Fußball revolutioniert«, erinnert sich Martin Andermatt. Jahrelang war Siegenthaler, der 1998 den Vorsitz der Union Schweizer Fußballtrainer übernahm, als Ausbilder in der Trainerschmiede des Schweizer Verbandes in Magglingen tätig, wo er zwischen 1992 und 2002 auch mehrere Lehrgänge im Auftrag der FIFA durchführte. Ein »absoluter Fachmann«, schwärmt Joachim Löw von dem Leiter der Schweizer Trainerausbildung, bei dem er so manchen Schein erworben hat, »keiner hat mir Taktik so rübergebracht«. Siegenthaler trat als Ausbilder mit dem Selbstbewusstsein dessen auf, der die Materie tief durchdringt. »Viele kennen den Fußball, aber wenige verstehen ihn«, lautet ein markanter Satz von ihm, mit dem er keinen Zweifel daran lässt, dass er sich zu den Verstehern rechnet.

Was waren damals Siegenthalers Grundideen? »Wir haben zum Beispiel die Bereiche Technik, Taktik, Kondition nicht einzeln, sondern als Ganzes unterrichtet«, erzählt er. »Wir haben auch mit polysportiven Trainingseinheiten angefangen, das waren Lehrgänge mit Badminton, Hockey, Handball oder Basketball. Wir haben versucht, die Trainer dafür zu begeistern, Elemente aus anderen Sportarten einmal im Monat ins Training einzubauen. Andere Bewegungsabläufe zu erlernen ist für Achtbis Zwölfjährige sehr wichtig. Wir haben auch nach einer einheitlichen Spielphilosophie ausgebildet. Alle Teams spielen nach dem System 4-4-2, das kennen und können alle in der Schweiz.« Hinter der Trainerausbildung stand der Gedanke, dass man nur dann eine nachhaltige Verbesserung und Erneuerung erreichen kann, wenn bereits Kinder und Jugendliche entsprechend gefördert werden. »Mit besseren Trainern«, beschreibt Siegenthaler seinen damaligen Ansatz, »bekommen wir eine bessere Jugendmannschaft, mit den Erfolgen ein besseres Feedback.«

Wenn man keine besseren Spieler hat, muss man sie eben besser ausbilden, lautete eine seiner Überzeugungen. Und das versuchte man am besten gleich mit den besten Methoden, die sich in den führenden Fußballländern würden finden lassen. Vorbild Siegenthalers waren vor allem die fortschrittliche Jugendausbildung in Frankreich mit den beiden Aushängeschildern Auxerre und Lyon, das erfolgreiche Wirken von José Pekerman im Jugendbereich des argentinischen Verbandes sowie die Innovationen des späteren Startrainers von Arsenal London, Arsène Wenger, der 1980 als Jugendcoach bei RC Straßburg eingestiegen war. Und weil damals ein Direktor des Schweizer Verbandes großes Verständnis für die Ideen Siegenthalers und seiner Mitstreiter hatte, konnte dort eine Fußballrevolution, wie sie Klinsmann im Jahr 2004 in Deutschland anzetteln sollte, bereits 15 Jahre früher Erfolge feiern. Stichworte wie ballorientiertes Taktiktraining, verbesserte Trainerausbildung oder einheitliche Spielphilosophie von den Jugendteams bis zu den Senioren waren also keineswegs, wie manch ein Klinsmann-Feind vermutete, irgendwelche obskuren Ideen-Importe aus den USA, sondern im fortschrittlichen Fußballland Schweiz bereits seit Jahren eingeübte Selbstverständlichkeiten.

Nach dem französischen Vorbild begannen Siegenthaler und seine Mitstreiter damit, nun auch in der Schweiz Trainingszentren für Jugendspieler einzurichten. Dort werden seitdem Viererkette, Raumdeckung und eine offensive Grundeinstellung unterrichtet. Zum Beispiel sollen die Spieler lernen, wie man sich konstruktiv aus einer Bedrängnis befreien kann. Das Ziel: in jeder Situation eine offensive Handlungsoption zu erreichen und Hilfslösungen wie Querspielen, Rückpässe oder Befreiungsschläge zu vermeiden. Aber die Schweizer Trainer-Macher richteten ihr Augenmerk nicht nur auf das rein Fußballerische. Auf eine gute schulische Ausbildung, teils durch externe Lehrer, legte man ebenso großen Wert, weitere Themenfelder waren die Förderung sozialer Intelligenz sowie die gezielte Persönlichkeitsbildung. »Im modernen Fußball sind mentale Fähigkeiten gefragt, die man eben nicht auf dem Fußballplatz erlernt«, so Siegenthaler, »sondern in der Schule«. Ein guter Fußballspieler, betont er, müsse sehr intelligent sein. »Die koordinativen Fähigkeiten unter Druck zu benutzen und in Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen, ist eine Art von Intelligenz, die sogar überdurchschnittlich sein kann.« Fußballspieler müssen die ihnen gestellten Aufgaben konzentriert und systematisch angehen. Und daneben geht es auch darum, besser mit Verletzungen umzugehen, mit dem Umfeld, mit der Presse, mit der eigenen Zukunft und überhaupt ein bewusstes und selbst kontrolliertes Leistungssportler-Leben zu leben, um regelmäßig seine Höchstleistung abrufen zu können.

Neben den kognitiven Fähigkeiten richtete Fußball-Mastermind Siegenthaler seine Aufmerksamkeit vor allem auf die emotionalen Gegebenheiten. Emotionen können Spiele entscheiden, ist er überzeugt. Das gelte nicht nur für die augenblickliche Verfassung einzelner Spieler, sondern für das gesamte Team. Daher müsse man wissen, wie sich eine Elf unter Druck verhält, wie sie den Ball erobert oder wie sie antwortet, wenn sie in Rückstand gerät, kurz: wie sich ihre Mentalität fußballerisch ausdrückt. Es sei also äußerst nützlich, in dieser Hinsicht den jeweiligen Gegner zu studieren, aber auch das eigene Team auf mögliche schwierige Situationen vorzubereiten, einen »Matchplan für alle Eventualitäten« zu haben. Denn unter Druck, so Siegenthaler, würden alle Mannschaften auf das zurückgreifen, was sie im Grunde ausmacht. Im Fall Deutschland hieß das zum Beispiel jahrzehntelang, nur noch quer zu spielen und weite Bälle nach vorne zu schlagen.

Siegenthaler hatte ein richtungsweisendes Konzept, einen breiten Ansatz und viele interessante Ideen. Schade war nur, dass das Spielerreservoir der Schweiz qualitativ nie ausreichte, um auf internationalem Parkett große Erfolge feiern zu können. Als Trainerausbilder in Magglingen, erzählt Siegenthaler, habe er zusammen mit den anderen Ausbildern immer wieder an der »perfekten« schweizerischen Nationalmannschaft herumgetüftelt. »Kann man den Nachteil der unterschiedlichen Sprachregionen nicht in einen Vorteil verwandeln? Wenn wir die Tessiner in die Verteidigung stellen, die Deutschschweizer rennen, die Welschen zaubern und das Spiel gestalten lassen – dann hätten wir eine gute Mannschaft. So haben wir damals herumspekuliert.« Das schweizerische Dreamteam blieb ein Hirngespinst der Magglinger Fußballintellektuellen. Aber immerhin sollte Siegenthaler einen Teil seiner Träume beim deutschen Sommermärchen 2006 und vor allem bei den Zaubernächten im südafrikanischen Winter von 2010 verwirklicht sehen.

Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel

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