Читать книгу DER KELTISCHE FLUCH - Christoph Hochberger - Страница 10
Wenn die Runen sprechen
Оглавление... Tarcic war völlig in seine Erinnerungen an die Schlacht und die Geschehnisse danach versunken und bemerkte nicht, dass ihn die übrigen Clanangehörigen verwirrt anstarrten. Boudina lehnte an dem Balken, der ihrem Körper Halt bot, während sie in ihrem Kopf die Stimme ihrer Mutter vernahm: Was ist nur mit ihm?
Boudina konzentrierte sich. Im ersten Augenblick fiel es ihr nicht leicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch schließlich gelang es ihr. Ich weiß es nicht. Er scheint sich in Trance zu befinden. Vielleicht gehört das bereits zum Ritual?
Helwed schwieg.
Toromic sah zu Borix. Dieser erwiderte den Blick seines Häuptlings und Freundes und nickte unmerklich. Nachdem die Sklaven das Versammlungshaus verlassen hatten, war Tarcic in eine Art Starre verfallen und hatte sich seitdem nicht mehr gerührt. Er saß vornübergebeugt auf seinem Fell, starrte ins Feuer und bewegte sich nicht. Toromic war unruhig. Er wusste nicht, woran es lag, denn er hatte seinen Bruder schon oft in der Vorphase einer Beschwörung erlebt. Meistens war er stark angetrunken, schlecht ansprechbar und der Welt entrückt. Doch irgendetwas war heute anders als sonst. Auch die übrigen Anwesenden schienen es zu spüren. Die Edlen und Hohen steckten die Köpfe zusammen, die Krieger raunten sich Dinge zu, und in den hinteren Reihen wurde Gemurmel laut.
Die Sklaven kamen zurück. Während einer der Männer den heiligen Opferdolch brachte, trugen die beiden anderen Herz und Schädel des Hirsches herbei. Ehrfürchtig legten sie die Jagdtrophäen und den Dolch vor Tarcic zu Boden, dann entfernten sie sich rasch.
Es trat gespannte Stille ein. Tarcics Kopf ruckte hoch. Er sah sich einen Augenblick lang verwundert um, ganz so, als wüsste er nicht, wo er sich befand, dann sah er auf die Opfergegenstände nieder, die vor ihm lagen. Sofort legte sich starre Konzentration auf seine Züge und vertrieb die Leere, die noch eben sein Gesicht beherrscht hatte. Er nahm den Schädel des Hirsches an beiden Geweihenden auf und hob ihn vor sein Gesicht. Er starrte in die toten Augen des Tieres und begann leise vor sich hinzusummen.
Toromic lief ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken. Wieder einmal sah er in Tarcic nicht mehr seinen Bruder, sondern nur noch den Seher des Clans - einen Mann, der Verbindung mit den Göttern aufzunehmen verstand, einen heiligen Mann.
Tarcic hatte sich inzwischen in Trance gesteigert. Sein Körper war schweißüberströmt, und während er, kopfnickend und einen monotonen Singsang intonierend, den Schädel des Tieres vor sich auf- und abschwenkte, zitterte sein Oberkörper so stark, dass es aussah, als leide er unter schlimmen Schmerzen. Dann ließ er den Schädel mit einer Hand los und hob mit der freigewordenen das blutige Herz des Tieres vom Boden auf. Er schwenkte die beiden Beschwörungsgegenstände hin und her, während sein Gesang anschwoll.
Plötzlich blieb er stehen, verharrte still und hielt den Kopf gesenkt, als würde er angestrengt lauschen. Schließlich legte er Schädel und Herz nebeneinander auf den Boden und nahm den Opferdolch auf. Mit einer raschen Bewegung setzte er einen tiefen Schnitt an seinem linken Unterarm und rieb sich Gesicht, Hals und Brust mit dem eigenen Blut ein, dann beugte er sich zu dem Tierschädel hinab und ließ sein Blut, mit ausgestrecktem Arm, auf diesen heruntertropfen.
Die Menge raunte ehrfürchtig.
Der Seher nahm das Herz des Hirsches, schnitt es auf und rieb sich mit dem geronnenen Blut des Tieres ein. Die Verbindung mit der Anderswelt und Cernunnos, dem Hirschgeweih bewehrten Gott der Wälder, musste nun vollkommen sein.
Tarcic begann laut singend zu tanzen, wobei er seinen Körper auf- und ab wiegte. Schweiß troff von seinem Schädel und verband sich mit dem Blut des Tieres, was seinen besudelten Leib im Schein des Feuers wie einen Dämon aussehen ließ. Für die Clanangehörigen wurde er zu einer magischen Gestalt.
Einige der Anwesenden waren ebenfalls in Trance gefallen, summten mit und wiegten sich zum Takt seiner stampfenden Füße. Andere schlugen im Rhythmus seines Gesanges auf ihre Waffen oder auf kleine, lederüberzogene Festtrommeln. Der ganze Clan war in heilige Erregung versetzt. Ob Krieger, Weib oder Sklave, alle fühlten sich ihren Göttern nahe. Boudina fühlte sich wie in einem Traum. Alles um sie herum war unwirklich.
Der Tanz des Vates war nun nicht mehr weit von Raserei entfernt. Tarcic vollführte wilde Sprünge, rannte umher und stieß laute Schreie aus, bis sich auch die übrigen Clanangehörigen mitreißen ließen. Die Krieger sprangen auf, brachen in Gebrüll aus und schlossen sich seinem Tanz an.
Selbst Toromic und die Edlen gaben nun ihre Zurückhaltung auf: auch sie schwangen ihre Waffen, brüllten, sangen und tanzten mit den übrigen Clanangehörigen.
Das Versammlungshaus wurde zu einem brodelnden Kessel, der jeden Moment überzulaufen drohte. Ohrenbetäubender Lärm schallte in die Nacht hinaus.
Tarcic hatte den Höhepunkt erreicht. Er vollführte noch eine letzte Drehung und warf dann die Runen, welche er in den letzten Augenblicken des Tanzes aus dem Beutel geholt hatte, vor sich auf den Boden. Keuchend stand er da und starrte auf das Ergebnis seines ersten Wurfes - dann brach er in die Knie.
Die Clanangehörigen waren, wie auf Befehl, still geworden.
Eben noch hatten sie sich gefühlt, als verkörperten sie die Wut ihrer Götter, waren der Welt entrückt gewesen und hatten nichts als völlige Freiheit empfunden, doch nun setzten sie sich schweißüberströmt und schwer keuchend nieder, um den Höhepunkt der Zeremonie nicht zu stören.
Tarcic besah sich die Lage der Knochenstücke eingehend. Er brummte unwillig, nahm die Runen abermals auf und warf sie ein zweites Mal. Wieder starrte er eine Weile konzentriert auf sie hinab. Als er sie unter Kopfschütteln ein drittes Mal vom Boden aufhob, ging ein angespanntes Raunen durch den Saal. So oft sollten die Runen nicht geworfen werden, das wussten alle. Wenn der heilige Mann sie mehr als zweimal werfen musste, ohne genaue Erkenntnis über zukünftige oder vergangene Ereignisse zu erlangen, so war das ein schlechtes Zeichen.
Tomoric war unruhig. Er hatte während der Extase des Tanzes seine Nervosität vergessen, doch nun befiel sie ihn abermals. Auch Borix und Turumir fühlten es und versuchten die Aufmerksamkeit ihres Häuptlings zu erlangen, doch Toromic gab ihnen Zeichen, still zu sein. Er war zu sehr mit dem Geschehen beschäftigt, das sich vor seinen Augen abspielte.
Tarcic warf die Runen ein drittes Mal.
Während atemlose Stille eintrat - eine Stille, in der man glaubte, die Stimmen der Geister durch das große Rund des Versammlungshauses wispern zu hören - beugte er sich vor und studierte die Lage der Knochenstücke von neuem.
Plötzlich erstarrte er. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Schrecken, und der Opferdolch entfiel seiner kraftlos gewordenen Hand. Ein heiseres Röcheln entrang sich seiner Kehle.
Es klang, als würge ihm jemand gewaltsam die Luft ab. Wankend und mit weit aufgerissenen Augen drehte sich Tarcic zur Menge um und schüttelte wieder und wieder den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gesehen hatte. Dann brach er zusammen.
Toromic sprang auf und brüllte seine Männer an, seinem Bruder zu helfen. Wildes Durcheinander setzte ein: Die Frauen klagten, die Kinder schrien, und die Edlen und Krieger brüllten durcheinander.
„Borix, Turumir, helft mir“, rief Toromic, während er auf Tarcic zulief. „Cassatr, Beluc, holt Felle, damit wir ihn weich lagern können!“
Als er Tarcic erreichte, sah Toromic mit Schrecken, dass dessen Augen ins Leere starrten. Speichel lief aus den Mundwinkeln des Sehers. Schreckliche Angst befiel den Häuptling der Selgovater. Was ging hier vor?
