Читать книгу DER KELTISCHE FLUCH - Christoph Hochberger - Страница 8

Die Versammlung

Оглавление

Nach außen hin verlief der Tag im Dorf wie jeder andere, doch unter der ruhigen Fassade brodelte es. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von der bevorstehenden Kulthandlung verbreitet, war von Mund zu Mund gegangen und hatte schließlich auch noch die Unwissendsten erreicht. Die Clanangehörigen fieberten der Zusammenkunft entgegen.

Als sich der späte Nachmittag allmählich über das Land senkte, trieben die Unfreien das Vieh in die Ställe zurück, die Tagarbeiten wurden beendet, und in allen Hütten herrschte rege Betriebsamkeit. Die Krieger und Frauen putzten sich, aufgeregt schwatzend, für den großen Anlass heraus. Die Männer legten ihre Kriegstracht an, bemalten ihre Gesichter mit schaurigen Ornamenten und putzten ihre Torques, die metallenen Halsringe, die ihren Stand und Besitz demonstrierten, auf Hochglanz. Viele wuschen ihre Haare nach Art ihrer Väter mit einer Mischung aus Wasser, Kalk und Rinderfett und kämmten sie anschließend gegen den Hinterkopf hoch. Das ergab eine Stachelfrisur, die ihre Wildheit unterstreichen und den Feinden bei der Schlacht Angst einjagen sollte. Doch erfreute sich diese Frisur auch bei feierlichen Anlässen großer Beliebtheit. Die Oberkörper rieben sie mit Fett ein, um später, in der Wärme des Versammlungshauses, ihre Tätowierungen und Muskeln besser zur Schau stellen zu können. Die Frauen legten ihren edelsten Schmuck an. Fein gearbeitete Ketten aus Muschelperlen und goldene Reife zierten Arme und Hälse der reichen Frauen, während die weniger wohlhabenden mit bronzenen und ehernen Ringen Vorlieb nehmen mussten. Die älteren Frauen, vor allem die der Edlen, trugen karierte Wickelröcke, die mit bunten Karomustern verziert waren. Seit Stunden schafften die Sklaven Unmengen an Nahrungsmitteln, Met und Bier ins Versammlungshaus, denn meist arteten Zeremonien in große Gelage aus.

Ein wenig abseits der übrigen Hütten, in einer kleinen, windschiefen Kate, warf Helwed eine Handvoll Kräuter ins Feuer. Zischend verbrannte das gräulich schimmernde Pulver. Ein betäubender Geruch breitete sich im Raum aus. „Siehst du, jetzt brauchst du nur noch zu warten, bis es wirkt.“ Sie wandte sich ihrer Tochter zu. Boudina sah sie zweifelnd an. Helwed verzog das Gesicht. „Du musst natürlich daran glauben, ansonsten werden dir die Geister nicht helfen.“

Boudina schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass du es gut meinst, Mutter, aber bisher hat noch keines deiner Kräuter irgendetwas bei ihm bewirkt.“

Helwed warf ihre ergrauenden Haare zurück und lächelte. „Die Liebe eines Mannes zu gewinnen, ist ein schwieriges Unterfangen. Selbst den Geistern fällt es schwer, solches zu vollbringen.“

Boudina stand ruckartig auf und stemmte ihre Arme in die schlanken Hüften. „Die Geister, die Geister! Ich will nicht mehr auf ihre Hilfe warten und auch nicht mehr auf die Wirkung deiner Kräuter. Es hilft nichts, ich muss ihn ansprechen.“

„Ihn ansprechen?!“ Helweds Stimme hatte ihren wohlmeinenden Klang verloren. Entsetzt sah sie Boudina an. „Das kannst du nicht wirklich vorhaben.“

Boudina verzog trotzig ihr hübsches Gesicht. „Und ob ich das vorhabe. Ich habe lange genug versucht, ihn mit Hilfe deiner Künste auf mich aufmerksam zu machen. Da dies jedoch offensichtlich nicht gelingt, muss ich nun eben die Sitten etwas verändern.“

„Die Sitten verändern?!“ Helwed fuchtelte hektisch mit den Armen. „Kind, du wirst dich mit deinem Sturkopf noch einmal unglücklich machen. Eine Frau spricht niemals einen Mann an! „Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns auch noch an sie heranwerfen müssten“, murmelte sie leise vor sich hin.

„Dann bin ich eben die erste, die so etwas tut“, entgegnete Boudina trotzig.

