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August 1924

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„Fritzchen ist reingefallen!“, schrie die sechsjährige Marianne, „Tante Ruth, Tante Ruth, komm schnell!“

In panischer Angst rannte das Mädchen den Abhang hinauf zu der prächtigen Villa im Graimbergweg, die die Familien Wiechmann und Rosenbaum schon seit mehr als zehn Jahren gemeinsam bewohnten.

Ruth Rosenbaum saß an diesem heißen Augusttag bei offenem Fenster mit einer Strickarbeit in ihrem Wohnzimmer im ersten Stock, das zum Garten lag. Als sie das schreiende Kind auf das Haus zu laufen sah, schreckte sie auf, warf ihr Strickzeug hin und rannte die Treppe hinunter. In der Tür zum Garten stieß sie fast mit Marianne zusammen.

„Kind, was ist passiert?“

„Fritzchen ist – zum Teich – gelaufen – und ist reingefallen“, stieß sie weinend hervor.

„Du solltest doch aufpassen!“, schrie Ruth Rosenbaum, stieß sie zur Seite und hetzte, ohne weiter auf sie zu achten, zwischen den Apfelbäumen hindurch zum Gartenteich in der hinteren Ecke des Grundstücks hinunter. Am Rand kniete ihr kleiner Sohn, der dreijährige Emanuel, und versuchte weinend, mit seinen kleinen Händen Fritzchen zu erreichen. Aber seine Arme waren zu kurz. Die Mutter riss ihn weg, so dass er laut aufschrie.

„Nicht, dass du mir hier auch noch reinfällst!“

Sie sprang in den Teich, dessen Wasser ihr bis zu den Knien reichte, zog das Kind heraus und legte es auf den Rücken neben die Beckenumrandung. Sie schlug leicht auf seine Wangen.

„Fritzchen, aufwachen! Fritzchen, mach schon!“

Aber das Kind atmete nicht mehr. Die gelernte Krankenschwester legte ihren Mund auf den Mund des Kindes, blies heftig Luft in die Lungen und begann dann mit den Handballen in schnellen, rhythmischen Bewegungen den Brustkorb zusammenzudrücken und wieder loszulassen. Marianne und Emanuel standen mit bleichen Gesichtern daneben und sahen ihr angstvoll zu.

„Was steht ihr hier herum? Marianne, du kannst schon telefonieren. Lauf ins Haus und ruf Dr. Milbraadt an. Sag ihm, was passiert ist. Er muss sofort kommen! Sofort!“

Während Marianne loslief, hockte sich Emanuel neben seine Mutter und begann ganz sacht Fritzchens Füße zu streicheln.

Ruth Rosenbaum setzte mit sicheren Handgriffen Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung fort. Es war ein großes Glück, dass sie genau wusste, was zu tun war.

Sie lief im Gesicht rot an und ihr Atem ging hektisch. Mein Gott, mein Gott, lass ihn wieder aufwachen! Ich bin schuld, wenn er stirbt. Ich hätte besser aufpassen müssen, hätte die Kinder nicht alleine lassen dürfen. Sind noch zu klein. Wie soll ich das Paul und Maria erklären? Wie lange mag Fritzchen schon im Wasser gelegen haben? Vielleicht hatte ja alles keinen Sinn mehr. Sie versuchte, diese Gedanken beiseite zu schie­ben, und arbeitete mechanisch weiter.

Bald kam Marianne zurück und sagte ganz schüchtern: „Dr. Milbraadt kommt in zwei Minuten.“

Ruth Rosenbaum nahm das gar nicht wahr und sie achtete auch nicht darauf, dass ihr zweites Kind, die knapp einjährige Hannah, die in ihrer Wiege neben der Tür zum Garten lag, plötzlich fürchterlich zu schreien anfing. Verbissen fuhr sie mit ihren Wiederbelebungsversuchen fort: Drücken – loslassen – drücken – loslassen, nach vier Mal Luft in die Lungen blasen und wieder ausströmen lassen.

Dann die Erlösung: Durch den kleinen Körper ging plötzlich ein Ruck und Fritzchen schnappte nach Luft. Sie drehte das Kind auf die Seite und es spuckte viel Wasser. Erleichtert atmete Ruth Rosenbaum tief durch. Die größte Gefahr schien gebannt. War doch noch einmal alles gutgegangen?

In diesem Augenblick kam ein wohlbeleibter älterer Herr, trotz der Hitze mit einem dunklen längsgestreiften Anzug, weißem Hemd und graukarierter Weste bekleidet, heftig keuchend und völlig verschwitzt den Abhang herunter gelaufen. Es war Dr. Milbraadt, der langjährige Hausarzt der beiden Familien.

„Wie sieht es aus?“, fragte er erregt.

„Gerade eben hat er wieder zu atmen angefangen.“

„Dann danken Sie Gott, dass Sie Krankenschwester gelernt haben. Wenn ich jetzt erst mit der Wiederbelebung beginnen würde, wäre es wahrscheinlich zu spät. Wie lange stand das Herz still?“

„Ich weiß es nicht genau, aber einige Minuten waren es schon.“

Dr. Milbraadt kniete sich mühsam neben den Jungen, sah in seine Augen und fühlte nach dem Puls, der schnell und unregelmäßig ging.

„Wir sollten ihn auf jeden Fall in die Klinik bringen und dort eine Weile beobachten lassen. Wenn es Ihnen recht ist, kann ich das selber machen. Ich habe ja seit drei Monaten meinen Laubfrosch, den Opel1. Ich werde den Kleinen gleich in die Kinderklinik2 fahren.“

„Das ist wunderbar. Haben Sie noch einmal ganz herzlichen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind.“

„Aber beste Frau Rosenbaum, das war doch ganz selbstverständlich.“

„Und – Fritzchen wird doch wieder ganz gesund?“

„Das weiß Gott allein“, entgegnete Dr. Milbraadt zögernd. „Entscheidend ist, wie lange die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn tatsächlich unterbrochen war. Wir müssen einfach hoffen.“

Er griff das Kind vorsichtig unter Schultern und Knien und trug es langsam den Hang hinauf. Es schien zu schlafen. Ruth Rosenbaum folgte mit den beiden anderen Kindern in einigen Schritten Abstand. Dr. Milbraadt legte den Jungen auf die Rückbank seines Wagens.

„Ich sollte jetzt eigentlich mitfahren“, sagte Ruth Rosenbaum nervös, „aber ich kann die drei Kleinen ja nicht allein lassen – und ich muss der Mutter sagen, was passiert ist.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte sie Dr. Milbraadt, „ich werde mich um Fritz kümmern, als ob es mein eigener Sohn wäre. Ich rufe Sie an, wenn ich weiß, wie es mit ihm weitergeht.“

Er schloss die Türen seines Autos und fuhr Richtung Schloss davon. Als er hinter der ersten Kurve verschwunden war, registrierte Ruth Rosenbaum endlich, wie heftig die kleine Hannah schrie. Marianne hatte schon die Wiege in Bewegung gesetzt, um sie zu beruhigen. Aber das half nichts. Jetzt nahm die Mutter Klein-Hannah hoch und drückte sie an sich. Genau das schien sich die Kleine gewünscht zu haben. Schlagartig hörte sie auf zu weinen und sah ihre Mutter mit ihren großen braunen Augen freudestrahlend an. Da vergaß Ruth Rosenbaum für einen Moment den Schrecken, der ihr immer noch in den Gliedern steckte.

Aber dann war die Angst wieder da. Sie musste jetzt gleich Maria, Fritzchens Mutter, anrufen. Die arbeitete zweimal in der Woche in der Buchhandlung Braun in der Hauptstraße. Sie musste ihr sagen, was geschehen war. Wie konnte sie sich rechfertigen? Gar nicht. Sie hätte einfach besser aufpassen müssen. Aber vielleicht wurde ja doch wieder alles gut.

Was sich aus ihrer Nachlässigkeit tatsächlich einmal entwickeln sollte, ahnte sie nicht. Und das war sicher gut so.

1 1924 brachte Opel das erste in Massenproduktion am Fließband gefertigte Auto auf den Markt. Es erhielt den Spitznamen „Laubfrosch“.

2 Die Kinderklinik lag damals in der Luisenstraße, Nähe Bismarckplatz. 1951 ist sie ins Neuenheimer Feld umgezogen.

Metastasen eines Verbrechens

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