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Januar 1932

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Über Nacht waren mehr als zwanzig Zentimeter Schnee gefallen. Die Kinder der Familien Wiechmann und Rosenbaum waren glücklich und aufgeregt und nur schwer am gemeinsamen Frühstückstisch zu halten, bis alle fertig waren. Die neuen Schlitten, die sie zu Weihnachten bekommen hatten, standen noch unbenutzt im Flur. Die Kinder hatten schon Angst gehabt, sie dieses Jahr gar nicht einweihen zu können, war es doch an Heiligabend noch mehr als zehn Grad warm gewesen. Aber jetzt, am Tag nach Neujahr, war der Winter doch gekommen. Und noch waren Ferien.

Dann endlich: Vater Wiechmann erklärte das Frühstück für beendet. Die Kinder schossen los, zogen hastig ihre Gummistiefel an und die Mütter hatten es schwer, alle sieben davon zu überzeugen, auch Pudelmützen, Schals und Handschuhe anzuziehen.

Die beiden Ältesten, Marianne und Emanuel, waren als erste im abschüssigen Garten und steckten zwischen den Apfelbäumen eine geeignete Rodelbahn ab. Dann sausten die Kinder lange immer wieder den Abhang hinunter, allein auf einem Schlitten sitzend, auf dem Bauch liegend oder zu zweit. Manchmal kam es zu Kollisionen und die Kinder purzelten quietschend in den Schnee. Und auch das Nesthäkchen, die kleine Hedwig, die erst drei Jahre alt war, wurde mit in das übermütige Treiben einbezogen. Vor allem Hannah setzte sie immer wieder vor sich auf den Schlitten, um mit ihr den Abhang hinunter zu fahren, und ihr helles Kleinkinderlachen übertönte den übrigen Lärm.

Es war Emanuel, der irgendwann bemerkte, dass sich einzig Fritz an dem ausgelassenen Treiben nicht beteiligte.

„Seht mal!“, rief er den anderen Kindern zu. „Fritz hat mal wieder Schiss! Er traut sich nicht.“

Der Junge hatte die ganze Zeit in der Nähe der zum Garten führenden hinteren Haustür gestanden. Eigentlich wollte er loslaufen, um mit den anderen zusammen Schlitten zu fahren. Aber da war etwas, das ihn festhielt. Traurig sah er dem ausgelassenen Treiben zu.

Doch jetzt kamen sie alle auf ihn zu gelaufen. Einen Moment lang wollte er in das schützende Haus fliehen. Aber auch das gelang ihm nicht.

„Angsthase!“, schallte es ihm entgegen.

„Du fährst jetzt auch“, lachte ihn Marianne an, „das wäre doch noch schöner.“

Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn zu ihrem Startplatz. Fritz standen die Tränen in den Augen, aber er leistete kaum Widerstand. Seine große Schwester setzte ihn auf einen der Schlitten, Hannah drückte ihm die Schnur in die Hand und Emanuel gab ihm einen kräftigen Schubs.

„Jetzt geht’s abwärts!“

Die Kinder schauten ihm erwartungsvoll nach. Es kam, wie nicht anders zu erwarten. An der ersten Kurve, die sie in ihre Bahn eingebaut hatten, konnte er nicht richtig lenken. Der Schlitten stellte sich quer, kippte um und rollte mit Fritz den Abhang hinunter.

Mit großem Hallo liefen die Kinder zu ihm. Es war ihm nichts weiter geschehen. Aber er weinte heftig, lief nach oben und verschwand hinter der Haustür.

„Mit diesem Angsthasen ist einfach nichts anzufangen“, meinte Emanuel großspurig.

„Ihr dürft ihn nicht so ärgern, er ist und bleibt doch einer von uns!“, schimpfte da Hannah und stampfte so heftig mit dem Fuß auf, dass der Schnee nach allen Seiten spritzte. Emanuel, immerhin einen Kopf größer als sie, sah ihr eine Weile herausfordernd ins Gesicht, konnte dann aber ihrem Blick nicht standhalten. Er drehte sich zur Seite, griff nach einem Schlitten und fuhr bäuchlings nach unten.