„Wenn er dich bisher nicht beachtet hat, so liegt es daran, dass er ein gestandener Mann ist“, sagte Helwed in milderem Tonfall. Sie legte ihre feingliedrige Hand auf die Schulter ihrer Tochter. „Er ist der Bruder des Häuptlings, ein Edler und ein Seher noch dazu. Was bildest du dir ein? Du bist die Tochter eines einfachen Kriegers. Glaubst du denn wirklich, dass er dich ehelichen würde, eine aus niederem Stand?“

Boudina neigte den Kopf zur Seite und strich sich aufreizend durch ihre rotblonde Mähne. Gleichzeitig machte sie einen Schmollmund und zwinkerte mit ihren grünen Augen. „Diesem Anblick kann er bestimmt nicht widerstehen.“

Helwed atmete tief durch. Sie durfte Boudina nicht merken lassen, dass sie die Liebe zu dem Bruder des Häuptlings ablehnte, und dass nur aus diesem Grund ihre Kräuter nie gewirkt hatten. Von Tarcic ging, ganz abgesehen von den Vorbehalten, die sie ihrer Tochter gegenüber geäußert hatte, etwas Seltsames aus. Helwed sprach niemals mit Boudina darüber, doch sie besaß eine besondere Fähigkeit. Sie war als junge Frau, nachdem ihr geliebter Mann im Kampf gefallen war, zu den Matrae, den Dienerinnen Anus, gegangen, um sich unterweisen zu lassen und ihr Leben fortan der großen Muttergöttin zu weihen. Sie hatte nicht noch einmal heiraten und kurze Zeit später abermals den Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen ertragen wollen, denn die Männer führten ständig Krieg. Von den großen Müttern hatte sie die Kunst der Kräuterkunde erlernt. Doch nach einer Zeit der Reinigung und der Trauer, hatten die Matrae sie wieder nach Hause geschickt. Sie sei nicht für diesen Weg bestimmt, hatten sie ihr gesagt, ein anderes Schicksal erwarte sie. Schweren Herzens hatte sich Helwed wieder nach Hause begeben, nur um bald darauf festzustellen, dass sie schwanger war. Sie war überrascht gewesen, denn sie konnte sich nicht erklären, wie ihr dies hatte widerfahren können, doch sie akzeptierte ihren Zustand als ein Geschenk der Götter. Nach einer Zeit freudiger Erwartung stand die Geburt bevor. Während der schmerzhaften Entbindung schließlich geschah das Unglaubliche; Helweds Geist verließ ihren Körper. Sie sah sich selbst auf der Bettstatt liegen, ihren Säugling gebärend, und fühlte im selben Augenblick eine Verbindung zu der Seele des Kindes aufflammen, die heißer war als Feuer und beständiger als der stärkste Stahl. Nach dieser Erfahrung, war sie nicht mehr dieselbe. Sie spürte, dass ihrem Kinde Großes bevorstand, ein Schicksal, jenseits des normalen Lebens.

Während ihre kleine Boudina - diesen Namen gab sie ihrem Mädchen - heranwuchs, übte sich Helwed in den Fähigkeiten, die die Götter ihr verliehen hatten. Sie akzeptierte, dass es eine Gabe war. Mit der Zeit wurde sie immer sensibler und konnte die Aura ihrer Mitmenschen schließlich sogar fühlen, ohne sich in Trance versetzen zu müssen. Ihr Mädchen war über die Wanderung der Gestirne, über Sommer und Winterwechsel zu einem rechten Wildfang herangewachsen. Nun zählte sie sechzehn Winter und hatte die Reife zur Frau durchgemacht.

Als Boudina im letzten Winter auf einmal begonnen hatte, von Tarcic zu schwärmen, hatte Helwed dies als blanke Kinderei abgetan. Doch nachdem sich ihre Tochter immer mehr in ihre Idee verrannte, hatte sie ihre Fähigkeiten angewandt, um herauszufinden, was für ein Mensch der Häuptlingsbruder und Seher des Clans war. Ihre empfindlichen Sinne verrieten ihr bald, dass Tarcic eine seltsame Aura umgab. Ob diese Ausstrahlung guter oder böser Natur war, wusste sie nicht, doch ihre Tochter - ihr einziger Lebenssinn - sollte nicht an einen Mann geraten, den solch mysteriöse Dinge umgaben.

„Du wirst ihn nicht ansprechen“, sagte sie bestimmt. „Du kannst weiterhin versuchen, seine Aufmerksamkeit mit Hilfe meiner Magie zu erregen, und du kannst versuchen, dich ihm bemerkbar zu machen, doch ansprechen wirst du ihn nicht.“

Boudinas Gesicht lief vor Zorn hochrot an. „Mutter, ich bin sechzehn Winter auf dieser Welt, im besten Alter! Wenn ich ihn nicht bald erobere, werde ich als alte Jungfer enden, denn ich will keinen anderen.“

Helwed musste sich ein Lächeln verkneifen. Mühsam gelang es ihr, sich die Belustigung über die forschen Worte ihrer Tochter nicht anmerken zu lassen. Schon ein freundliches Gesicht hätte Boudina dazu verleiten können, ihre Anordnung nicht ernst zu nehmen.

