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Freitag, 20. April 2012

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Petrus meinte es nicht gut mit den alten Leuten. Eine Kaffeefahrt nach Schriesheim* zur Strahlenburg* war angekündigt. Morgens hatte noch die Sonne von einem klar blauen Himmel geschienen. Aber dann waren von Westen über die Rheinebene mal wieder Wolken aufgezogen. Die Sonne hatte sich versteckt, und kurz, nachdem der Bus vom Michaelistift abgefahren war, hatte es zu regnen begonnen. Erst ganz sacht. Aber schon, als der Bus über die abenteuerlich schmale Straße von Schriesheim zur Strahlenburg hinauf fuhr, fielen die Tropfen dicht.

Vom Parkplatz aus musste man noch gut hundert Meter bis zur Strahlenburg laufen. Es entstand Unruhe unter den achtunddreißig Ausflugsgästen, denn nicht alle hatten einen Regenschirm mitgenommen. Da hatte Frank Winterhorst, der als Begleiter mitgefahren war, eine Idee. Er griff nach dem Busmikrophon: „Liebe Leute, bitte keine Panik. Wer hat denn alles keinen Schirm dabei? Bitte mit deutlichem Handzeichen melden.“

Er zählte die erhobenen Hände und kam auf elf.

„Dann machen wir das so: Es gehen erst alle mit mir zum Restaurant, die einen Schirm haben. Ich sammle dann von denen die Schirme ein und hole dann die anderen ab. So wird keiner nass.“

Applaus von den alten Leuten, den Winterhorst mit verschämtem Lächeln aufnahm.

Vom nur mit Kies bestreuten Parkplatz aus gingen sie auf den beeindruckenden, noch gut erhaltenen Bergfried zu, erreichten die schon stark beschädigte Mauer und betraten durch ein Spitzbogentor das eigentliche Burggelände. Im Inneren war in die Ruine ein größeres Haus eingebaut, das das Restaurant beherbergte. An dessen Eingang wurden sie von einem Kellner nach rechts in den Rittersaal gewiesen, an dessen Stirnwand zwei altsilberne Rüstungen und zahlreiche Schwerter hingen. Dort hatte man für sie eine lange Tafel gedeckt.

Auch Hannah Lewandowski, Hedwig Fahrenkopf und Fritjof Fries waren mitgefahren, die schon viel zusammen unternommen hatten. Die anfängliche Skepsis der beiden alten Damen war völlig verflogen. Aus der Tischgemeinschaft war eine Freundschaft entstanden. Seit Wochen schon waren sie nur noch zu dritt an ihrem Tisch, da Adolf Reimann so kränklich war, dass er es nicht mehr in den Speisesaal schaffte. Es bestand wenig Aussicht, dass er noch einmal zurückkäme.

Eigentlich war für später auch noch ein Spaziergang geplant. Aber daraus würde bei dem Regen vermutlich nichts werden. Nun studierten erst einmal alle ausgiebig die Speisekarte. Die meisten bestellten Kaffee, Tee oder heiße Schokolade. Einige, so auch Fritjof Fries, nahmen gleich ein Viertel Wein. An der engen Kuchentheke bildete sich eine dicke Traube. Es dauerte, bis jeder gefunden hatte, was er suchte, und bis auch die bedient waren, für die der Gang an die Theke zu beschwerlich war.

Allmählich kehrte Ruhe ein. Die meisten aßen zufrieden ihren Kuchen zum Kaffee. Einige murrten leise vor sich hin, da es ihnen nicht so recht schmecken wollte. Ja, als sie noch jung waren, da hätte Oma einen ganz anderen Kuchen gebacken.

Fritjof Fries hatte als einer der wenigen keinen Kuchen bestellt, sondern Käsewürfel zum Wein, von denen er seinen Tischnachbarn und vor allem -nachbarinnen wiederholt anbot, die aber dankend ablehnten.

Frank Winterhorst indessen überlegte angestrengt, wie er die alten Leute beschäftigen könnte, damit bis zur Rückfahrt keine Langeweile aufkäme, denn der Regen klatschte jetzt anhaltend gegen die Fensterscheiben, und an einen Spaziergang war überhaupt nicht mehr zu denken. Schließlich kam ihm eine Idee. Als er sah, dass die meisten Tassen und Teller leer waren, erhob er sich, schlug mit dem Löffel an seine Tasse und gab dann den unterhaltsamen Animateur.

„Liebe Leute. Spazierengehen is heut nich. Das sehen sicher alle ein. Aber wir werden uns von dem bisschen Regen doch nicht die Laune verderben lassen. Also, wir machen jetzt Folgendes: Jeder versucht, einen Witz zu erzählen, und zwar nach Möglichkeit einen, der aus seiner Jugendzeit stammt. Ich will mit gutem Beispiel vorangehen. Vielleicht noch zur Erklärung: Ich stamme aus Leipzig – ich weiß nicht, ob man das merkt –, und da erzählte man sich um die Wendezeit herum gerne diesen Witz:

Erich Honecker1 kommt eines Abends aus seinem Büro, und was sieht er? Niemand. Alle Straßen sind leer, keine Menschenseele weit und breit. Aber alles ist hell erleuchtet. Verwirrt eilt er durch die leeren Straßen Berlins und kommt schließlich an die Mauer. Da erschrickt er heftig, denn da ist ein großes Loch. Oben hängt ein Zettel und darauf steht: Erich, mach’s Licht aus, du bist der Letzte.“

Viele lachten und applaudierten, einige hatten ihn nicht verstanden. Ihnen musste der Witz erklärt werden. Und sie lachten danach besonders laut.

