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1. Langeweile

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Johannes hatte Langeweile. Er war jetzt acht Jahre alt und so weit er sich zurück erinnern konnte, war es die größte Langeweile, die er bisher in seinem Leben gehabt hatte. Das meinte er zumindest, während er auf dem Teppichboden in seinem Zimmer lag und eine seiner kleinen Spielfiguren mit dem Finger umstieß und wieder aufstellte, wieder umstieß und wieder aufstellte und wieder umstieß und wieder aufstellte. Die Figur war einer seiner beinahe unzähligen kleinen Ritter, die auf der Burg zu Hause waren, die drüben in der Ecke neben der Kommode stand. Es war einer der einfachen Ritter, die zu Fuß gehen mussten und ein einfaches Wams trugen, keiner der prachtvoll ausgestatteten Turnierritter mit Federbusch am Helm, langer Lanze und schönem Pferd, von denen auch eine ganze Reihe Johannes' Burg bevölkerte. Diese ritterlichen Stammesunterschiede kümmerten Johannes aber im Moment sehr wenig. Während der kleine Ritter abermals zu Boden ging, kam Johannes' Mutter mit einem Stapel Wäsche ins Zimmer und begann die Kommode damit voll zu räumen.

„Na, kleiner Mann, langweilst Du Dich? Wird wohl Zeit, daß die Schule wieder beginnt!“

Ja, besser Schule als diese öden Tage in den Ferien, dachte Johannes. In drei Wochen würde er in die dritte Klasse kommen. Vor einer Woche war Johannes mit Mama und Papa und seiner älteren Schwester Julia vom Urlaub auf Mallorca zurückgekommen, während sein bester Kumpel Theo erst an diesem Samstag nach Italien gefahren war. Da waren zwar noch ein paar andere Jungs aus seiner Klasse, die noch nicht in die Ferien verreist oder schon wieder zu Hause waren, aber mit denen konnte man auch nur den ganzen Tag Fußball spielen oder mit dem Rad in der Gegend herum fahren. Und auch das fand Johannes heute todlangweilig.

„Geh' doch in den Garten und gieß' das Gemüsebeet“, schlug Mama vor, ohne auch nur den Hauch von Begeisterung für diese Idee zu erwarten.

„Keine Lust“, murmelte Johannes mehr dem Ritter als seiner Mutter zu. Warum konnte nicht einmal etwas wirklich Spannendes passieren? Ein Meteorit könnte in das Nachbarhaus einschlagen oder ein paar Außerirdische auf dem Garagendach gegenüber landen. Zur Not wäre auch eine aus dem Zoo ausgebrochene Affenhorde nicht schlecht, die mitten auf der Kreuzung anfing, allen Autos die Außenspiegel zu verdrehen und die Antennen ab zu schrauben. Richtig cool wäre aber eine Raumkapsel, die an Fallschirmen im Garten landen würde. Johannes würde die Astronauten dann zum Abendbrot einladen und sie könnten das Neueste vom Mond oder Mars erzählen, je nachdem, wo sie denn gerade herkämen.

„Mama, wann bekomme ich endlich die Monster-Rakete?“, wechselte Johannes das Thema. Seit Wochen war er nun schon ganz scharf auf diese riesengroße und unglaublich echt aussehende Monster-Rakete mit Laserkanonen und Robotergreifarmen. Man konnte sie in mehrere Teile zerlegen, um eine Landung auf einem fremden Planeten möglichst genau nachspielen zu können. Die Landekapsel verfügte selbstverständlich über voll funktionstüchtige Fallschirme. Seine Eltern hatten ihn aber immer wieder auf Weihnachten (in fünf Monaten) oder seinen Geburtstag (in acht Monaten) vertröstet, beides natürlich völlig unmöglich, weil Johannes auf beides praktisch noch unendlich lange warten musste.

„Da musst du wohl noch bis Weihnachten warten, Jo, oder sparen, bis du dir die Rakete kaufen kannst“, meinte Mama dann auch wieder. Johannes ließ von seinem Ritter ab und dreht sich zu Mama um.