Die Arme in die Seiten gestemmt standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Helweds Blick wanderte über Boudinas Antlitz: Das schmale Gesicht mit den runden Wangenknochen, das von einer rotblonden Haarmähne eingerahmt wurde, erinnerte sie immer wieder an ihren toten Gatten. Durch die Augen ihrer Tochter, die tiefgrün schimmerten, wie die Seen im Wald, wenn es Sommer war, schien ihr geliebter Aragus sie anzublicken. Doch er war weit weg. Irgendwo in der Anderswelt, für sie nicht erreichbar. Auf dem Weg in ein neues Leben, ein Leben ohne sie ...

Boudinas volle Lippen schürzten sich, und auf ihrer Stirn bildeten sich ungeduldige Falten. Helwed bemerkte, dass sie in Erinnerungen versunken war und gab sich Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Sie schüttelte den Kopf. Sie würde nicht nachgeben.

Doch Boudina kam ihr zuvor. „Ich werde zur Versammlung gehen, danach offenbare ich mich ihm.“

Sie wandte sich einfach ab und begann sich im hinteren Teil der Hütte anzukleiden. Helwed war überrascht. Doch schon einen Augenblick später musste sie sich zähneknirschend eingestehen, dass ihr Kind nicht nur stur war, sondern auch einen starken Willen besaß. Schon als kleines Kind hatte Boudina ihren eigenen Kopf besessen, und selten das getan, was man von ihr verlangte. Sie besaß die Schönheit ihrer Mutter und den Dickkopf ihres Vaters.

Helwed versuchte es noch einmal: „Wenn du gehst, dann brauchst du nicht hierher zurückzukommen.“ Sie wandte sich von Boudina ab und starrte die Eingangstür an. „Ich werde mit einer solchen Schande nicht leben.“

Plötzlich spürte sie die zarte Hand ihrer Tochter auf ihrer Schulter. Boudinas Stimme war mitfühlend, aber auch bestimmt, als sie sagte: „Mutter, ich will dir keine Schande bereiten, aber ich muss meinem Herzen folgen.“

Als Helwed keine Anstalten machte zu reagieren, wandte sich Boudina seufzend ab. Während ihre Tochter den Rest ihrer Kleidung anlegte, stand Helwed unverändert auf ihrem Platz. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Boudina mit Gewalt hindern? Selbst mit zur Versammlung gehen? Nein, das kam nicht in Frage. Gewalt war kein Mittel ihrer Tochter gegenüber. Und aus genau demselben Grund wollte sie auch nicht zur Versammlung. Gewalt. Sie hatte früher, als Aragus noch gelebt hatte, genug von diesen Versammlungen miterlebt. Es wurde stundenlang hin- und her geredet, und am Ende kam doch immer dasselbe dabei heraus: Rache, Raubzug, Krieg.

Helwed machte das Wesen ihrer Mitmenschen für den Tod ihres Mannes verantwortlich und wollte mit deren Angelegenheiten nichts mehr zu schaffen haben. Das war eine lange Zeit gut gegangen, doch nun wandte sich ihr Prinzip gegen sie.

Boudina kam heran und sah sie mit einer Mischung aus Mitgefühl und schlechtem Gewissen an, dann wandte sie sich dem Ausgang zu. Als sie gerade die Eingangsfelle beiseite schlagen wollte, erklang Helweds Stimme: „Bitte bleib.“

Boudina schüttelte den Kopf. „Verzeih`, Mutter“, sagte sie leise, dann verließ sie die Hütte.

Fluchend wandte sich Helwed ab. War ihr Leben denn eine einzige Strafe? Mit schnellen Schritten durchmaß sie die Hütte. Sie musste sich in Trance versetzen. Sie musste erfahren, wie der Versuch ihrer Tochter ausgehen würde! Mit bebenden Händen durchwühlte sie ihre Kräutervorräte. Wo waren denn nur der Stechwurz und die Birkenrinde? Auch der zerstoßene Fliegenpilz war nicht auffindbar.

„Bei Anu, warum tut sie mir das an?“, stieß sie hervor. Dann lehnte sie sich zurück und begann zu weinen.