„Was ist zu tun, mein Ri?“ fragte Turumir. „Er liegt da wie ein Opferlamm.“
Toromic war kreidebleich. „Schickt die Weiber und Kinder fort, und auch die Unfreien und Sklaven“, sagte er, während er auf Tarcic niederstarrte. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft.
„Mein Ri?“
Toromic blickte auf. Seine Männer standen um ihn herum und sahen ihn erwartungsvoll an.
„Was sollen wir tun?“ fragte Turumir noch einmal.
Toromic schluckte. Er musste sich zusammenreißen. Wenn er jetzt Schwäche zeigte, dann hatten die Götter ihren Willen erreicht, indem sie ihn zwangen, vor lauter Furcht sein Geheimnis vor den Männern preiszugeben. Nein, solange seine Tat nicht bekannt war, würde er versuchen, den Schein aufrechtzuerhalten.
„Bringt ihn zu seiner Hütte, ich werde inzwischen zu den Kriegern sprechen“, antwortete er mit brüchiger Stimme. Während sich seine Männer daran machten, den Befehl auszuführen, betrachtete er noch einmal das Gesicht seines Bruders: Sein Geist musste weit fort sein, so leer war Tarcics Blick. Er würde in der nächsten Zeit nicht reden können. Toromic zitterte innerlich. Er musste zu Shana, sich Rat holen.
Cassatr und Beluc kamen mit den geforderten Fellen herbei. Sie wickelten Tarcic darin ein, dann hoben sie, unterstützt von Turumir und weiteren Kriegern, den Ohnmächtigen an und trugen ihn, von Toromics Gefolge umringt, aus dem Versammlungshaus.
Nachdem die Gruppe verschwunden war, wandte sich Toromic der verbliebenen Kriegerschaft zu. Obwohl es sich keiner der Männer anmerken lassen wollte, stand allen Angst in die Gesichter geschrieben. Sie warteten auf seine Befehle.
Toromics Knie zitterten, und sein Hals schien ausgetrocknet zu sein, als er zu sprechen begann, doch zu seinem Erstaunen erklang seine Stimme annähernd normal: „Männer der Selgovater, Edle und Krieger. Was euch überraschte und betroffen machte, traf euren Ri nicht weniger überraschend. Euch zu erklären, was vorfiel, liegt jenseits meiner Macht, denn ich bin weder ein heiliger Mann, noch sind mir die Geheimnisse der Beschwörungen vertraut. Der einzige Mann unseres Clans, der die heiligen Zeremonien zu begehen weiß und uns das Vorgefallene hätte erklären können, wurde gerade fortgebracht.“
Er überlegte.
Plötzlich kam ihm eine Idee.
„Bei Tagesanbruch werde ich Boten zu den Brigantern und den übrigen Clans entsenden, auf dass sie nach den Derwydd suchen mögen, denn nur die Eichenkundigen können sich dieser Sache annehmen. Lasst euch zum Mahl nieder, trinkt, beratet euch oder geht nach Hause, ganz wie es euch beliebt. Ich werde nach meinem Bruder sehen und euch morgen berichten, was sich zugetragen hat.“
Die Männer zerstreuten sich murmelnd. Einigen schien die Anweisung des Häuptlings nicht zu behagen, doch angesichts der bedrohlichen Lage wagte niemand zu widersprechen. Toromic wandte sich an Borix, der ihm die ganze Zeit über nicht von der Seite gewichen war.
„Folge mir.“
Vor dem Versammlungshaus angekommen, blieben sie im flackernden Licht einiger Talgfackeln stehen, die zu beiden Seiten des Eingangs an den Wänden hingen. Die Flammen wurden vom stürmischen Nachtwind gepeitscht und warfen unruhige Lichtflecke auf den Boden vor den beiden Männern.
„Gehe zu Tarcic, mein Freund, und wache über ihn, bis auch ich eintreffe“, befahl Toromic.
Borix sah ihn erstaunt an. „Du kommst nicht mit?“
„Ich muss zu Shana, mich versichern, dass es ihr und den Kindern gut geht“, log Toromic ungeschickt.
Borix vom Fackelschein seltsam beleuchtetes Gesicht drückte Verständnislosigkeit aus. „Bei allem Respekt, solltest du dich nicht zuerst um Tarcic kümmern?“
Toromics Gedanken rasten.
Borix war sein Freund und Vertrauter, sein erster Mann. Doch wie sehr konnte er ihm trauen? Erste Männer verrieten manchmal ihre Herren oder betrogen sie. Er kannte Borix seit seiner Jugend, trotzdem wagte er es nicht, ihn in sein schreckliches Geheimnis einzuweihen. Zu groß war die Gefahr. Je weniger Menschen davon wussten, desto eher war es möglich, die Sache geheim zu halten.
