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Die Forderung des Häuptlings

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Boudina saß bleich auf einem Fell und nippte mit zittrigen Fingern an einer Schale heißer Ziegenmilch. Helwed saß ihr gegenüber und schüttelte ungläubig den Kopf. Als Tarcic zusammenbrach, war der mentale Kontakt zwischen ihr und Boudina schlagartig abgerissen. Niemals zuvor hatte Helwed ein solch abruptes Ende einer Geistreise erlebt. Es hatte sich angefühlt, als sei sie von starken Händen gepackt und mit Wucht aus dem Körper ihrer Tochter herausgerissen worden. Boudina war kurze Zeit später heimgekehrt. Sie war völlig durcheinander gewesen, hatte wirre Dinge geredet und sich selbst verletzt, bis ihr Helwed schließlich eine schallende Ohrfeige versetzt hatte.

Seitdem saßen die beiden schweigend am Feuer und versuchten, dass Erlebte zu begreifen.

Plötzlich wurden Schritte vor der Hütte laut.

Helweds Kopf fuhr herum, als sich die Eingangsfelle teilten und das Gesicht Toromics in der Tür erschien. Sie hielt den Atem an.

„Ich muss mit dir sprechen“, sagte Toromic bestimmt. Seine Stimme war rau. Helwed sah zu Boudina, die erschrocken den Häuptling anstarrte.

„Du hast es gehört, Kind. Geh` bitte“, sagte sie langsam.

Boudina sah sie mit einem seltsamen Blick an. Dann erhob sie sich wortlos, verneigte sich kurz vor Toromic und verließ die Hütte.

Er sah ihr einen Augenblick nach, dann wandte er sich an Helwed. „Ich brauche deine Hilfe, Kräuterfrau, mein Bruder ist während des Runenlesens ohnmächtig zusammengebrochen.“

Helwed sah feine Schweißperlen auf der Stirn des Häuptlings. Wusste er etwa von ihren Fähigkeiten, oder glaubte er, dass ihre Kräuter helfen konnten?

„Ich weiß, was geschehen ist“, sagte sie vorsichtig. Als sie Toromics überraschten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: „Meine Tochter hat mir soeben von dem Unglück berichtet. Sie war bei der Zeremonie zugegen.“

Toromic nickte. „Gut, so weißt du also, was sich ereignet hat. Nun, dann kannst du dir sicherlich denken, warum ich gerade dich aufsuche.“

Helweds Stimme zitterte. „Du hoffst auf die heilende Wirkung meiner Kräuter ...“

Toromic nickte.

„Mein Ri, ich bitte dich ... , lass mich aus deinen Angelegenheiten heraus.“

Die Züge des Häuptlings verhärteten sich. „Das kann ich nicht.“

Er hielt kurz inne, dann platzte es aus ihm heraus: „Du bist meine letzte Hoffnung!“

Überrascht starrten sich die beiden an.

Toromic biss sich auf die Lippen und lief rot an. Helwed begriff, dass sich der Häuptling in großen Schwierigkeiten befand, trotzdem versuchte sie abermals, sich herauszuwinden.

„Deine letzte Hoffnung?“ fragte sie unschuldig. „Wie kann ich die letzte Hoffnung eines Häuptlings sein? Ich bin nur eine alte ...“

Toromic packte sie am Arm und zog sie zu sich heran. Sie sah in seine tiefblauen Augen. Unterdrückte Angst und bedingungsloser Wille standen in ihnen. Sein Atem roch nach Met, als er befahl: „Folge mir zum Heim meines Bruders!“

Turumir, Cassatr und zwei weitere Krieger hielten den Tobenden nieder. Mit aller Kraft stemmten sie sich auf Tarcic und versuchten ihn auf sein Lager zu pressen.

Kurz nachdem sie den Bruder des Toromic zu seiner Hütte gebracht und auf sein Lager gebettet hatten, war der Seher hochgefahren, hatte schrecklich zu schreien angefangen und die Männer um ihn herum angegriffen. Die Krieger waren völlig überrascht worden, doch schon nach Sekunden hatten sie sich auf ihn gestürzt, und nun zwangen sie ihn nieder.

„Er ist von Dämonen besessen!“ rief Cassatr.

Das Ringen schien Ewigkeiten anzudauern, doch schließlich erschlaffte Tarcic in den Armen seiner Beschützer.

Keuchend, mit schreckgeweiteten Augen sahen sich die Krieger an. Turumir tränkte ein Stück Stoff mit Wasser und rieb dem Bruder des Ri Nacken und Gesicht damit ab. Dann wollte er ihm etwas Wasser einflößen, doch die Lippen des heiligen Mannes blieben geschlossen. Das kühle Nass rann nutzlos an seinem Kinn herunter.

Ratlos schaute Turumir auf und begegnete dem hilflosen Blick Cassatrs.

Die übrigen Männer sahen betreten zu Boden. Niemand wusste, was zu tun war, niemand wagte es, zu sprechen. Tarcic lag bewegungslos, hin und wieder zuckten seine Augenlider.

Die Krieger sahen sich verstohlen in der Hütte um. Es gab selten genug Anlässe, Tarcic in seinem Heim zu besuchen, seit er die heiligen Aufgaben der Vates versah.

Im hinteren Bereich der Hütte lagen auf einem Podest die in Zedernöl konservierten Schädel seiner Feinde. Diese Trophäen sprachen mehr als alle Lobgesänge von der Tapferkeit des Mannes, der sie erbeutet hatte. Über den Schädeln, an der Rückwand der Hütte, hingen mehrere Schilde. Es waren einige Kampfschilde darunter, die den Bruder des Toromic während der Schlachten, an denen er teilgenommen hatte, beschützt hatten, und einige unversehrte, reichlich verzierte Zeremonienschilde.

Die letzteren erkannten einige der Männer wieder. Sie wurden bei den großen Sonnenwendfesten Lugnasad und Samhain an die umherfahrenden Streitwagen gehangen und kündeten mit den seltsam von ihren Rücken herabschauenden Gesichtern und vielfach ineinander verschlungenen Ornamenten von der Macht der Götter.

Neben den Schilden hingen allerlei Waffen, deren Anblick viel über den Reichtum, aber auch die Häufigkeit aussagte, mit der ihr Besitzer an Kämpfen teilgenommen hatte. Es waren edle, mit gewellten Blättern versehene Stoßlanzen darunter und Hiebschwerter, deren Griffe und Klingen kunstvoll verziert waren. Doch auch zerschlagene Speere, unbrauchbare Schilde und gebrochene Schwerter hingen dort.

Wenn man einen Feind besiegt hatte, so nahm man ihm nicht nur den Schädel und die Ehrenzeichen. Auch seine Waffen nahm man an sich und machte sie durch Verbiegen oder Brechen unbrauchbar. Eine Weile lang stellte man sie in seiner Hütte zur Schau, um vor Gästen mit seinen Taten prahlen zu können, dann wurden sie den Göttern geopfert, indem man sie in einen Opferschacht des Clanheiligtums warf.

Unter dem Dach hingen Schläuche voll Met, Bier und Wasser, daneben ganze Reihen von Dörrfleischstreifen und seltsame Kräuterbündel.

Turumirs Blick fiel auf kleine Bronzeplatten, die überall auf dem Boden herumlagen.

Tarcic hatte einmal während einer Versammlung eine davon gezeigt und behauptet, die Druiden hätten ihn gelehrt, dass man solch eine Platte nicht nur mit Ornamenten verzieren, sondern auch Wissen darin aufheben könne. Dieses Wissen müsse man als Symbole verschlüsselt in die Oberfläche der Tafeln eingravieren.

Er hatte diese Art der Metallbearbeitung „Schrift“ genannt.

Die Kenntnis dieser Kunst sei allerdings ein gut behütetes Geheimnis der Druiden. Auf die Frage, warum sie diese Kunstfertigkeit denn nicht nutzten, konnte auch Tarcic keine Antwort geben. Er wisse nur, dass die Eleven der Druiden alles Wissen, welches sie sich aneigneten, in endlosen mündlichen Versen auswendig lernen müssten, und es strengstens verboten sei, etwas schriftlich zu hinterlassen. Dieser Bericht hatte für einiges Aufsehen im Clan gesorgt, da er so geheimnisvoll war und jede Menge Stoff für die endlosen Palaver enthielt, in denen sich die Männer im Versammlungshaus oft nächtelang ergingen.

Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Stille.

Die Männer fuhren hoch und sahen sich verwirrt um.

Tarcic war abermals empor gefahren und hatte sich aufgesetzt. Das Fell, das ihn bedeckte, hatte er abgeworfen, und nun begann er mit Armen und Beinen um sich zu schlagen.

Turumir und Cassatr stürzten sich auf ihn. Ein zur Hilfe eilender Krieger lief direkt in Tarcics vorschnellende Faust und brach mit blutüberströmtem Gesicht zusammen, ein weiterer ging nach einem Fußtritt in den Unterleib in die Knie. Während sich die beiden am Boden wanden, gelang es den übrigen Männern, Tarcic auf sein Lager zu pressen. Es bedurfte ihrer ganzen Kraft, ihn zu halten, denn der Rasende entwickelte ungeheure Kräfte.

Verzweifelt hielten sie ihn fest.

Plötzlich schälten sich aus Tarcics Geschrei Worte heraus:

„Hinfort ihr Bestien, was quält ihr mich!?“

In diesem Moment erschlaffte er in den Armen der Männer.

Während er langsam zusammensank, hauchte er:

„Es wird kommen ... „

Dann lag er still.

Vollkommen verstört sahen sich die Männer an.

Turumir bemerkte, dass einige nahe daran waren, die Nerven zu verlieren. Nackte Angst blitzte in ihren Augen. Gerade wollte er beruhigende Worte sprechen, als Borix die Hütte betrat.

„Was geht hier vor?“, fragte der erste Mann des Häuptlings.

Turumir wies auf Tarcic, der verkrümmt auf seinem Lager lag und flach atmete. „Er ist erwacht und hat um sich geschlagen. Er scheint von Dämonen besessen zu sein.“

Borix sah in die von Angst gezeichneten Gesichter der Männer, dann ließ er sich neben Tarcic nieder und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Der Seher reagierte nicht.

Gebannt verfolgten die übrigen Anwesenden, wie Borix leise auf Tarcic einredete. Nach einer Weile erhob er sich und sagte:

„Er nimmt nichts wahr. Wir müssen auf den Ri warten.“

„Wo ist er denn?“ fragte Turumir.

„Er sagte, dass er mir gleich folgen wolle“, antwortete Borix leichthin. Toromics seltsames Verhalten ging die Krieger nichts an. Er musste herausfinden, was Toromic verbarg, doch nicht um ihn bloß zu stellen, sondern um seinem Freund zu helfen.

Gespannte Stille trat ein. Alle warteten.

Eine Weile später wurden die Eingangsfelle beiseite gezogen, und Toromic betrat den Raum. Kurz nach ihm schlüpfte eine grauhaarige ältere Frau durch den Eingang. Die Männer sahen sich an.

Das war doch Helwed!

Toromic sah auf Tarcic nieder. Mit wenigen Schritten war er am Lager seines Bruders. „Berichtet mir“, sagte er, ohne aufzuschauen.

„Nachdem wir ihn hierher gebracht hatten, wurde er auf einmal wild und begann zu toben, so dass wir unsere Not hatten, ihn zu bändigen. Dann war er eine ganze Weile lang ruhig, doch auf einmal erwachte er wieder und begann abermals zu wüten“, fasste Turumir die Ereignisse zusammen.

„Böse Geister sind in ihn gefahren“, hörte man leise einen Krieger sagen.

Toromics Kiefer mahlten. „Hat er etwas gesagt?“

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Turumir antwortete:

„Er sagte so etwas wie: Es wird kommen.

Borix runzelte die Stirn und stemmte die Arme in die Seiten.

So kannte er Toromic nicht. Der Häuptling hatte den Kopf gesenkt und reagierte nicht auf Turumirs Antwort. War ihm das Verhalten seines Freundes bisher lediglich seltsam vorgekommen, so war er sich mittlerweile sicher, dass Toromic etwas verbarg. Er schien zu wissen, was hier vorging, zumindest ahnte er es. Und was sollte das alte Kräuterweib hier? Sie hielt sich doch normalerweise von den übrigen Dorfbewohnern fern.

Der Häuptling wandte sich Tarcic zu und musterte das Gesicht seines Bruders. Tiefe Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn.

