Читать книгу 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener - Страница 71
ОглавлениеAnette Kiel
Als mein Herz zerbrach
Früh am Morgen küsst mich die Sonne wach. Vogelgezwitscher lockt mich aus dem Bett. Ich spüre das Leben durch meinen Körper fließen und bin zu allem bereit. Glücklich über den neuen Tag springe ich aus dem Bett. Ich fühle mich wie eine Königin. Der Blick in den Spiegel bestätigt, dass es mir gut geht. Heute liegt mir die Welt zu Füßen. Heute bin ich bereit für alles.
Es gibt viele dieser wunderbaren Tage, an denen ich mich am Leben freue. Aber es gibt auch die anderen Tage. Tage, an denen ich am liebsten alleine bin. Tage, an denen ich mich in mein Schneckenhaus zurückziehe. Tage, an denen mich die Einsamkeit mit Macht überkommt. Ich fühle mich davon überrollt, wie von einer Dampfwalze, die aus dem Nichts kommt und alles Gute und Schöne niederwalzt und zunichte macht. An diesen Tagen leide ich an einem unerklärlichen Mangel und fühle mich total verlassen.
Das sind die Momente in denen ich mir wünsche, mich in Nichts aufzulösen. Einfach nicht mehr da sein, um dieses erschütternde Gefühl der Verlassenheit nicht spüren zu müssen.
Hinzu gesellt sich meist nach kurzer Zeit eine tiefe Trauer, die mir beim kleinsten Anlass die Tränen in die Augen treibt. Ich fühle mich, als schäle man mir das Herz aus dem Leib. Wie eine Zwiebel, von der man Schicht um Schicht abtrennt, bis nichts mehr übrig ist, außer den lebensnotwendigen Funktionen.
In diesen Stunden spüre ich diese besondere Nähe zu dir, die geprägt ist von Enttäuschung, Verzweiflung und tiefer Sehnsucht. Auch meine Wut darüber, dass du mich zurückgelassen hast, schleudere ich dir entgegen. Doch du antwortest nicht.
Du gingst, obwohl ich dich so sehr brauchte. Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, dass du für immer aus meinem Leben verschwunden warst und nichts blieb wie es war. Fortan ging es rasant bergab. Ich fühlte mich verlassen, hilflos und vollkommen orientierungslos.
Was mir jedoch am meisten zu schaffen machte, war, dass niemand mit mir sprach. Niemand erklärte, was geschehen war, oder fragte nach meinem Befinden. Papa tat so, als hättest du nie eine Rolle in unserem Leben gespielt. Er glaubte tatsächlich, ich würde dich vergessen. Auf diese Weise machte er alles nur schlimmer. Viel schlimmer. Vielleicht hätte ich irgendwann deinen Tod akzeptieren und darüber hinwegkommen können, jedoch alleine durch Ignoranz und Verdrängung, so wie er es vorlebte, funktionierte das bei mir nicht. Also vergrub ich den Schmerz sehr tief in meinem Herzen und versuchte fröhlich zu sein.
Ein Jahr später heiratete Papa wieder und ich bekam eine Stiefmutter. Ich wollte keine neue Mutter, denn natürlich konnte niemand deine Liebe ersetzen. Es fragte mich aber keiner, wie ich mich dabei fühlte. Es war, wie man damals so schön sagte, eine Vernunftehe. Was daran vernünftig sein sollte, ist mir bis heute schleierhaft.
Nach deinem Tod lernte ich vor allem eins: Es ist wichtig die Fassade aufrecht zu erhalten. Aber es gelang mir nicht. Von Tag zu Tag wurde ich trauriger und stiller. Ich zog mich immer mehr zurück. Viel Zeit verbrachte ich alleine auf meinem Zimmer, wo ich auf dem Bett lag und mir Geschichten ausdachte, die stets ein happy end hatten.
Als mich Papa einmal weinend dort fand, schloss er die Tür und setzte sich zu mir. Ohne nach dem Grund für meine Tränen zu fragen, sagte er: „Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist, aber du musst Mami vergessen. Glaub mir, das ist das Beste.“
Damit stand er auf und verließ das Zimmer. Keine Berührung, keine Erklärung, kein Trost. In dem Moment geschah es: Mein Magen wurde zu einem Eisklumpen und mein Herz pochte laut gegen die Rippen. Ich fiel in eine Schockstarre, aus der ich nie wieder ganz herauskam. In meiner Verzweiflung richtete ich die Wut, die in mir brannte, gegen mich selbst. Zu groß war meine Angst, auch ihn zu verlieren.
So tat ich alles was von mir verlangt wurde, ohne Rücksicht auf meine Gefühle. Irgendwann spürte ich nichts mehr. Ich spielte einfach mit in dem Theaterstück „Fassadenerhaltung“. Das gelang mir, denn im Schauspielern war ich richtig gut. Dafür hätte ich einen Preis verdient. Den bekam ich aber nicht. Stattdessen wurde das Loch in meinem Herzen täglich größer. Ich vermisste dich so sehr. Am meisten fehlte mir die Ruhe und Geborgenheit, so wie das Gefühl, gewünscht zu sein. Mein Leben verlief nicht wie du es gewollt hättest. Das spürte ich und konnte dennoch nicht entkommen.
Meine einzige Chance war, einen Panzer um mein Herz zu bauen. Einen dicken, harten und unüberwindbaren Panzer. Undurchdringbar. Niemand sollte meine tiefe unerfüllte Sehnsucht sehen, denn die durfte ich ja nicht haben. Niemand sollte mir zu nahe kommen. Niemand, den ich liebte, sollte mir noch einmal so weh tun.
Heute, viele Jahre später, bröckelt der Panzer. Ich spüre wieder Glück in meinem Herzen. Die Sehnsucht bleibt.
Kommentar: Traurig.