Aber irgendwie hatten sie jetzt keine Lust mehr, noch weiter Schlitten zu fahren.

„Wir bauen einen Schneemann!“, schlug da Hannah begeistert vor und die anderen waren sofort Feuer und Flamme. Sie rollten drei unterschiedlich große Kugeln zusammen und setzten sie übereinander. Marianne und Emanuel machten sich daran, an den Seiten noch Schnee festzuklopfen, damit er Arme bekäme.

„Er braucht Augen, eine Nase, Ohren, Knöpfe auf der Brust, einen Hut, einen Besen in der Hand!“, riefen die Kinder durcheinander und wollten loslaufen, um sich auf die Suche zu machen.

„Ich hab hier schon alles!“, hörten sie plötzlich von weiter oben. Erstaunt sahen sie, dass Fritz wieder aus dem Haus gekommen war. Er hatte ihr Spiel beobachtet, war dann in den Keller gegangen, hatte zwei Handvoll Eierkohlen in einen alten Sack getan und einen ausrangierten Besen gefunden. Dann war er nach oben gelaufen, hatte aus der Speisekammer eine Mohrrübe geholt und dann noch aus dem großen Kleiderschrank im Schlafzimmer Papas alten Hut genommen, den der nicht mehr brauchte, weil Mama ihm einen neuen zu Weihnachten geschenkt hatte.

Die anderen Kinder staunten nicht schlecht, als Fritz mit seinen Schätzen stolz den Abhang hinunter stapfte. Zuerst setzte er dem Schneemann den Hut auf, dann steckte er ihm die Mohrrübe als Nase in den Kopf. Zwei Kohlen waren die Augen, drei weitere der Mund. Und er setzte sie so geschickt, dass der Schneemann jetzt mit lachendem Gesicht auf die Kinder sah. Dann machte er mit vier weiteren Kohlen Knöpfe auf seine Brust und steckte den Besen in die Seite. Er trat zurück und betrachtete sein Werk.

„Wie soll er heißen? Wir müssen ihm einen Namen geben!“, rief Georg laut.

„Fritz!“, schlug Hannah vor. „Er hat ihn schließlich so schön hergerichtet.“

„Das ist unfair!“, beschwerte sich Emanuel. „Die großen Schneeballen hätte er nie aufeinander bekommen. Das hab ich fast alleine gemacht.“

„Angeber!“, fuhr ihm Marianne über den Mund. „Ohne meine Hilfe hättest du das nie geschafft!“

„Hört auf zu streiten!“, ging Hannah wieder dazwischen. „Für mich heißt er Fritz. Fritz soll sich auch mal freuen können. Georg, Rachel, wie heißt unser Schneemann?“

„Fritz! Fritz!“, riefen die Kleinen. Hedwig verstand zwar noch nicht recht, worum es ging, schrie aber freudestrahlend mit.

„Wir tanzen jetzt um den Schneemann!“, rief da Hannah und nahm Fritz bei der einen Hand, die kleine Hedwig bei der anderen. Georg und Rachel schlossen den Kreis. Hannah improvisierte ein Lied:

„Wir tanzen um den Schneemann,

der heißt Fritz.

Schneemann Fritz, Schneemann Fritz,

du bist schön.“

Die anderen Tänzer fielen schnell mit ein, während Marianne mit Emanuel etwas betreten abseitsstand. Der maulte: „Ich hab jetzt keine Lust mehr“ und er ging langsam nach oben. Marianne folgte ihm nach einer Weile, während die anderen Kinder ausgelassen weitertanzten.

Da kam plötzlich ein Schneeball gegen den Schneemann geflogen und riss ihm den Hut vom Kopf.

