Читать книгу 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener - Страница 83
ОглавлениеJens-Philipp Gründler
IHS
Am kleinen Finger des elegant gekleideten Römers funkelt ein goldener, womöglich antiker Ring. Seit einer halben Stunde beobachte ich den aristokratisch wirkenden Herrn, denn er sitzt mir gegenüber, in der S-Bahn Richtung Ostia Lido.
Der Siegelring hat es mir angetan, mühsam versuche ich herauszufinden, welches Emblem in das Edelmetall eingeprägt ist. In meinen Augen, in meiner Fantasie, handelt es sich bei dem in einem hochwertigen Leinenanzug steckenden Senior um einen Adeligen. Gestern traf ich ein ähnliches Exemplar auf dem Campo Verano, jenem von monumentalen Grabmälern gezierten Friedhof, wo Sergio Leone und Marcello Mastroianni, aber auch Bud Spencer ihre letzte Ruhestätte fanden. Bei jener Begegnung verhielt ich mich so wie heute, unauffällig. Katzen strichen um die Unterschenkel des alten Herren, der vor dem Sepulchrum des Kurienkardinals Camillo Laurenti kniete und mit verschlossenem Lippen Gebete murmelte.
Mein Interesse gilt den Mitgliedern der römischen Adelsfamilien, die seit Jahrhunderten Kardinäle stellen und auch wichtige politische Posten bekleiden. Doch meine Vorliebe für diese vorzugsweise reptilienartig gealterten, nach Flieder duftenden Greise hat nur äußerliche Gründe.
Wie scheue Schildkröten bevölkert der alte Adel die Ewige Stadt, seine Abgesandten trifft man zumeist in historisch bedeutsamen Kirchen oder eben auf den cimiteri der Metropole.
In meinem bunten Gedankenreich sehe ich weinselige Bankette vor mir, wo klassisch gekleidete Herren auf mondäne sowie über die Maßen gebildete Fürstinnen treffen und in einer Mixtur der Weltsprachen miteinander kommunizieren. Man denkt an La dolce vita, an die durch die Band Velvet Underground berühmt gewordene Deutsche Nico, wie sie mit rauchiger Stimme Marcello in ein Taxi bugsiert.
An Anita Ekberg und die Fontana di Trevi wollen wir nicht erinnert werden, da dieses sofort vor unser geistiges Auge tretende Motiv den Touristen auf Postkarten und Postern angeboten wird, von denen wir uns eindeutig distanzieren möchten.
Eine Bettlerin, vermutlich von osteuropäischer Herkunft, durchquert den Wagon, hält ein schreiendes Bündel vor die Nasen der ignoranten Reisenden. Mein Herz weint, aber ich bleibe hart, denn der gräfliche Herr verzieht keine Miene.
Kalten Blickes lässt er die arme Frau passieren und widmet sich einer billig erscheinenden Broschüre. Wie passt dieses Heftchen von offenbar minderwertiger Qualität ins Bild? Wo hat der Edelmann den Werbeprospekt an sich genommen? Etwa in dem Geschäft, wo er auch die neue, knallrote Krawatte erstanden hat? Diese ragt nämlich aus dem weißen, mit silbernen Lettern versehenen Papiertütchen.
Da fährt dieser Dinosaurier also nach Ostia, dreißig Kilometer von Rom entfernt, um vielleicht seine Strandvilla zu lüften.
Die bettelnde, in Lumpen gehüllte Frau greint, und der Aristokrat fingert unbeeindruckt, stiff upper lip, an seinem Siegelring herum. Um dem aus einer anderen Zeit Stammenden zu gefallen, lege ich mir einen ebenso frostigen Reptilienblick zu, oder das, was ich dafür halte. Indes gelingt es mir nicht, seine Aufmerksamkeit zu wecken.
IHS, jetzt erkenne ich die Prägung auf dem goldenen Schmuckstück. Iesum Habemus Socium, der Wahlspruch der Mitglieder des Jesuitenordens geistert durch mein erregtes Gemüt. Der altmodisch gekleidete Mann hat also Jesus als Gefährten, denke ich und frage mich sogleich, aus welchem Grunde er der Bettlerin keinerlei Beachtung schenkt?
Die Hochnäsigkeit, um nicht zu sagen Arroganz der Römer spricht Bände und wirkt abschreckend auf Besucher, die den vielfältigen Erscheinungsformen der bella figura nicht genügen.
Jetzt habe ich lange genug versucht, den Herrn mit dem sorgfältig geölten Menjou-Bärtchen mit meiner vermeintlichen Coolness zu beeindrucken. Es reicht.
Während die zerlumpte Frau und ihr Säugling erneut das Abteil durchmessen, denke ich darüber nach, dass sie durchaus die Maria mit dem Kinde sein könnte. Allerdings ficht all mein ostentatives, moralisches Abwägen den Edelrömer nicht an. Salzsäulenartig erstarrt, fährt er mit der Fingerkuppe über die Lettern IHS und regt sich auch nicht, als ich der Marienfigur zuerst einen Hundert-Euroschein zustecke und ihr dann beim Aussteigen die Hand reiche.
Am Gleis von Ostia Antica, wo ich den Zug verlasse, drehe ich mich nicht noch einmal um, kann aber die von den toten Augen des Mannes ausgehenden, brennenden Laserstrahlen im Rücken spüren.