Boudina stapfte durch die Gassen des Dorfes auf das Versammlungshaus zu. Sie hatte ihrer Mutter wegen ein fürchterlich schlechtes Gewissen, doch andererseits hielt sie es vor freudiger Erwartung kaum aus. Endlich würde sie Tarcic wieder sehen, und endlich würde sie dem Versteckspiel ein Ende bereiten. Doch ihre freudige Erwartung trübte sich, als abermals das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge aufstieg. Helwed ängstigte sich im Augenblick sicher zu Tode. Seufzend strich Boudina eine Haarsträhne beiseite, die ihr der scharfe Wind ins Gesicht wehte, und stieß einen Laut des Unmuts aus. Sie liebte ihre Mutter und wollte sie nicht verletzen, aber darauf konnte sie im Augenblick keine Rücksicht nehmen. Sie wollte Tarcic, denn sie liebte ihn.

Das Versammlungshaus kam näher. Es mussten sich bereits die meisten Clanangehörigen eingefunden haben, denn das Gewirr vieler Stimmen war bis hierher zu vernehmen. Boudina lief schneller und kam keuchend am Eingang des Rundbaus an. Die beiden wachhabenden Krieger warfen ihr gleichgültige Blicke zu, denn jeder Clanangehörige, ob jung oder alt, hatte das Recht, an einer Versammlung teilzunehmen.

Boudina durchquerte den kurzen Vorgang. Als sie das Innere des Baus betrat, verschlug es ihr fast den Atem: Die Ausdünstungen hunderter von Menschen, der Duft gebratenen Fleisches und honigsüßen Mets, verbanden sich mit dem Qualm der Feuerstelle und dem durchdringenden Geruch von Fett und Öl. Ein schwer erträglicher Brodem.

Sie sah sich um. Nicht weit von ihr drängte sich eine Gruppe junger Mädchen, die sie kannte. Sie reckten die Hälse, um mehr von dem mitzubekommen, was sich vorne abspielte.

Boudina zuckte verächtlich die Achseln. Bleibt nur, wo ihr seid, dachte sie, ich suche mir einen besseren Platz. Forsch balancierte sie durch die Reihen der am Boden sitzenden Clanangehörigen, vorbei an den niederen Kasten, bis sie ihr Temperament schließlich an einem der großen Tragepfosten des Gebäudes zügelte. Weiter durfte sie sich nicht vorwagen, ohne in Gefahr zu geraten, ernsthafte Schwierigkeiten zu bekommen. Denn sie befand sich nicht mehr weit hinter den Reihen der Krieger. Die bösen Blicke anderer Clanangehöriger ignorierte sie geflissentlich.

Eigentlich gab es eine strenge Sitzordnung, doch Boudina, die ohne Vater aufgewachsen war, hatte früh gelernt, forsch aufzutreten. Die übrigen Dorfbewohner waren ihrer Mutter und ihr gegenüber ohnehin sehr zurückhaltend, denn dass Helwed bei den Matrae in die Kunst der Kräuterheilkunde unterwiesen worden war, wussten alle und hatten Respekt. Außerdem trauten sie dem schweigsamen Weib noch ganz anderes zu.

Boudina wusste, dass ihre Grenzen erreicht waren.

Sie blickte nach vorn: Dort saßen die Häuptlingsbrüder.

Zuvorderst, auf dem Sitz des Häuptlings, thronte Toromic. Neben ihm hatten Tarcic und die wichtigsten und wohlhabendsten Männer des Clans Platz genommen. Sie bildeten den innersten Zirkel der Sitzordnung. Je wohlhabender und wichtiger einer der Edlen und Unterführer war, desto näher durften er und sein Gefolge dem Häuptling im Kreis der Anführer sitzen.

Boudina starrte Tarcic an: Er schien ein fremdes Wesen zu sein. Der Bruder des Toromic hatte sein ohnehin helles Haar mit Kalk gewaschen. Schlohweiß glänzte es im Schein des Feuers. Es war straff über den Schädel zurückgekämmt und am Hinterkopf zu mehreren Zöpfen geflochten. Über Tarcics schmales Gesicht verliefen geschwungene schwarze Striche abwärts. Diese Bemalung verblasste jedoch bei dem Anblick, den seine gigantische Narbe bot. Tarcic hatte sie, von der Stirn bis zum Hals hinunter, mit rotem Ocker eingefärbt. Sie prangte wie ein Brandzeichen auf seinem Gesicht und lenkte die Blicke aller Anwesenden auf sich. Der edle, mit Rabenfedern besetzte Umhang, den er sich um seinen nackten Oberkörper geschlungen hatte, sein mächtiger goldener Halsring und auch seine Brustplatte - all diese Zeichen von Macht und Würde erschienen bedeutungslos beim Anblick dieser Narbe. Boudina war entsetzt. Er sah völlig anders aus, als sie ihn kannte, so fremd und kalt. Einen Augenblick benötigte sie, um den Schrecken zu überwinden, dann schalt sie sich eine Närrin. Natürlich sah Tarcic anders aus als bei helllichtem Tage, wenn er durch die Siedlung schritt oder auf einem der das Dorf umgebenden Hügel stand und in die Ferne sah. Jetzt war er eine mystische Figur, ein Mittler zwischen der Anderswelt und dem Diesseits, ein heiliger Mann.

