Читать книгу Zyklische Veränderungen der modernen Zivilisation und Wirtschaft - Christoph Obermaier - Страница 7
Оглавление1. Zum bisherigen Modell der großen Zyklen in der Wirtschaft und dessen Klärungsbedarf
1.1. Zusammengesetzt aus Befunden und Erklärungen
Warum kommt es im Wirtschaftsgeschehen zu Einbrüchen, Störungen, Schwankungen? Bis heute wird über die Theorie der großen Konjunkturzyklen diskutiert (der sog. Kondratieff-Zyklen, Kondratieff-Wellen). Demnach gibt es unterschiedlich günstige Zeiten, für die man plastisch die Begriffe „Kondratieff-Sommer“ und „Kondratieff-Winter“ geprägt hat: einen Wechsel von Expansion und Kontraktion. [8]
Kondratieffs elementare Beobachtungen
Die Theorie der großen Zyklen erhielt ihre Gestalt durch Kondratieff und Schumpeter. Erstmals hatte vor 90 Jahren Nikolai Kondratieff seine Beobachtungen bekannt gemacht: In verschiedenen Aufsätzen (davon zwei auf Deutsch) veröffentlichte er sein seither vieldiskutiertes Konjunkturmodell. [9] Gegründet auf statistische Forschungen, war er zu einem neuen Bild des wirtschaftlichen Prozesses gelangt: Offenbar nimmt dieser keine kontinuierliche Entwicklung; vielmehr vollzieht sich der Konjunkturverlauf in großen Wellen (Zyklen) – mit ungefähr zwei Zyklen je Jahrhundert.
Exkurs: Prognostisch erfolgreich
Diese entdeckte Gesetzmäßigkeit ermöglichte Kondratieff, für die Mitte des 20. Jahrhunderts einen erneuten großen Aufschwung vorherzusagen: einen vierten Zyklus (nach seiner Zählung), wie er tatsächlich eintrat und damit die Prognose in überwältigender Weise bestätigte – man denke an Begriffe wie „Wirtschaftswunder“ und „Golden Age“ (Eric Hobsbawm). Und auch der Abschwung in den 1970ern sowie ein fünfter „Kondratieff“ in den letzten Dekaden des Jahrtausends fügte sich in das Schema der Zyklen ein. [10]
Nikolai Kondratieff, ursprünglich Jurist, hatte in der russischen Revolution kurzzeitig ein hohes Regierungsamt bekleidet und dann ein eigenes Institut zur statistischen Wirtschaftsforschung gegründet. Vergleichende Analysen von Wirtschaftsdaten ab den 1780er Jahren bis in seine Zeit führten ihn zu seiner neuen Theorie: zur Einsicht, dass es zeitlich-großräumige (zyklische) Schwankungen in der kapitalistischen Wirtschaft (der wichtigsten modernen Länder) gibt: lange „Wellen“ der Konjunktur. [11]
Feststellung langer Zyklen (Wellen)
Für Kondratieff stand im Vordergrund, diese Zyklizität zu beweisen bzw. zu erhärten: „Wir betonen, dass wir diesen Regelmäßigkeiten nur empirischen Charakter beilegen und dass wir keineswegs meinen, in ihnen läge eine Erklärung der langen Wellen.“ [12]
Dabei ging er nicht nur ökonometrisch, sondern auch geschichtsanalytisch vor. Der erste Aufsatz (von 1926) vermeidet jede Kausaltheorie – außer in abwehrender Hinsicht. Wie Kondratieff eingehend – und ganz richtig – betonte, spricht der festgefügte zyklische Charakter dagegen, dass zufällige Vorgänge diese konjunkturellen Schwankungen ausgelöst haben könnten. [13] Sie können nicht auf „'äußeren', 'zufälligen', 'episodischen' Ursachen“ [14] beruhen – weder neuen Technologien noch Kriegen und Revolutionen noch Einbeziehungen von Neuländern in die Weltwirtschaft noch der Vergrößerung der Goldgewinnung. [15] –
In seinem späteren Werk standen also „endo-ökonomische“ Ursachen im Fokus: Investitionszyklen (durch Konkurrenz angetrieben), die zur ansteigenden Welle, dann zum Überangebot, dann zu Syndromen eines problematischen Wirtschaftszustandes führen, bevor eine Rückbildung einsetzt, woran sich der nächste Zyklus anschließt. [16]
Messung – und Erklärung
Wenig später, in den 1930ern, befasste sich Joseph A. Schumpeter mit den großen „business cycles“ [17]. Aus der österreichischen Grenznutzenschule hervorgegangen, später in Bonn, war er damals bereits in Harvard und galt als einer der international führenden Ökonomen [18]. In Anknüpfung an Kondratieff entwickelte er die vorherrschende Erklärung dieser Zyklen: nämlich durch industrielle Basisinnovationen (Schlüsselinnovationen) – auf die nun der Investitionszyklus bezogen wurde.
Auf Schumpeter geht der Vorschlag zurück, diese Zyklen nach Kondratieff als ihrem ersten Beobachter zu benennen, der damals, wie viele andere sowjetische Wirtschaftsforscher, dem großen Terror der Dreißigerjahre zum Opfer gefallen war.
Vertiefung: Schlüsselinnovationen und Investitionen in sie
Schumpeters Deutung hat den Vorzug, eine stärkere Erklärung anzubieten: Basierend auf technologischen Revolutionen, die die gesamte Wirtschaft beflügeln, wird ein darauf bezogenes zyklisches Geschehen ausgelöst: von zunächst besonders glücklichen Investitionen – später, wenn die Märkte mehr und mehr mit den neuen Produkten gesättigt sind – zu immer weniger rentablen Investitionen in diese Produkte.
Eine Beobachtung war für ihn augenfällig und leitete seine Theoriebildung:
Die Wirtschaftsentwicklung der modernen Welt ist höchst „innovationsgetrieben“: Nur so entstand die industrielle Produktion. Dabei gab es je Zyklus einige wenige prägende technisch-wissenschaftliche Innovationen (heute als general purpose technologies bezeichnet), die je neue Industrien begründeten: ab 1780 die Dampfmaschine, Textil- und Bekleidungsindustrie; um 1850 einsetzend, die Eisenbahn, Stahl, Transport; um 1900 die Elektrizität, Chemie, die aufsteigende Automobilindustrie und Petrochemie usw.
Durch Investitionen in diese basalen neuartigen Produkte wurde der Aufschwung befeuert, der wiederum vielfältige weitere, die Wirtschaft belebende Innovationen, Bedürfnisse, Käufe nach sich zog.
Der Übergang vom „Kondratieff-Sommer“ zum „Kondratieff-Herbst“, also der fallenden Periode des jeweiligen Zyklus, wird durch allmählich abnehmende Erträge von (zu) spät getätigten Investitionen erklärt; dazu kämen verschärfende Faktoren wie etwa Kreditausfälle.
Vertiefung: Zwei Theorien
Die sog. Theorie der langen Wellen erweist sich somit, bei näherer Beschäftigung mit ihr, als Verbindung von (mindestens) zwei sehr unterschiedlichen Theorien:
Die eine (auf Kondratieff zurückgehend) gilt der ökonometrischen, aber auch geschichtsanalytischen Feststellung langer Zyklen.
Die andere Theorie versucht, diese Zyklen zu erklären: u.a. (in der Deutung von Schumpeter) als Folge von technischen Innovationen. Und in gewisser Weise ist diese erklärende Theorie ihrerseits ein hybrides Gebilde aus unterschiedlichen Theorieelementen.