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Heiner Brückner

Der Koffer

Er vermutete, dass sie sich in das Schlafzimmer zurückgezogen hat. Eigentlich war er sich dessen sicher. Also wusste er, wo er sie antreffen konnte. Der Kleiderschrank stand offen, ein Koffer lag auf dem Bett, sie packte. Was packte sie und wozu denn? Er hatte bislang keine Ahnung davon, dass sie verreisen würden. Sie hatten keine Urlaubsreise vorbereitet, nicht einmal von Plänen war in letzter Zeit die Rede gewesen. Und wegen der kleinen Meinungsverschiedenheit vorhin brauchte sie doch nicht gleich abzuhauen. Das konnte man schließlich bereden, das würde sich schon wieder legen. Wie oft in den vergangenen 49 Jahren hatten sich Auseinandersetzungen wieder zusammensetzen lassen. Das hatten sie noch immer hinbekommen, darin waren sie erprobt, ja mittlerweile geübt.

„Ich kann es einfach nicht begreifen, dass es dir reicht. Es ist doch noch lange nicht zu Ende. Wir sind erst siebzig“, sagte er zu seiner Frau.

„Ich fasse es nicht, dass du noch immer nicht begreifen kannst, dass sich das Ende schon lange angekündigt hat. Hast du dein Rückgrat vergessen? Oder willst du es einfach nicht wahrhaben?“, antwortete sie und packte weiter.

Er schüttelte den Kopf und beteuerte: „Nein, ich mag nicht, dass es zu Ende geht.“

„Du willst es nicht, weil du nicht haben kannst, dass etwas so ist, wie du es nicht willst.“

„Ja, weshalb sollte ich etwas ändern, wenn es rund läuft, ohne Nebengeräusche?“ Er stellte sich ihr in den Weg und schaute sie fragend an.

„Ich bin kein Motor, bin nicht dein Automobil“, sagte sie und ging an ihm vorüber zum Schrank. „Ich bewege mich selbst, nach meinem Antrieb.“

„Wieso bist du so umtriebig? Was treibt dich denn um?“, fragte er weiter und drehte sich zu ihr hin. Er fasste sie an den Oberarmen, stand frontal zu ihr. Er versuchte ihren Blick zu fixieren.

„Ich treibe mich an, mich treibt nichts um.“ Sie hörte sich sehr entschlossen an, schaute ihm einen Moment voll in die Augen. Dann schüttelte sie sich frei und griff in den Schrank.

„Warum reicht es dir dann?“

„Es reicht mir eben noch nicht!“, sagte sie scharfzüngig und schaute ihm erneut, aber fester in die Augen.

„Wieso packst du die Koffer? Wo willst du denn hin?“ Besorgnis lag in der Stimme und zeigte sich in seinem Gesicht.

„Da ist alles drin, was mich nicht mehr anzieht“, sagte sie. Der Satz klang für ihn wie ein Rätsel, er kam ihm zweideutig vor und er meinte: „Deshalb brauchst du doch nicht auszuziehen. Bleibe daheim, wo du immer warst. Hier ist unser Zuhause.“

„Und du lege Anzug und Krawatte ab“, sagte sie zu ihm hin. „Wir sind in unserem Paradies und nicht auf einem Amt.“

Er begriff nicht, was sie meinte, verstand seine Frau nicht mehr. Sie verschloss den gepackten Koffer und bat ihn darum ihn aufzuheben.

„Wenn du die ausgemusterten Sachen oben auf dem Schrank verstaust, reicht es mir schon.“

Kommentar: Noch einmal gutgegangen.

4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

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