Da im Augenblick weder Tarcic noch Toromic Anstalten machten, mit der Zeremonie zu beginnen, nutzte Boudina die Zeit, um die übrigen Männer in ihrer Nähe in Augenschein zu nehmen.

Wann kam sie den Hohen des Clans schon einmal so nahe?

Ihr Blick blieb an den Vertrauten des Häuptlings hängen - an den Kriegern Borix und Turumir. Diese beiden hätten vom Aussehen her nicht unterschiedlicher sein können. Borix, der hinter Toromic saß, war eine beeindruckende Erscheinung. Sein kahlgeschorener Schädel saß auf breiten muskelbepackten Schultern. Mächtige, mit blauen Tätowierungen verzierte Arme ließen keinen Zweifel an der Kraft ihres Besitzers. Auf den ersten Blick erschien er grob und einfach, doch wer genauer hinsah, die wachsamen Augen unter den buschigen Brauen und die geschmeidigen Bewegungen dieses Mannes beobachtete, erkannte, dass sich unter der Fassade des tumben Rohlings noch anderes verbergen mochte. Wegen seines dürftigen Haupthaares als Junge oft verspottet, trug er seit seiner ersten Schlacht den Schädel kahlrasiert. Zum Ausgleich für diesen Nachteil - die Männer aller Stämme waren stolz auf ihre Haarpracht - ließ er seinen Schnauzbart über beide Mundwinkel bis zum Kinn hinunter wachsen. Boudinas Blick wanderte zu dem Krieger, der hinter Tarcic saß. Turumir war hochgewachsen, intelligent und hatte rotblondes Haar, genau wie sie. Er war seit seiner Jugendzeit der Freund und Vertraute Tarcics gewesen, sein erster Mann. Doch seit Tarcic über die Gabe des Sehens verfügte, gab es nicht mehr viele Situationen, die einen Beschützer erforderlich machten. Von den Beschwörungen und Ritualen, die Tarcic durchführte, verstand Turumir nichts, und mehr als ein wenig freundschaftliche Zuneigung ließ der Bruder des Häuptlings schon lange nicht mehr zu. So diente Turumir nach außen hin Tarcic, während er in Wirklichkeit längst Toromics zweiter Mann geworden war.

Da noch immer nichts geschah, ließ Boudina ihre Blicke durch den Rundbau schweifen. Hinter der ersten Riege des Clans hatten die Krieger in Gefolge aufgeteilt Platz genommen. Sie machten einen Großteil der Anwesenden aus. Nach ihnen kamen die Frauen, die mit ihren Kindern, Müttern, Schwestern, Cousinen und Tanten, je nach Verwandtschaftsgrad, in Gruppen zusammen saßen. An der Außenwand des Gebäudes standen die Gemeinen, Unfreien und Sklaven, an denen sich Boudina eben vorbeigedrückt hatte. Während die Gemeinen und Unfreien, meist Handwerker oder Viehzüchter, einiges Ansehen genossen, da ihnen in Kriegszeiten das Recht zustand, Waffen zu tragen, bildeten die Sklaven die unterste Schicht der Gemeinschaft. Sie waren meist Gefangene anderer Stämme oder aber Menschen, die die strengen Gesetze der Clans gebrochen hatten. Bis auf die Elite der Leibsklaven der Edlen und Hohen ging es ihnen schlecht. Sie waren rechtlos und ihr Leben zählte nicht viel.