„Ich muss mit Shana sprechen, denn sie kennt jemanden, der vielleicht helfen kann ...“ Toromic hatte gelogen, doch im selben Augenblick wurde ihm klar, dass es tatsächlich jemanden gab, den er um Hilfe bitten konnte.
„Ich werde bald nachkommen“, sagte er eindringlich.
Borix sah ihn prüfend an, dann zuckte er die Schultern.
„Wie du meinst“
Schweigend entfernte er sich.
Shana hatte Angst.
Die Beschwörung war das Erschreckendste gewesen, dessen sie je Zeuge geworden war. Das Geschehen stand vor ihrem geistigen Auge und wollte nicht weichen, so sehr sie sich auch bemühte, es zu verdrängen.
Immerhin hatte sie sich im entscheidenden Augenblick zu beherrschen gewusst. Ihre Leibsklavinnen waren vollkommen hysterisch geworden, als Tarcic zusammenbrach, sie hingegen hatte ihre beiden Kinder in die Arme genommen und beruhigend auf sie eingewirkt.
Bormic war glücklicherweise bereits kurz nach ihrer Rückkehr zur Hütte eingeschlafen, Nadsil jedoch hing immer noch weinend an ihrer Brust.
Leise redete Shana auf ihre Tochter ein und streichelte sie liebevoll. Immer wieder schüttelten Weinkrämpfe die zarten Schultern des Kindes, während das Gesicht in den Falten des Gewandes ihrer Mutter verborgen lag.
„Sch, sch, sch, mein Kind, hab jetzt keine Angst mehr“
Während Shana beruhigend auf ihre Tochter einredete, wiegte sie sie in den Armen. Langsam wurde Nadsil still und schlief schließlich ein.
Vorsichtig erhob sich Shana und trug ihre Tochter zur Schlafstätte der Kinder. Sie legte sie auf ihre Felle und deckte sie zu. Liebkosend strich sie über Nadsils Stirn, dann sah sie noch einmal nach Bormic.
Als sie sicher war, dass die beiden fest schliefen, ging sie zur Feuerstelle und ließ sich nieder. Sie schöpfte ein wenig Fleischbrühe aus dem großen Kessel, der über dem Feuer hing, in eine Schale und begann mit zitternden Händen zu essen. Toromic hatte recht gehabt, die Götter waren zornig.
Plötzlich vernahm sie eilige Schritte, die sich der Hütte näherten. Sie hob den Kopf. Einen Augenblick später schob sich Toromic durch die Eingangsfelle. Ihr Gemahl war blass und sah fragend in Richtung der Schlafstellen.
Shana erhob sich und machte Zeichen, dass die Kinder schliefen. Toromic kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Er sah ratlos und ängstlich aus, versuchte aber, es zu verbergen. Zaghaft hob Shana den Arm und streichelte seine Hand. Plötzlich nahm Toromic sie heftig in den Arm. „Glaubst du, dass dies die Strafe der Götter für meinen Frevel ist?“ flüsterte er an ihrem Ohr.
„Ich weiß es nicht“, hauchte Shana den Tränen nahe, „Ich habe solche Angst.“
Sie umarmten sich fest und wiegten sich eine Weile, die Wärme und Nähe des anderen genießend, dann schob Toromic Shana von sich.
„Das muss der Zorn der Götter sein!“
Sein Gesicht war bleich.
„Wenn ja, dann können wir nichts mehr dagegen tun“, sagte Shana leise. „Doch erzähle, wie haben die Edlen und Krieger reagiert?“
Toromic sah sie ernst an. „Ich habe sie vertröstet. Einstweilen werden sie stillhalten, doch wir haben nicht viel Zeit.“ Er atmete tief durch. „Ich habe angekündigt, vor Tagesanbruch Boten zu allen benachbarten Clans zu entsenden. Sie sollen nach den Derwydd suchen.“
„Das war zwar ein weiser Entschluss, um Zeit zu gewinnen, doch was willst du tun, wenn die Reiter fort sind? Wenn sie auf Eichenkundige treffen und sie hierher führen, könnte das unser Ende sein“, gab Shana zu bedenken.
„Ich brauchte Zeit“, antwortete Toromic gereizt. „Im Übrigen habe ich noch eine letzte Hoffnung.“
Shana sah ihn erstaunt an. „Wovon sprichst du?“
Toromic biss die Zähne aufeinander.
„Helwed. Ich werde Helwed um Hilfe bitten.“