„Kommt alle hoch!“, hörten sie Emanuel rufen. „Wir schießen mit Schneebällen auf Fritz, den Schneemann, das macht Spaß!“

„O ja, wir kommen!“, riefen Georg und Rachel und stürmten den Abhang hoch. Fritz und Hannah blieben unten. Weitere Schneebälle flogen. Die meisten verfehlten ihr Ziel. Doch dann schoss einer dem Schneemann die Mohrrübennase weg.

„Hört auf, hört auf, macht ihn nicht kaputt!“, rief Fritz weinerlich. „Bitte, bitte!“

Aber die anderen kümmerten sich nicht um ihn und warfen weiter. Da stellte sich Fritz tapfer vor seinen Schneemann, konnte einige Bälle abfangen und bekam auch welche ins Gesicht. Aber verhindern, dass der arme Schneemann mehr und mehr ramponiert wurde, konnte er nicht.

Hannah hätte Fritz gerne geholfen. Aber sie fühlte sich auch für die kleine Hedwig verantwortlich und konnte nicht eingreifen.

Da rief Emanuel von oben: „Guckt euch mal den Fritz an. Der ist auf einmal mutig geworden und will uns unsern Spaß verderben. Dem zeigen wir es aber!“

Die Kinder rannten nach unten, Emanuel vorne weg. Er riss Fritz um und hielt ihn rücklings am Boden liegend fest. Marianne formte mit beiden Händen einen großen Schneeball und seifte den hilflos Zappelnden ein. Dann steckte sie ihm auch noch Schnee hinten in den Nacken. Georg und Rachel warfen mit Schnee auf die ganze Gruppe. Aber Hannah schrie: „Ihr seid Feiglinge! Alle gegen einen! Ich hol jetzt die Mama!“

„Geh nur, alte Petze!“, gab Emanuel zurück und feixte. „Es ist aber niemand da! Die sind einkaufen gegangen!“

Und dann sah es Georg als Erster. Fritzens hellgraue Wollhose färbte sich im Schritt dunkel.

„Fritz hat in die Hose gemacht!“

Die anderen sahen erst ungläubig Georg an und dann auf Fritz. Das Malheur war nicht zu übersehen. Emanuel prustete los: „Fritz ist ein Hosenpisser! Fritz ist ein Hosenpisser!“ Die anderen, bis auf Hannah, fielen im Chor ein. Die kleine Hedwig jedoch fing an zu weinen. Sie merkte instinktiv, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

Fritz war wie zu Eis erstarrt. Er schämte sich furchtbar. Warum passierte ihm das immer wieder, vor allem auch nachts, wenn er schlecht träumte? Und er träumte oft schlecht. Warum konnte er nicht einfach mit den anderen Kindern spielen? Warum war da immer dieses Etwas, das ihn festhielt?

Da ließ Hannah Hedwigs Hand los und ging, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen, auf Fritz zu, der noch immer weinend auf dem Rücken lag. Sie sah ihn mit ihren großen dunklen Augen liebevoll an. Der Spottchor war ganz plötzlich verstummt. Fritzens Miene hellte sich auf. Hannah nahm ihn an den Händen und half ihm auf die Beine.

„Komm, wir gehen nach drinnen“, flüsterte sie.

Sie nahm ihn an der linken Hand und griff mit der anderen ein Händchen der kleinen Hedwig. Langsam gingen die drei den Hang hinauf. Die anderen sahen ihnen schweigend nach. Auf halbem Weg drehte sich Hannah noch einmal um und rief nach unten: „Merkt euch eins: Wer Fritz noch einmal etwas tut, bekommt es mit mir zu tun!“

„Da hab ich aber richtig Angst!“, rief Emanuel und lachte laut.

Mariannes Gesicht aber war ganz ernst geworden. Sie war als Einzige schon alt genug, um zu begreifen: Sie waren zu weit gegangen. Viel zu weit. Sie hätte es verhindern müssen.

Metastasen eines Verbrechens

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