Schwatzen und Raunen erfüllte das Innere des Rundbaus, ab und zu plärrte ein Kind. Die Krieger saßen stolz schweigend und ließen sich von der Unruhe in den hinteren Reihen nicht anstecken. Goldene, bronzene und eiserne Torques - aus mehrfach ineinander verschlungenen Strängen gefertigte Halsringe - die den Rang und den Wohlstand ihrer Besitzer symbolisierten, glänzten im Schein des Feuers. Versteinerte Gesichter und starre Körperhaltung bewirkten den Eindruck von Unnahbarkeit. Die reichsten Männer, die Edlen, trugen mit Bronze und Goldlegierungen verzierte Helme. Zum Zeichen ihres Ruhms hatten die Krieger ihre besten Waffen und wertvollsten Trophäen mitgebracht. Diese lagen auf ihren Schilden neben ihnen. Die Trophäen waren die einbalsamierten Schädel der tapfersten Feinde, gegen die sie gekämpft und gesiegt hatten. Die Kraft des Feindes, seine Numina, floss auf denjenigen über, der seinen Schädel nahm. Boudina wurde es unheimlich, als ihr Blick auf die seltsam entstellten Gesichter der mumifizierten Schädel fiel. Die meisten sahen wächsern und tot aus, gar nicht so, als hätten sie einmal gelebt - doch es gab auch welche, denen der Schrecken in die Züge gegraben war, den sie empfunden haben mussten, als sie getötet wurden.

Boudina schüttelte sich. Sie hatte nie einen Vater nach einem Kriegszug mit erbeuteten Schädeln heimkehren sehen. Dieser Brauch war ihr nicht geheuer.

Sie hielt wieder nach dem Ziel ihrer Sehnsüchte Ausschau.

Tarcic saß ruhig da.

Boudina bemerkte, dass Toromic seinen Bruder misstrauisch beäugte. Sie reckte den Hals ...

Toromic blickte unauffällig zu Tarcic hinüber. Was er sah, gefiel ihm nicht. Sein Bruder war, wie die übrigen Clanangehörigen, mächtig herausgeputzt, doch konnten all seine Würdezeichen und Bemalungen nicht den dichten Schweißfilm verbergen, der seine Stirn bedeckte. Er war eindeutig betrunken. Toromic wusste, dass sein Bruder vor einer Zeremonie große Mengen Met trank, um den Übergang seines Geistes in die Anderswelt, das Reich der Geister und Ahnen, zu erleichtern, doch heute schien es zu viel gewesen zu sein. Tarcic hielt dem Druck, den die Rituale auf ihn ausübten, offensichtlich nicht mehr stand. Toromic bis sich auf die Lippen. Nach diesem Tag würde er Tarcic schonen, doch zuerst musste er wissen, ob die Ereignisse der Jagd als schlechtes Omen zu deuten waren.

Cassatr, ein Angehöriger seines Gefolges, betrat den vordersten Kreis. Er hatte die Ehre, dem Häuptling und den Edlen den Eröffnungstrunk zu reichen. Die Männer nahmen die Hörner nacheinander an und tranken sie in einem Zug leer. Inzwischen war es sehr still im Versammlungshaus geworden. Boudinas Haltung verspannte sich. Endlich ging es los!

Toromic erhob sich und wandte sich der Menge zu. Das Feuer warf den Schatten seiner hünenhaften Gestalt überlebensgroß an die Rückwand des Versammlungshauses.

„Edle und Krieger, Frauen und Unfreie, Clan der Selgovater, ich eröffne die Versammlung.“

Cassatr trat vor und rief: „Der Ri wird uns berichten.“

Toromic wartete, bis sich Cassatr gesetzt hatte, dann begann er: „Letzten Mond befand ich mich mit einigen meiner tüchtigsten Männer auf der Jagd. Wir streiften lange durch das Land, ohne eine Fährte ausfindig machen zu können, doch schließlich war uns das Jagdglück doch noch zugetan. Ein mächtiger Hirsch wurde von den Hunden aus dem Wald getrieben.“

Toromic wusste, dass die Geschichte bereits die Runde gemacht hatte, doch zum einen sollte jeder Clanangehörige wissen, worum es ging, zum anderen war es Brauch, die Ereignisse, über die in der Versammlung entschieden werden sollte, zu Beginn vorzutragen. Er fuhr fort: „Die Hunde stürzten sich auf ihn, doch er war ein starker Gegner. Er nahm einen meiner besten Wolfshunde aufs Geweih und trat einen anderen zuschanden, bevor es Beluc und Turumir gelang, ihm jeweils einen Pfeil in den Leib zu schießen. Beluc traf mitten in den Brustkorb, Turumir durchschoss den Hals. Das Tier stob in blinder Panik davon.“

Anerkennendes Raunen lief durch den Saal. Toromic hob gewichtig die Hände. „Ihr alle wisst, dass Wild noch eine ganze Strecke weit fliehen kann, wenn man es nicht genau in Herz oder Auge trifft. Erst nach einer Weile wird es schwach und verendet schließlich. Wir machten uns also, der Beute gewiss, an die Verfolgung. Wir hätten die Jagdhunde gar nicht mehr gebraucht, denn die Blutspur war so offensichtlich, dass ihr ein kleines Kind hätte folgen können. Es verstrich eine ganze Weile, und nichts deutete darauf hin, dass wir ihm näher kamen. Also begannen wir das Treiben zu beschleunigen. Über die westlichen Hügel, durchs dunkle Moor, bis hin zum Tal der Steine verfolgten wir den Hirsch, bis wir ihn schließlich auf einer Bergkuppe, oberhalb des Tals, stehen sahen.“

Toromic stemmte die Arme in die Seiten und starrte die Anwesenden an.

