Читать книгу 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener - Страница 75
ОглавлениеAnnette Rümmele
Autofahrt – romantisch
„Komm, Amely, lass uns gehen!“ Jean stieß mich sanft in die Seite. „Bis zum Dessert haben wir doch tapfer durchgehalten, das reicht.“ Erstaunt und durchdringend schaute ich Jean an. Er wich meinem Blick aus und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.
„Komm, genug der Ehre für den alten Herrn. Wir verdrücken uns!“ Seit langem blitzten seine Augen wieder einmal jung und schelmisch in die Runde.
„Okay“ – zwinkerte ich ihm zu und strich meinen kurzen Kostümrock glatt. Hastig standen wir gleichzeitig auf und fühlten uns sofort wie Bonnie und Clyde auf der Flucht.
Erst in unserem alten Auto stellte Jean den CD-Player laut. Der Soundtrack von Forrest Gump ertönte. „Sweet Home Alabama…“ sangen wir kräftig aus voller Kehle. Jean fuhr schneller als gewöhnlich. In der Eile hatte ich meine Jacke im Restaurant hängen lassen. Egal, es gab kein zurück. Wir grölten, zunehmend befreit „If you´re going to San Francisco… Gentle people with flowers in their hair …“
Ich hatte Jean lange nicht mehr so ausgelassen und fröhlich erlebt. Schon während der Fahrt krempelte er seine Ärmel hoch, riss die Krawatte vom Kragen und gab Gas.
„Wohin, Madame?“
„Wohin du willst, Monsieur…“
Wir waren beide schwer in die Jahre gekommen. In den fast vierzig Jahren unseres Zusammenlebens hatten sich bei Jean weiße Strähnen ins Haar geschlichen und ich lachte mittlerweile aus einem Meer von Fältchen im Gesicht.
„Weißt du noch, wie wir mit den Kindern im VW-Bus durch die Provence gefahren sind?“
„Klar, da haben wir oft Ougenweide gehört, diese Musik, die so gut zur Landschaft passte. Und Großmutter reagierte zutiefst beleidigt, weil wir ihren achtzigsten Geburtstag geschwänzt hatten. Schon damals waren mir diese Familienfeiern zuwider.“ Jean lachte befreit.
„Amely“, fuhr er fort. „Ich möchte heute am liebsten nicht nach Hause fahren.“
„Aber – !“
„Psst, ich habe eine Idee. Hast du dein Handy dabei? Ruf Lea an. Sag ihr, wir machen morgen keinen Enkeldienst. Schließlich ist Wochenende. Ohne Diskussion.“
Soviel Initiative von Jean – das war ich nicht mehr gewohnt. So spontan! Seit Langem hatte sich ein Ehealltag eingeschlichen, nicht grau, aber auch nicht farbenfroh. Ich ließ ihn treiben, genoss, kutschiert zu werden.
Draußen lud ein heißer Sommertag zum Träumen ein. Während der drögen Geburtstagsfeier in der dunklen Restaurantstube hatte ich davon nichts bemerkt. Durch die offenen Fenster wehte mir ein kühler Wind ins Gesicht und durchs Haar. Jean drehte die Anlage noch lauter und wir schrien Californian Dream …!“ in den Sommer.
Bald erkannte ich, wohin Jean uns entführen wollte. In unserer Jugend hatten wir ein verborgenes Plätzchen im Wald entdeckt. Nur für uns. Früher war da ein kleiner See. Ob es ihn noch gab? Das letzte Stück musste man zu Fuß gehen. Dorthin hatte bisher niemand einen Weg angelegt. Wir stellten das Auto auf die grüne Wiese, nahmen uns an der Hand und stapften durchs hohe Gras. Jean schwitzte und zog schon unterwegs sein Hemd aus.
Am See angelangt suchten wir einen geeigneten Platz, um uns abzukühlen. Seit Jahren waren wir nicht mehr alleine zum Schwimmen. Nackt Baden – am Abend, heimlich, wenn es schon dunkel wurde. Dieser Zauber – fast vergessen. Jean hatte sich bereits vollständig entkleidet in den See gestürzt. Ich zögerte, mich auszuziehen. Die junge Amely wäre sofort nackt hinterher gesprungen, aber heute?
„Hey, was ist los, Sweety? Das Wasser ist herrlich erfrischend!“
Mit leiser Wehmut schüttelte ich den Kopf. Etwas hielt mich zurück. Ich saß mit kurzem Rock und knappem T-Shirt bekleidet im Gras. In meinem Kopf klang noch das letzte Lied aus dem Auto: „What the world needs now is love“
„Das Wasser ist mir zu kalt! Bitte komm raus und hole mir deine Jacke. Ich trage sie so gerne.“
Kommentar: Wie die Zeit vergeht! Gut eingefangen.