Читать книгу 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener - Страница 68
ОглавлениеCornelia Berndl
Der Sturz
Der Stoß kam unerwartet. Das kleine Mädchen stürzte von dem zwei Meter hohen Spielgerüst. Hart schlug sie im Sandkasten auf. Ihre blonden langen Haare pressten sich gemeinsam mit dem Sand in ihren vor Schreck offenen Mund. Lilly schnappte nach Luft. Stand benommen auf und sah nach oben. Breit grinste ihr Thomas entgegen. Der Thomas, der sie regelmäßig auf dem Weg zur Schule in die stacheligen Büsche stieß. Der Thomas, der letzte Woche ihr Rad versteckt hatte und es erst zurückgab, als sie ihre Eltern zur Hilfe holte. Ihre Angst wurde zu Wut. »Du blödes Arschloch!« schrie sie ihm entgegen. Sie sah die Überraschung in seinem Gesicht. Er war es nicht gewohnt, dass sie sich wehrte. Einen kurzen Augenblick genoss sie das ihr unbekannte Gefühl, ihm überlegen zu sein. Ihr Mund öffnete sich, um ihn weiter zu beschimpfen, als ein starker Zug am Kragen ihres blauen T-Shirts ihr die Luft abschnürte. Sie hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. Verzweifelt versuchte sie, ihre Finger zwischen T-Shirt und Hals zu stecken, um mehr Luft zu bekommen. »Lilly! Wie benimmst du dich? Na warte! Das hat ein Nachspiel!« Lilly erkannte die Stimme ihrer Mutter. »Mama …« Ihre Mutter lies sich nicht beschwichtigen. Sie zerrte sie unerbittlich vor den Augen der anderen Kinder nach Hause.
»Geh in dein Zimmer!« Befahl die Mutter, als sie in der kleinen Dreizimmerwohnung ankamen. »Aber Mama! Thomas hat mich vom Gerüst geschubst! Ich bin so erschrocken!« Die Mutter blickte sie mit kalten Augen an. »Das habe ich gesehen. Das ist kein Grund, solche Schimpfworte in den Mund zu nehmen. Du solltest dich schämen.« Sie schenkte ihrer Tochter einen herablassenden Blick. »Du wartest jetzt in deinem Zimmer, bis dein Vater nach Hause kommt. Dann berichtest du ihm Wort für Wort, was du Schlimmes gesagt hast.« Sie schien fast erfreut zu wirken, als sie ihre Rede beendete. »Dann wirst du schon sehen, was geschieht.«
Lilly schlich in ihr Zimmer. Der Satz »Du wirst schon sehen, was geschieht!« hallte in ihrem Kopf. Wie lange würde der Hausarrest wohl diesmal dauern? Und würde es bei Hausarrest bleiben? Sie duckte sich vom Fenster weg. Die anderen Kinder spielten immer noch lautstark. Sie verkroch sich in ihrem Bett und wartete.
Als ihr Vater von der Arbeit kam, führte ihre Mutter sie ins Wohnzimmer. Lilly´s Kopf hämmerte vom vielen Weinen. Ihr Vater saß auf der braunen Ledercouch. Er nahm genüsslich einen Schluck Bier aus seinem grauen Tonkrug. Die Mutter schubste Lilly unsanft in die Mitte des Raumes. »So! Und jetzt erzähle, was du heute Mittag getan hast!« Das kleine Mädchen fixierte den graumelierten Teppich zu ihren Füßen. »Also Thomas …« Die Mutter fiel ihr sofort ins Wort. »Wir wollen wissen, was du Schlimmes gesagt hast.« Lilly zitterte und sagte mit leiser Stimme: »Du blödes Arschloch.« Auf dem Gesicht des Vaters zeigte sich ein breites Grinsen. »Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.« Der Kopf des Mädchens wurde immer röter. Verzweifelt versuchte sie lauter zu sprechen. »Du blödes Arschloch!« Der Vater nahm noch einen Schluck Bier. Angeekelt musterte er seine Tochter. »Da ist wohl Hausarrest nötig. Vier Wochen. Geh in dein Zimmer. Ich will dich nicht mehr sehen.« Er griff nach der Fernbedienung und würdigte seine Tochter keines Blickes mehr. Lilly schlich sich hinaus. Sie hörte noch, wie ihre Mutter sagte: »Ich weiß nicht, wo sie das her hat. Sie ist durch und durch verdorben.«
Zwei Stunden waren seit der Standpauke vergangen. Das Mädchen hatte sich wieder in seinem Bett verkrochen. Sie war müde, doch das Fußballspiel im Fernseher und die lauter werdenden Stimmen ihrer Eltern hielten sie davon ab, einzuschlafen. Sie stritten wieder. Wie immer. Deutlich hörte sie das Schreien ihres Vaters: »Du blöde Drecksau. Schau, was du gemacht hast. Wie konnte ich nur ein Schwein wie dich heiraten?«
Kommentar: Ob das Szenario realistisch ist, mag dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedoch, dass Eltern gern versuchen, ihre Kinder vor den Fehlern zu bewahren, die sie, die Eltern, von sich selbst kennen. Auch wenn es gegen das Sprichwort vom Glashaus verstößt, es geschieht in bester Absicht!