„Ja, ich sage stehen! Er hatte sich nicht etwa in ein Gebüsch verkrochen, um dort zu verenden, wie es üblich ist, nein - dieser Hirsch stand! Zwar hatte er blutigen Geifer vorm Maul, und seine Flanken zitterten erbärmlich, doch er mochte sich nicht zum Sterben hinlegen. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, als erwarte er uns förmlich, als wolle er sich uns stellen!“

Die Menschen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt. Es war ein unheimliches Geschehnis, von dem der Häuptling da berichtete.

„Es war, als wäre Cernunnos, der Gehörnte, in ihn gefahren und hätte ihm diese Kraft verliehen!“

Bei der Nennung des Namens des hochverehrten Jagd- und Kriegsgottes der Stämme ging ängstliches Wispern durch den Saal.

„Um ein Ende zu machen, schoss Beluc zwei weitere Pfeile aus nächster Nähe in sein Herz, und jetzt endlich brach er zusammen.“

Toromic zögerte.

„Die Hunde, die noch einen Augenblick zuvor wie toll an ihren Leinen gerissen hatten, zogen plötzlich die Schwänze ein, winselten und machten keinerlei Anstalten mehr, sich der Beute zu nähern. Sie schienen große Angst zu haben.“

Man konnte den Wind um das Versammlungshaus fauchen hören, und das Knistern des Feuers schien überlaut zu sein, so vollkommen war das Schweigen, das seinen Worten folgte. Boudina hielt den Atem an.

„Als wir ihn aufbrechen wollten, begann er auf einmal auszuschlagen und versuchte sich wieder aufzurichten!“ fuhr der Häuptling fort. „Es war, als sei sein Geist noch einmal in seinen Leib zurückgekehrt. Da zog Borix sein Schwert und hieb ihm den Kopf ab. Nun war das Tier tot.“

Toromic erwähnte nicht, dass außer ihm selbst Borix der einzige unter den Männern gewesen war, der sich noch an das Tier herangewagt hatte. Die übrigen Jäger hatten mit von abergläubischer Furcht gezeichneten Gesichtern um den Kadaver herumgestanden. Er erhob die Stimme und breitete seine Arme aus: „Ich halte die Vorgänge für ein schlechtes Omen!“

Unruhe machte sich breit. Viele Krieger schlugen vor ihre Brustplatten, das Abwehrzeichen gegen böse Geister. Heftige Diskussionen setzten ein.

Boudina war aufgeregt. Schwer atmend stand sie an den Pfosten gelehnt, von dem aus sie die Ereignisse verfolgt hatte, und sah sich hektisch um. Die Erzählung Toromics ängstigte sie, vor allem aber zerrte die allgemeine Unruhe an ihren Nerven. Während ihr Blick wieder zu Toromic wanderte, der ihr mittlerweile wie ein düsterer Bote des Unheils erschien, glaubte sie plötzlich etwas Seltsames zu hören; etwas, dass wie ein weit entferntes Rauschen klang. Sie riss die Augen auf. Was war das? Da, wieder! Wie das ferne Dröhnen eines Wasserfalls klang es in ihrem Kopf. Sie schüttelte sich, als müsse sie wach werden, doch das Geräusch blieb und deckte langsam den Lärm der Umgebung zu. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sich eine Hand auf ihren Hinterkopf legen, ganz sachte, doch deutlich fühlbar. Boudina fuhr herum, aber es stand niemand hinter ihr. Panik beschlich sie. Ihr Atem ging heftig und sie glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Finger krallten sich in den Balken, an dem sie bis eben noch gelehnt hatte. Mühsam versuchte die Tochter Helweds ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Was geschieht mit mir? fragte sie sich entsetzt …

... In der heimischen Hütte gab Helwed ein überraschtes Keuchen von sich. Der Raum war in eine Wolke gräulichen Rauchs gehüllt, den nur die Flammen der Feuerstelle geisterhaft durchglühten. Es stank nach verbranntem Fliegenpilz und Stechwurz. Helwed kniete vornübergebeugt auf dem Boden. Sie schien zu beten, doch ihr Geist befand sich nicht hier. Sie hatte schließlich die Kräuter gefunden, die sie für eine Trance benötigte, und sofort begonnen, mit der Anderswelt, der Welt der Ahnen, Kontakt aufzunehmen. Ihr Geist hatte ihren Körper verlassen und war durch die Gefilde zwischen den Welten gewandert, um ein Ziel in dieser Welt zu erreichen. Sie wollte wissen, wie es Boudina erging. Doch etwas stimmte nicht. Üblicherweise tauchte sie in den Verstand eines sensiblen Menschen ein, um mit dessen Sinnen ihre Umgebung wahrnehmen zu können. Dabei musste sie unendlich behutsam vorgehen, denn in diesem Stadium der Suche wusste sie nie, wessen Körper sie betrat. Erst wenn sie in den Geist eines Menschen eingedrungen war, konnte sie dessen Gedanken fühlen und durch seine Augen sehen. Vorher blieb ihr nur blindes Tasten. Es gab Menschen, in die einzudringen, einfach war, und andere, bei denen es sich als fürchterlich schwer erwies. Doch ganz gleich, zu welcher Sorte der Erwählte zählte - ein Mensch der ihre Anwesenheit bemerkte, geriet meist außer sich und konnte ernsthaften Schaden erleiden. Gerade hatte sie einen Impuls gespürt, der eindeutig von Boudina kam. Sie musste ungewollt ihren Geist berührt haben, und Boudina hatte es bemerkt. Bei den Göttern! So besaß ihre Tochter diese Fähigkeit ebenfalls. Helweds Leib zuckte, während ihr Geist ihre Gedanken konzentrierte. Unendlich sachte gab sie den Impuls an Boudina zurück ...

... Boudina riss die Augen auf. Ihre Knie zitterten.

„Mutter?!“

Plötzlich war sie sich ganz sicher, dass ihre Mutter in der Nähe war. Ihr fiel auf, dass sie laut gesprochen hatte, doch in dem sie umgebenden Durcheinander wild geführter Diskussionen hatte niemand ihr seltsames Verhalten bemerkt. Mit sanfter Klarheit wurde ihr auf einmal bewusst, dass ihre Mutter tatsächlich hier war, dass sie sie in ihrem Geist wahrnahm. Schwer atmend, die Augen geschlossen, mit vor Konzentration verzogenem Gesicht lauschte sie in sich hinein. Wellen von Wärme und Geborgenheit durchfluteten sie, ein Gefühl, so tief, dass alle Angst von ihr abfiel und sie vor Glück am liebsten aufgelacht hätte. Ihre Mutter war in ihr! Als sie die Augen öffnete, wusste sie, dass Helwed alles sehen konnte was sie sah ...

Toromic brachte die Anwesenden mit einer Geste zum Schweigen. „Da zurzeit keine Derwydd unser Land bereisen, müssen wir auf den einzigen setzen, der die Gabe besitzt, das Zukünftige zu schauen - meinen Bruder Tarcic.“

Zustimmende Rufe wurden laut.

„Ja, lasst Tarcic die Runen befragen!“

„Der Seher soll es uns zeigen!“

Toromic wandte sich an Tarcic. „Wirst du die Runen für uns befragen, Vates?“

Tarcic erhob sich schwerfällig. „Für unsere Sicherheit, die Sicherheit des Clans der Selgovater, will ich versuchen, die Zeichen der Götter zu lesen“, verkündete er mit schwerer Zunge. Toromic nickte und setzte sich. Nun musste sein Bruder die Angelegenheit in die Hand nehmen und alle weiteren Weisungen erteilen.

„Bringt mir Schädel und Herz des Tieres und den Opferdolch, den mir der Liaig damals für die Zeremonie weihte“, befahl Tarcic.

Einige Sklaven verließen das Versammlungshaus, um das Gewünschte zu beschaffen.

Tarcic ging zum Feuer und ließ sich unmittelbar davor nieder.

Wieder war andächtiges Schweigen eingetreten.

Er holte den Beutel, in dem sich die heiligen Runen befanden, unter seinem Mantel hervor. Es waren die Fingerknochen von Chutomonic, dem ältesten Clanführer der Selgovater, dessen Gebeine noch erhalten waren. Sein einbalsamierter Schädel hing neben denen der übrigen Clanführer und der bedeutendsten Feinde der Selgovater unter dem Dach des Versammlungshauses.

Und noch ein anderes Haupt hing dort oben. Der Schädel eines caledonischen Druiden.

Als Tarcic an den Mann dachte, dem dieser Schädel einst gehört hatte, durchzuckte die Erinnerung an die große Schlacht seinen durch Met und stundenlange Meditation erweiterten Geist ...

DER KELTISCHE FLUCH

Подняться наверх