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A. Charakter und Funktion des Verfahrens
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Die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 f. AEUV bietet die Möglichkeit, feststellen zu lassen, dass ein Mitgliedstaat gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat. Ziel des Verfahrens ist es demzufolge, Mitgliedstaaten zur Erfüllung ihrer unionsrechtlichen Verpflichtungen anzuhalten. Gleichzeitig profitieren davon die uniforme Durchsetzung und die Einhaltung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Das Vertragsverletzungsverfahren erfüllt eine objektiv-rechtliche Funktion, da es auf die Verletzung subjektiver Rechte natürlicher und juristischer Personen nicht ankommt.[2] Soweit Personen durch unionsrechtswidrige Maßnahmen eines Mitgliedstaats betroffen sind, können sie sich formlos und kostenfrei an die Kommission wenden und eine individuelle Beschwerde einreichen. Es besteht allerdings kein subjektives Recht auf die anschließende Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission.
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Die Überprüfung der Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Akte mit dem Unionsrecht kann sowohl von der Kommission im Rahmen einer Aufsichtsklage (Art. 258 AEUV) als auch von einem anderen Mitgliedstaat mittels einer Staatenklage (Art. 259 AEUV) eingeleitet werden. Die Verträge verweisen an weiteren Stellen explizit auf diese beiden Klagemöglichkeiten (Art. 108 II UA 2, Art. 114 IX, Art. 348 II AEUV).
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Streiten sich EU-Mitgliedstaaten über ihre unionsrechtlichen Rechte und Pflichten, sind sie nach Art. 344 AEUV verpflichtet, auf das Vertragsverletzungsverfahren zurückzugreifen. Gleichwohl ist die Bedeutung der Staatenklage in der Praxis äußerst gering. Der EuGH hat bis Ende 2017 in lediglich vier Entscheidungen über Staatenklagen nach Art. 259 AEUV geurteilt.[3]
Beispiel:
Der ungarische Präsident wurde von den slowakischen Behörden daran gehindert, zu einer Feier zum Gedenken an den Gründer und ersten König Ungarns in die Slowakei einzureisen und dort eine Rede zu halten. Da am selben Jahrestag allerdings die Truppen des Warschauer Pakts unter Beteiligung der ungarischen Streitkräfte in die damalige Tschechoslowakei einmarschiert waren, hielt die slowakische Regierung die Einreise des ungarischen Präsidenten für politisch unerwünscht. Ungarn leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren mit der Begründung ein, das Einreiseverbot verstoße gegen die persönliche Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 AEUV). Beschränkungen der Freizügigkeit sind laut RL 2004/38 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zu rechtfertigen. Ein solches Sicherheitsrisiko lag nach der Auffassung Ungarns nicht vor.
Der EuGH stellte fest, dass der Präsident als ungarischer Staatsangehöriger den Status eines Unionsbürgers genieße. Der Status des Staatsoberhaupts weise jedoch völkerrechtliche Besonderheiten auf: Handlungen eines Staatsoberhaupts unterlägen dem völkerrechtlichen Recht der diplomatischen Beziehungen. Hieraus folge, dass es das souveräne Recht eines jeden Staates sei, selbst zu entscheiden, welche Staatsoberhäupter das Land bereisen dürfen. Ein Unionsbürger, der das Amt eines Staatsoberhauptes bekleide, müsse folglich die aus dem Völkergewohnheitsrecht abzuleitenden Einschränkungen des ihm in Art. 21 AEUV gewährten Freizügigkeitsrechts hinnehmen.[4]
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Die Kommission hingegen macht von ihrem Aufsichtsklagerecht durchaus Gebrauch. Sie kommt damit ihren primärrechtlichen Verpflichtungen nach, denn ihr fällt
„kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der [Union] die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und damit etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenen Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden.“[5]
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Diese Aufgabe der Kommission ist in Art. 17 I EUV vertraglich niedergelegt, sodass die Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV als besondere Ausprägung der in Art. 17 EUV festgelegten Pflichten der Kommission zu verstehen ist.[6]
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Da Aufsichtsklage und Staatenklage selbstständig nebeneinander stehen, kann derselbe Sachverhalt zur Erhebung einer Staaten- und einer Aufsichtsklage führen. Der Eingang einer mitgliedstaatlichen Staatenklage hindert die Kommission nicht an der gerichtlichen Einleitung einer Aufsichtsklage aufgrund desselben mitgliedstaatlichen Vertragsverstoßes. Zudem sind auf Grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch mitgliedstaatliche Gerichte dazu angehalten, unionsrechtswidrige innerstaatliche Rechtsakte zu verwerfen. Eine Klage vor der nationalen Gerichtbarkeit schließt die direkte Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens ebenso wenig aus. Im Gegenzug sperrt das Unionsrecht zu keinem Zeitpunkt die Einleitung eines nationalen Verfahrens; bei unionsrechtlichen Gültigkeitsfragen kann das mitgliedstaatliche Gericht diese nach Art. 267 AEUV vorlegen (vgl. Rn. 395).[7]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens