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Dienstag, 20. August 2013

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Zurzeit war sein Stress besonders groß. Bereits am kommenden Samstag musste er seinen Entwurf für den Neubau einer großen Industrieanlage in Frankfurt präsentieren. Auftraggeber war die Firma DRAGO, ein weltweit operierender Anlagenbauer. Wenn er den Zuschlag bekäme, würde er dadurch gewissermaßen in die Bundesliga seiner Zunft als Architekt aufsteigen. Er könnte mit vielen lukrativen Anschlussaufträgen rechnen, mit anderen Worten: Es wäre ein Quantensprung in seiner Karriere.

Aber vielleicht war dieses Projekt für eine Einzelperson doch eine Nummer zu groß. Es gab noch unendlich viel zu tun, und langsam geriet er in Panik. Er wusste, dass sich auch renommierte Kollegen bewerben würden. Aber er wollte unbedingt gewinnen. Ohne Rücksicht auf seine Gesundheit hatte er schon mehrere Nächte hintereinander durchgearbeitet und dabei literweise Kaffee in sich hinein geschüttet. Aber dann ging es einfach nicht mehr. Die Bilder auf dem Monitor begannen plötzlich wild zu tanzen. Aber er wusste sich zu helfen. Schräg gegenüber von seinem Büro in der Friedrichstraße lag das Kurpfälzische Museum*. Schon seit Jahren hatte er dort immer wieder Entspannung gesucht, wenn ihn seine Kraft verließ.

Er pflegte sich dann für eine Stunde oder zwei vor eins seiner Lieblingsbilder zu setzen, etwa das Gemälde eines unbekannten Künstlers vom Hofnarren Perkeo mit einem Mandrill1 oder auch das Porträt eines unbekannten älteren Mannes, in dem er sein Spiegelbild sah, obwohl er gar keine äußere Ähnlichkeit mit ihm hatte. Sehr faszinierten ihn auch die Bilder zweier italienischer Künstler von der grandiosen Architektur Venedigs im hellen Licht der mediterranen Sonne. Im Saal der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts waren es die Bilder von Carl Hofer2, die Ruhenden Mädchen, deren vollkommene Entspannung immer ansteckend auf ihn wirkte, und die Obststillleben aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, in denen er tief verborgen die zunehmend bedrückende Atmosphäre ihrer Entstehungszeit zu erkennen glaubte.

Jedes Detail dieser unvergleichlichen Kunstwerke versuchte er in sich aufzunehmen, die vollendete Harmonie seiner Proportionen zu erfassen, um dann schließlich nichts mehr zu bewerten, zu erkennen, zu bewundern, zu verstehen, sondern einfach nur noch zu schauen. Danach fühlte er seinen Geist so gereinigt, dass er wieder gestärkt an seine Arbeit zurückkehren konnte.

Wenn er besonders erschöpft war, setzte er sich vor das Prunkstück des Museums, den von Tilman Riemenschneider3 geschnitzten Zwölfbotenaltar4.

Dort saß er auch an diesem Dienstag. Er ließ seine Augen, wie schon so oft, über die Gesichter der verschiedenen Figuren schweifen, und wieder gelang es ihm nicht, deren Ausdruck auch nur annähernd in Worte zu fassen. Sie sprachen allein durch ihre Bildkraft zu ihm, und je länger er schaute, umso lebendiger wurden sie für ihn. Es war ihm, als träte er mit ihnen in einen wortlosen Dialog.

Schon lange saß er hier. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ganz weit weg waren die Pläne für die Industrieanlage. Er befand sich in einer Art Zwiegespräch mit der Figur des Petrus: Wie fühlst du dich, direkt neben dem Herrn, fragte er ihn. Und Petrus antwortete ihm:

Ja, ich stehe neben dem Herrn … ich bin eingebunden in das Kollegium der Jünger … aber dennoch fühle ich mich einsam … wage nicht zum Herrn aufzuschauen … will nicht mit dem Blick einem der Brüder begegnen … da ist die Sehnsucht nach etwas Fernem … etwas das tief unter mir liegt … der Himmelsschlüssel in der Hand macht mir Angst … ich habe nicht den Mut, ihn richtig festzuhalten … er droht mir zu entgleiten … ja, ich bewundere den Herrn … aber dennoch habe ich kein Vertrauen in die Zukunft … es wird alles zuschanden werden … der Traum einer besseren Welt wird sich nicht erfüllen …

Da betrat jemand den Raum und blieb hinter ihm stehen. Aber die Petrusfigur hielt ihn so gefangen, dass er es nicht merkte. Er hörte ganz kurz ein pfeifendes Geräusch, spürte noch einen Stich im Hinterkopf und die Gesichter des Altars verschwammen im Nichts.

*

„Wie geht es der Syrerin?“, fragte Hauptkommissar Travniczek in die Runde, als sie in ihrem Büro zur Morgenbesprechung zusammengekommen waren.

„Soweit ich weiß“, begann Melissa Siebert, „liegt sie weiter im Koma. Die Ärzte meinen, man kann nur hoffen. Aber – sie haben fremde DNA-Spuren an ihrem Körper gefunden. Die sind auf dem Weg hierher. Vielleicht gehören die ja zu jemandem, den wir kennen.“

„Schön wär‘s“, entgegnete Travniczek skeptisch, aber auch verärgert. „Ich bin allerdings wenig optimistisch. Breithaupt hat ja auch nichts Brauchbares gefunden. Grundmann meint, wahrscheinlich mussten da irgendwelche Neulinge eine Mutprobe ablegen. Die sind natürlich noch nirgends registriert. Wenn die Verkehrspolizei besser reagiert hätte, ständen wir jetzt anders da.“

„Aber wenigstens wird das Heim jetzt videoüberwacht“, meinte Brombach. „Da wird sich so etwas wohl nicht wiederholen.“

„Immerhin etwas. Aber – habt ihr wenigstens was zu diesem Lewandowski herausgefunden?“, fragte der Chef ungeduldig.

„Ich hab versucht, Näheres über diesen Reiterhof bei Neckargemünd in Erfahrung zu bringen“, sagte Melissa Siebert. „Es ist eigentlich ein kleines Schloss und läuft unter dem Namen ‚Zum deutschen Ross‘. Dort residieren Graf Dr. Baldur und Gräfin Reinhild von Blauwitz. Der Dame des Hauses geht es wohl vor allem darum, Jugendliche mit Pferden zusammenzubringen, im Reiten eine Seeleneinheit zwischen Mensch und Tier herzustellen. So irgendwie stand das jedenfalls auf deren Homepage. Neben ganz normalen Reitstunden werden auch Reiterferien für verschiedene Altersgruppen angeboten. Interessanter für uns ist der Herr Graf. Er ist 1942 geboren, also noch während des Dritten Reichs. Und er ist politisch aktiv als Schatzmeister der DND Baden-Württemberg. Ich hab auch noch in der Verwandtschaft recherchiert. Dabei bin ich auf den Vater des Grafen gestoßen: Graf Ferdinand von Blauwitz. Der war ein hohes Tier in der Waffen-SS: Obergruppenführer, entspricht einem heutigen Drei-Sterne-General. Der hat wohl mehrere schwere Kriegsverbrechen befohlen. Im Juni 1944 ist er gefallen.“

„Haben Sie die derzeitige politische Tätigkeit von Blauwitz genauer recherchiert?“, fragte Travniczek weiter.

„Ja, aber ohne brauchbares Ergebnis. Ich hab eine Bekannte in dem für rechtsradikale Umtriebe zuständigen Kommissariat. Blauwitz und dieser Reiterhof ist denen schon aufgefallen. Aber von Blauwitz gibt es keine politischen Äußerungen in der Öffentlichkeit, die strafbar wären. Und es gäbe zwar Hinweise auf dubiose Treffen in diesem Hof, aber das wär zu wenig, um dagegen vorgehen zu können.“

„Oder da sind mal wieder welche auf dem rechten Auge blind“, meinte Lange. „der NSU lässt grüßen.“

„Dann müssen wir den Hof eben eine Zeitlang selbst beschatten“, schlug Brombach vor.

„Langsam“, bremste Travniczek, „vorher hätte ich gern erst noch andere Informationen. Was habt ihr über Fritjof Fries?“

„Nichts, was einen konkreten Anhaltspunkt für uns ergeben würde“, erklärte Lange. „Nach den vorliegenden Unterlagen wurde er am 3. Februar 1923 in Mannheim geboren. Als Soldat der Wehrmacht an der Westfront eingesetzt, war er am 19. Oktober 1944 auf Heimaturlaub. In dieser Nacht kam es zu einem der schwersten Luftangriffe auf Mannheim. Er hat dabei wohl seine gesamten Papiere verloren. Ab 1. Februar 1946 war er in Hamburg gemeldet. Am 1. April 1950 ist er dann nach Argentinien ausgewandert. Er war dort als Geschäftsmann tätig.

Am 15. Mai 2003 ist er nach Deutschland zurückgekehrt und lebt seitdem hier im Michaelistift. Ich hab keinerlei Hinweise gefunden, dass er an irgendwelchen illegalen Dingen beteiligt war oder ist. Auch hat er keine relevante Nazivergangenheit. Bei der Entnazifizierung wurde er als Mitläufer eingestuft.“

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Frau Siebert ging an den Apparat und kam schnell wieder zurück.

„Es gibt Arbeit für euch. Im Kurpfälzischen Museum wurde eine männliche Leiche gefunden, erschossen.“

„Weiß man, wer es ist?“, fragte der Chef.

„Nein, bis jetzt noch nicht. Der Tote hatte wohl keine Papiere bei sich.“

„Dann machen wir uns auf den Weg.“

*

Auf der Fahrt zum Kurpfälzischen Museum war Travniczek noch mit den Gedanken bei ihren letzten Untersuchungen. Er vertraute Lewandowskis Instinkt. Aber wenn dieser Fritjof Fries tatsächlich ein Naziverbrecher war, wie würde man ihm jetzt noch beikommen können? Die meisten Spuren waren doch unwiederbringlich zerstört. Sicher, es hatte spektakuläre Fälle der Entdeckung gegeben. Aber wie viele konnten sich bis zu ihrem Lebensende in Sicherheit bringen? Wahrscheinlich mehr als man glaubt. Er merkte, wie schwer es ihm fallen würde, hier mit der nötigen Distanz zu ermitteln. Er erinnerte sich, wie er als Zehnjähriger beim Stöbern in alten Familienalben ein uraltes Hochzeitsfoto gefunden hatte. Seine Mutter hatte ihm daraufhin erklärt, das sei sein Opa, der im Krieg gefallen war, mit seiner ersten Frau. Die wäre kurz nach der Hochzeit gestorben. Er hatte bereits damals gespürt, dass da irgendetwas nicht stimmte. Sehr viel später fand er dann heraus, was tatsächlich geschehen war. Auf diesem Foto war ein Verräter abgebildet. Er war damals sehr wütend auf seine Eltern, dass sie ihm nie die Wahrheit gesagt hatten. Er wusste, um Lewandowskis Verdacht genau abzuklären, würde er notfalls auch nach Argentinien fliegen. Das war er dieser Frau schuldig.

Sie waren über den Uniplatz gefahren, in die Hauptstraße eingebogen und hielten vor dem Museum. Scheint ein Barockbau zu sein, dachte Travniczek, als sie durch das von korinthischen Säulen flankierte und mit einem Balkon überdachte Eingangstor eilten. Ein Durchgang führte sie auf die Rückseite des Gebäudes in den Museumsgarten. Hier befand sich der eigentliche Eingang. An dem Original der Kornmarktmadonna* vorbei kamen sie in den ersten Stock, durchquerten einige Räume, ohne auf die Exponate zu achten, und erreichten einen fast quadratischen Saal, dessen Wände tiefrot gestrichen waren. In diesem Raum befand sich ein einziges Ausstellungsstück, das die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog: der Zwölfbotenaltar von Tilman Riemenschneider.

Travniczek musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er noch nie in diesem Museum war, obwohl er jetzt schon fast ein Jahr in Heidelberg lebte. Im Raum waren die in Schutzanzüge gehüllten Mitarbeiter der Spurensicherung bei der Arbeit. Aber der erste Blick des Kommissars ging zum Altar, und sogleich zogen ihn die individuell gestalteten Gesichter der einzelnen Figuren in ihren Bann. Es fiel ihm schwer, sich davon loszureißen und auf die auf dem Bauch liegende Leiche zu sehen. Der Gerichtsmediziner, Dr. Melchior, war schon bei der Arbeit.

„Können Sie schon etwas sagen?“, fragte Travniczek vorsichtig, denn er wusste, wie empfindlich Melchior reagieren konnte, wenn er bei der Arbeit gestört wurde.

„Eine Sache ist diesmal gleich klar. Der Tod ist vor maximal einer Stunde eingetreten. Aufgesetzter Schuss in den Hinterkopf, sicher mit Schalldämpfer, eine Art Hinrichtung.“

„Das bedeutet, der Tote ist wenige Minuten nach der Tat gefunden worden.“

„Sieht so aus.“

In diesem Augenblick versuchte ein kleiner, wohlbeleibter Herr mit Halbglatze, angetan mit einem dunkelblauen dreiteiligen Maßanzug und weinroter Krawatte, in den Raum zu gelangen, wurde aber von einem der Ermittler recht unsanft daran gehindert.

„Ich muss unbedingt den für die Ermittlung hauptverantwortlichen Polizisten sprechen!“, schimpfte er mit durchdringender Tenorstimme. Travniczek sah zu ihm hinüber und ging auf ihn zu.

„Lasst den Mann durch“, sagte er zu seinen Mitarbeitern. An den kleinen Dicken gewandt fuhr er fort: „Mit wem spreche ich bitte?“

„Ich bin Dr. Dr. Justus Semmelroth, Direktor des Museums. Sind Sie der leitende Ermittler?“

„Ja, der bin ich, Joseph Travniczek.“

„Können Sie schon sagen, was hier eigentlich passiert ist?“

„Mehr als Sie selbst sehen auch nicht. Hier wurde ein Mann am helllichten Tag erschossen. Aber ich hoffe, dass Sie bzw. Ihre Mitarbeiter mir helfen können, mehr zu erfahren. Rufen Sie bitte alle zusammen, die hier heute Morgen bis jetzt Dienst hatten. Ich will sie in spätestens einer Viertelstunde sprechen.“

„Muss das wirklich jetzt gleich sein? Wir stehen doch alle noch unter Schock.“

„Ja, das muss jetzt gleich sein. Ein Mord ist immer ungemütlich, da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Wo sind übrigens die Museumsbesucher, die zum Zeitpunkt der Tat hier waren?“

„Die habe ich alle weggeschickt.“

„Das hätten Sie nicht tun sollen. Das sind ja alles potentielle Zeugen, die wir befragen müssen.“

„Ja, woher soll ich das denn wissen? Mir ist jetzt vor allem wichtig: Wann können wir das Museum wieder öffnen?“

„Das wird auf jeden Fall dauern. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss hier meine Arbeit machen.“

Travniczek drehte sich abrupt um.

„Dummkopf“, brummte er vor sich hin und erschrak über sich selbst, weil er nicht sicher sein konnte, dass der Herr Direktor das nicht gehört hatte. Aber dann kam ihm der Gedanke: Vielleicht ist der gar nicht so dumm, sondern tut nur so.

„Das hier ist Herr Walter Hauschild“, sagte Brombach zu Travniczek, der sich wieder dem Geschehen am Tatort zugewandt hatte. „Er ist der Aufseher, der den Toten gefunden hat.“

Hauschild war ein kleiner Mann, wohl in den Sechzigern, gebeugter Rücken, schütteres, ergrautes Haar. Er wirkte sehr verstört.

„Herr Hauschild“, sprach ihn der Hauptkommissar freundlich an. „Ich verstehe, dass Sie etwas mitgenommen sind. Ich würde Ihnen aber trotzdem gern einige Fragen stellen. Wie haben Sie den Toten gefunden?“

„Also, ich arbeite hier schon seit über fünfundzwanzig Jahren. Aber so etwas hab ich noch nicht erlebt.“

„Das glaub ich Ihnen gern. Aber könnten Sie meine Frage beantworten?“

„Ja, gewiss. Ich bin für diesen und einige der benachbarten Räume zuständig. Ich pflege immer langsam von einem Raum zum anderen zu gehen und überall eine gewisse Zeit zu verweilen. Und als ich dann heute wieder einmal hier reinkam, sah ich den Mann mit gesenktem Kopf da sitzen. Und da war plötzlich all das viele Blut. … Ich bin furchtbar erschrocken. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was eigentlich los war, … und dann hab ich Hilfe geholt.“

„Wie lange waren Sie vorher nicht in dem Raum?“

„Höchstens zehn Minuten.“

„Ist Ihnen davor etwas Besonderes aufgefallen?“

„Nein, es war alles wie immer.“

„Und der Tote, war der da schon im Raum?“

„Ja, er saß da, ganz versunken in den Anblick des Altars. Ich kannte ihn vom Sehen. Er war öfters hier. Der Altar schien es ihm besonders angetan zu haben.“

„Wissen Sie vielleicht sogar, wie er heißt?“

„Nein, ich hab zwar hin und wieder ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber seinen Namen … nein, tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.“

„Wär auch zu schön gewesen. Eine letzte Frage. Die ist aber besonders wichtig: Ist Ihnen in den Minuten vor der Tat hier irgendein Besucher besonders aufgefallen oder haben Sie etwas gehört? Der Täter hat zwar mit Sicherheit einen Schalldämpfer benutzt, aber auch so ein Schuss ist nicht völlig geräuschlos.“

„Aufgefallen ist mir niemand besonders. Es sind zwar wie gewöhnlich einige Besucher durchgegangen. Aber das war alles ganz normal. Und gehört? Ehrlich gesagt, nichts. Meine Ohren sind nicht mehr die besten. Vielleicht lag es ja daran. Aber schauen Sie mal nach oben. Da ist eine Überwachungskamera. Die müsste den Mord eigentlich aufgezeichnet haben.“

*

Wenig später saßen die dreizehn Mitarbeiter des Museums, die gerade Dienst hatten, in einem Konferenzraum neben dem Foyer. Neun Frauen und vier Männer, die meisten schon in recht vorgerücktem Alter. Die Stimmung war gedrückt. Nur wenige unterhielten sich im Flüsterton. Sie konnten noch nicht so recht fassen, was hier gerade geschehen war. Als Travniczek und Lange den Raum betraten, verstummten die Gespräche mit einem Schlag.

„Meine Damen und Herren“, sagte Travniczek, „ich kann gut verstehen, dass Sie immer noch unter dem Eindruck des gerade Geschehenen stehen. Normalerweise haben Sie es hier mit den schönen Dingen des Lebens zu tun, und dann passiert ein Mord – mitten unter Ihnen.“

Hier hielt Travniczek kurz inne. Er musterte die Mienen der Anwesenden. Konnte einer von ihnen in die Tat verstrickt sein?

„Das Außergewöhnliche an diesem Fall ist die Dreistigkeit des Täters“, fuhr er dann fort. „Vielleicht sind es ja auch mehrere, das wissen wir noch nicht. Aber gehen wir zunächst einmal von einem Täter aus. Er muss als ganz normaler Museumsbesucher hier hereinspaziert sein, abgewartet haben, bis sein Opfer allein in dem Raum des Riemenschneideraltars saß, und hat ihn dann kaltblütig von hinten erschossen. Danach konnte er das Museum ungehindert verlassen oder sich unauffällig unter die übrigen Museumsbesucher mischen. Niemand hat etwas bemerkt. Wir können aber auch eine andere Möglichkeit nicht ganz ausschließen – ich kann Ihnen das nicht ersparen, auch wenn es für Sie schwer erträglich sein dürfte: Der Täter könnte – rein theoretisch – auch hier unter uns sitzen.“

Aufgeregtes Murmeln unter den Mitarbeitern. Einer der Jüngsten, sportliche Erscheinung mit kurzen, akkurat gescheitelten schwarzen Haaren und einem sehr kleingehaltenen, ebenso schwarzen Oberlippenbärtchen, sprang auf und schrie den Kommissar an: „Das ist doch unerhört! Sie können uns doch nicht einfach so verdächtigen!“

„Da muss ich Herrn Pflaumer beipflichten“, schaltete sich Dr. Dr. Semmelroth mit hochrotem Kopf ein. „Was sind denn das für Wildwestmethoden! Wir sind ein seriöses Haus mit langer Tradition. Alle Mitarbeiter sind sorgfältigst ausgesucht. Da lege ich für jeden Einzelnen meine Hand ins Feuer. Ich erwarte, dass Sie sich entschuldigen.“

Travniczek war sehr verblüfft über diese heftige Reaktion, fuhr aber ganz bedächtig fort: „Bitte beruhigen Sie sich. Es liegt mir fern, irgendeinen von Ihnen des Mordes zu verdächtigen. So kurz nach einer Tat habe ich überhaupt noch keinen Verdacht gegen jemand Bestimmtes. Ich frage jetzt nur danach, welche Möglichkeiten überhaupt bestehen. Und dabei darf es natürlich keine Denkverbote geben.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür. Brombach, der am Tatort geblieben war, sah herein und rief: „Chef, kommst du mal einen Moment? Es ist wichtig.“

Etwas unwirsch wegen dieser Störung sagte Travniczek zu den Anwesenden: „Entschuldigen Sie mich bitte“, und ging nach draußen.

„Michael, das kommt sehr ungelegen, was ist los?“

„Sorry, aber es ist wirklich wichtig. Wir wissen jetzt, wer der Tote ist.“

„Und?“

„Sein Gesicht ist zwar durch den Austritt der Kugel sehr verunstaltet, aber ich hab ihn trotzdem sofort erkannt. Es ist Benjamin Lewandowski.“

Travniczek war einen Moment sprachlos und knurrte dann: „Verdammt, das kann kein Zufall sein. Ich fürchte, das hat mit seinem Besuch bei uns letzte Woche zu tun. Wir haben seine Aussage nicht ernst genug genommen.“

1 Der Mandrill ist eine Primatenart aus der Familie der Meerkatzenverwandten. Er lebt in Regenwäldern Zentralafrikas und ist für seine rot-blau gefärbten Partien im Gesicht und am Gesäß bekannt, die ihn zum farbenprächtigsten aller Säugetiere machen.

2 Carl Hofer, * 11. Oktober 1878 in Karlsruhe; † 3. April 1955 in Berlin) war ein deutscher Maler des Expressionismus bzw. des expressiven Realismus.

3 Tilman Riemenschneider (* um 1460 in Heiligenstadt; † 7. Juli 1531 in Würzburg) war einer der bedeutendsten Bildschnitzer und Bildhauer am Übergang von der Spätgotik zur Renaissance.

4 Der im Jahr 1509 geschaffene Zwölfbotenaltar zählt zu Riemenschneiders bedeutendsten Arbeiten.

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