„Habt ihr ihm zu trinken gegeben?“ fragte er ohne aufzublicken. „Seine Lippen sind ganz trocken.“

„Ich versuchte es, doch er nahm nichts an“, antwortete Turumir.

„Gebt mir das Wasser“, befahl Toromic.

Cassatr reichte ihm die Schale. Toromic schob seinen Arm unter Kopf und Schulter seines Bruders, hob ihn leicht an und führte die Schale an seinen Mund. Als die ersten Tropfen Tarcics Lippen benäßten, zuckte er kurz, und die Männer verspannten sich unbewusst, um beim kleinsten Anzeichen einer weiteren Raserei sofort eingreifen zu können. Doch ihre Sorge war unbegründet. Nach wenigen Augenblicken entspannte sich Tarcic, und er begann, unter allgemeinem Erstaunen, mit tiefen, regelmäßigen Schlucken zu trinken. Dabei öffnete er jedoch weder die Augen, noch gab er mit sonst einem Zeichen zu erkennen, dass er das Bewusstsein wiedererlangt hatte.

Toromic versuchte mit ruhiger, beherrschter Stimme, Kontakt mit seinem Bruder aufzunehmen: „Tarcic, kannst du mich hören? Ich bin es, Toromic, dein Bruder. Wenn du mich hören kannst, dann antworte jetzt, oder gib mir ein Zeichen, dass du mich verstehst.“

Tarcic reagierte nicht.

Toromic versuchte es noch einmal. „Tarcic, kannst du mich hören?“

Wieder war der flache Atem seines Bruders die einzige Antwort.

Er blickte auf. „Versuche du es, Turumir. Vielleicht erkennt er deine Stimme.“

Turumir ließ sich an der Bettstatt nieder.

„Tarcic, Gefährte vieler Schlachten, heiliger Mann des Clans, hörst du mich?“

Tarcic lag regungslos.

Turumirs Miene verzog sich schmerzvoll. Mit belegter Stimme sagte er: „Wenn du mich hören kannst, so sage den Dämonen, die dich festhalten, dass die Krieger der Selgovater nicht bereit sind, sich einen der ihren entführen zu lassen. Wir sind zwar nicht fähig, sie mit der blanken Waffe zu bekämpfen, doch es gibt andere, mächtige, heilige Männer, die nicht zögern werden, dich zu befreien. Kein Selgovater wird so gehen!“

Toromics Stimme ertönte: „Bis auf Carduc und Cassatr könnt ihr euch nun alle zurückziehen.“

Er sah die beiden an.

„Ihr bewacht die Hütte. Im Morgengrauen sollen euch Temdin und sein Bruder Dolur ablösen.“

Während die übrigen Krieger die Hütte verließen, wandte er sich an Borix: „Gehe ins Versammlungshaus. Ich bin sicher, dass sich die Edlen und Krieger noch dort befinden, denn sie werden über die Ereignisse beraten. Wähle zehn der besten Reiter des Clans aus und beordere sie ans Tor. Keiner der Edlen oder Unterführer ist befugt, deinen Weisungen zu widersprechen, denn du handelst in meinem Namen.“

Borix war von der schnellen Wandlung seines Freundes überrascht. Eben noch hatte Toromic völlig verunsichert gewirkt, und plötzlich erteilte er mit gewohnter Entschlossenheit Befehle.

„Ich muss mit dir sprechen, mein Ri“, forderte Borix.

Toromic und die übrigen Anwesenden sahen ihn überrascht an.

Toromics Miene verfinsterte sich. „Nicht jetzt. Gib erst meinen Befehl weiter und komme dann zu meinem Heim. Dort wollen wir reden.“

Borix zögerte kurz, dann wandte er sich zum Gehen.

Als sich die Schritte der Männer entfernt hatten, sah Toromic zu Helwed, die verloren neben dem Eingang stand.

„Nun, Helwed, überlasse ich ihn dir. Ich kann nichts weiter für ihn tun und die übrigen Männer auch nicht. Versuche ihn zu wecken und berichte mir im Morgengrauen von deinen Fortschritten. Wenn du etwas brauchst, sage es Carduc und Cassatr. Ich muss mich nun ausruhen.“

Er sah ihr lange in die Augen. „Wache gut über ihn.“

Helwed nickte untertänig.

DER KELTISCHE FLUCH

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