„Bis Weihnachten bin ich bestimmt vor lauter Langeweile gestorben, dann brauche ich die Rakete auch nicht mehr. Wollt Ihr nur noch zu dritt unter dem Weihnachtsbaum sitzen?“

Mittlerweile war Johannes' Vater nach Hause gekommen und hatte wohl schon mitbekommen, daß es wieder um die Rakete ging.

„Nun spinn' mal nicht so 'rum, Sohnemann, so schlimm wird es wohl auch nicht sein.“ Sein Blick schweifte einmal quer durch das Kinderzimmer.

„Hier gibt es ja wohl genug Spielkram, mit dem du dich bis Weihnachten über Wasser halten kannst. Vor lauter Rittern, Indianern und Piraten kann man ja kaum noch durch dein Zimmer gehen! Und von den ganzen Treckern, Baggern und Feuerwehrautos, die noch in den ganzen Kisten liegen, wollen wir gar nicht erst anfangen.“

Papa hatte leicht reden, wenn der einen neuen Fotoapparat oder irgendetwas für seinen Computer haben wollte, dann konnte er es sich ja einfach kaufen und musste nicht monatelang auf seinen Geburtstag warten. Wenn der die Rakete hätte haben wollen, dann wäre er einfach in den Spielzeugladen gegangen und hätte sofort abheben können.

„Mit denen kann ich aber nicht mehr spielen, die sind ja schon alle lange tot“, erwiderte Johannes, warf sich auf sein Bett und starrte an die Decke.

„Na, dann können wir das ja alles verkaufen oder gleich an die Nachbarskinder verschenken, vielleicht freuen die sich darüber. Eine Spielfigur für jedes Kind in der Stadt könnten wir fast schaffen“, meinte Papa ziemlich gleichgültig und ging hinaus. Johannes nahm diese Drohung nicht sonderlich ernst, sagte aber trotzdem lieber nichts. Mama hatte ihren Wäschekorb erfolgreich auf die Fächer verteilt, erinnerte zum Trost daran, daß es heute Bratkartoffeln zum Abendbrot geben würde und ging dann auch nach unten.

Beim Abendessen stocherte Johannes ziemlich lustlos in den Kartoffeln herum, die er sonst in Rekordzeit verschlingen konnte, während Julia ohne Punkt und Komma vom Training für die bevorstehenden Schwimm-Meisterschaften berichtete und welche neuen Rekordzeiten sie geschwommen sei. Johannes hörte kaum zu und dachte statt dessen lieber an Countdowns, Mondlandungen und Angriffe von Killer-Aliens. Und weil nichts müder machte als Langeweile, ging er am Abend früh ins Bett. Seine Mutter kam noch einmal zum Gute-Nacht-Sagen vorbei und zog die Vorhänge zu.

„Schlaf mal schön, mein Lieber, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Es gibt nun mal Tage, da weiß man nichts mit sich anzufangen. Geht aber vorbei, glaub mir. Auch ohne die tollste Rakete der Welt.“

Sie gab Johannes einen Kuss, streichelte einmal über die Bettdecke und ging dann hinaus. Es war noch hell genug im Zimmer, so daß Johannes die Ritterburg in der Zimmerecke sehen konnte. Auf der Mauer stand ein Burgfräulein, das Johannes mit Schwert und Helm zu einer Ritterin gemacht hatte. Vor dem Burgtor stand ein Ritter mit Bärtchen, den Julia immer „Zorro“ und Johannes den „Spanier“ nannte, weil er in Rot und Blau gekleidet war und aussah wie ein spanischer Fußballspieler. Vor der Burg stand ein Bauernhaus, das Papa für Johannes aus Holz gebaut hatte, in dem eine Handwerker-Familie wohnte. Am anderen Ende des Zimmers hatten ein paar Indianer ihre Zelte aufgebaut. Die Indianer waren etwas größer und viel detailreicher als die Ritter, konnten aber Arme und Beine nicht bewegen. Am Lagerfeuer saßen ein prächtiger Häuptling mit Federschmuck und ein Bogenschütze mit grünem Hut, die sich gut zu verstehen schienen. Die Piraten wiederum lagen mit ihrem Schiff unter dem Schreibtisch vor Anker, sie hatten merkwürdigerweise Pferde mit an Bord und beherbergten eine Art Zauberer oder Alchimisten. Sie hatten offenbar einen der Ritter entführt, einen vornehmen Gesellen, mit wallendem Mantel und großem Hut. Der Piraten-Kapitän stand an der Reling und blickte aufs Meer hinaus. Zuletzt fiel Johannes Blick noch auf das Regal, in dem neben den vielen Büchern eine komische Figur saß, die eine Maske wie ein Eishockey-Torwart trug, ganz in Schwarz gekleidet war und gleich zwei Schwerter bei sich hatte, ein langes und ein kurzes. Tante Britta hatte die Figur aus Japan mitgebracht und auch erklärt, was es mit diesem merkwürdigen Gesellen, den sie Samurai nannte, auf sich hatte. Aber ihren Platz im Regal hatte die Figur eigentlich nie mehr verlassen. Langweilig, auch langweilig, dachte Johannes, alle langweilig, langweilig und alle schon lange tot, todlangweilig. Papa hat wohl recht, man sollte alles verkaufen und vom Geld dann die Monster-Rakete kaufen, ist doch alles Baby-Spielzeug und viel zu öde für einen Weltraumkämpfer wie Johannes, dem gerade die Augen zufielen. Und so schlief er dann auch ein.

Aber die Spielfiguren verfolgten Johannes noch bis in seine Träume. Darin schlängelte sich eine scheinbar unendlich lange Reihe von Figuren durch das ganze Haus und nachdem die erste von ihnen umgefallen war, fielen alle anderen ebenfalls um, eine nach der anderen, so wie man es von den Dominosteinen kennt. Die kleinen Figuren purzelten durch das ganze Haus und Johannes folgte ihrer Spur, bis er schließlich bei der letzten Figur angekommen war. Diese lag unmittelbar vor einer riesig großen Rakete, die durch das ganze Treppenhaus bis unter das Dach hinauf reichte und genau so aussah, wie die sehnlichst gewünschte Monster-Rakete, mit Roboterarmen und Laserkanonen, nur eben viel größer. Die Tür der Rakete öffnete sich und ein Mann stieg heraus. Allerdings war der Mann kein Astronaut im Raumanzug, sondern eher ein Gartenzwerg mit einem fast weißen Spitzbart, der einen himmelblauen Mantel an hatte, statt einer Zipfelmütze aber einen Zylinderhut trug. Darauf saß ein Eichhörnchen und knabberte an einer Nuss.

„Bist Du der Johannes, der sich so schrecklich langweilt, obwohl er so viele Sachen besitzt, mit denen er sich die Zeit vertreiben könnte?“, fragte der wunderliche alte Mann und lächelte dabei.

„Ja“, sagte Johannes und der Alte fuhr fort: „Und Du hast Freunde, mit denen du nichts unternehmen möchtest?“

Johannes bejahte auch diese Frage.

„Es ist schade, wenn ein Junge wie du mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß. Doch ich will Dir helfen“, sprach der Mann da, griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Spielzeug-Schaukel hervor.

„Achte auf zwei Dinge, Johannes. Zuerst auf die Schaukel. Wenn du nur kräftig genug schaukelst, dann wirkt sie Wunder.“

Er hielt die kleine Schaukel vor sich hin und schwang sie hin und her.

„Und dann“, sagte er, während er die letzte der vor ihm liegenden Spielfiguren aufhob und Johannes in die Hand drückte, „dann achte auf die kleinen Helden!“ Kaum hatte er das gesagt, da verschwand der alte Mann und mit ihm die Rakete, die Spielfiguren, das Haus und der ganze Traum.

Sieben Helden

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