Dann meldete sich eine Frau zu Wort: „Ich stamme aus dem Sudetenland. Dort gab es zwei volkstümliche Figuren, genannt Antek und Frantek, über die man sich viele Scherze erzählte. Einer davon war der hier: Treffen sich Antek und Frantek. Frantek hat neues Fahrrad. Antek wunderte sich sehr, hatte doch Frantek kein Geld. ‚Woher hast du Fahrrad?‘, fragte er. ‚Das ist wunderbare Geschichte‘, antwortete Frantek. ‚Hab ich getroffen Mädel, wunderschön. Sind wir zusammen gegangen in Wald. Also, ich bin gegangen, Mädel ist gefahren auf Fahrrad. Sind wir gekommen an schöne einsame Wiese. Sonne hat geschienen, Vögelein haben gezwitschert. Da haben wir uns gelegt in frisches Gras, Mädel hat Arm um mich gelegt und gesagt: Frantek, du kannst dir nehmen, was du willst. Da hab ich mir genommen Fahrrad.‘ “

Der Bann war gebrochen und viele erzählten ihre Witze, es wurde sehr viel gelacht und dabei noch so mancher Wein getrunken. Schließlich meldete sich ganz hinten am Tisch, unmittelbar vor den Ritterrüstungen und Schwertern, ein Mann zu Wort. Der war ziemlich groß, hatte kurzgeschnittenes weißes Haar und wirkte noch sehr rüstig. Sicher war er noch weit von den Achtzig entfernt. Er schien schon einige Viertel Wein getrunken zu haben, denn er war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.

„Also, liebe Freunde, mein Name ist Siegfried Nemecek. Mein Witz spielt kurz nach dem Krieg, da war ich so sechs Jahre alt. …Also, da sitzen zwei Männer in einer Bar und trinken Whisky. Der eine sagt zum anderen: ‚Soll ich dir einen Judenwitz erzählen?‘

Darauf erwidert der andere: ‚Nein, bitte nicht. Mein Vater ist in Auschwitz umgekommen.‘

‚Oh, das tut mir schrecklich leid! Wurde er vergast?‘

‚Nein, er ist betrunken vom Wachtturm gefallen!‘ “

Nemecek selbst lachte am lautesten. Viele lachten mit, aber einige saßen mit versteinerten Mienen da. So auch Hannah Lewandowski und Hedwig Fahrenkopf.

Da stand Fries auf und rief zu dem Erzähler hinüber: „Herr Nemecek, ich finde es unerhört, dass Sie so einen Witz erzählen! Hier sitzen auch Menschen, die damals schwer unter Hitler gelitten haben. Ich fordere Sie auf, sich auf der Stelle zu entschuldigen!“

„Wieso entschuldigen?“, erwiderte der andere lachend. „Man kann über alles Witze machen. Viele fanden es ja offensichtlich lustig. Sie sind wohl einer von diesen überempfindlichen Juden, die mit der Auschwitzkeule durchs Land laufen, um überall Entschädigung abzukassieren.“

Für einen Moment war es vollkommen still. Frank Winterhorst suchte vergeblich nach einem Weg, um die unerträgliche Spannung aufzulösen.

„Aha, jetzt zeigen Sie, wes Geistes Kind Sie sind!“, fuhr Fries fort. „Ich fordere Sie noch einmal auf, sich zu entschuldigen!“

Unter den übrigen Gästen entstand jetzt mehr und mehr Unruhe. Es ergriff zwar niemand offen Partei, aber es war zu spüren, dass sich zwei Lager bildeten.

„Machen Sie sich nicht lächerlich! Ich lasse mir nicht von einem Juden diktieren, was ich zu tun habe. Sie hat man seinerzeit offenbar vergessen zu vergasen!“

„Herr Nemecek! Herr Fries!“, griff jetzt Winterhorst doch noch ein, „Ich glaube, Ihre Auseinandersetzung wollen wir alle nicht weiter hören. Beenden Sie das jetzt bitte!“

Fries reagierte nicht auf diesen Einwurf, sondern stand auf und ging langsam auf Nemecek zu. Der hatte sich inzwischen wieder gesetzt. Als Fries neben ihm stand, sprach er ihn noch einmal mit Nachdruck an: „Herr Nemecek, Sie entschuldigen sich jetzt, sofort!“

Der wandte sich ihm zu und sagte lachend: „Wollen Sie mir drohen? Herr Winterhorst, greifen Sie bitte ein. Der will …“

Viel schneller, als man es dem alten Mann zugetraut hätte, hob Fries die rechte Hand und schlug Nemecek links und rechts ins Gesicht. Sodann wandte er sich um und ging ganz ruhig zu seinem Platz zurück.

*

Am Abend saßen Hannah und Hedwig in ihrem Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand ein Fläschchen Kirschlikör und es brannten zwei Kerzen.

„Dann trinken wir auf Fritjof, unseren Helden“, meinte da Hedwig, „so viel Zivilcourage hätte ich ihm nicht zugetraut.“

„Ich auch nicht“, entgegnete Hannah. „Aber hast du gemerkt, wie wenig Unterstützung er bei den anderen fand? Die meisten waren doch über sein Vorgehen ehrlich empört.“

„Hannah, damit müssen wir leben. Es gibt halt immer noch viel zu viele, die einfach nichts begriffen haben.“

„Es ist schon unerträglich, mit solchen Leuten unter einem Dach leben zu müssen. Am liebsten würde ich wieder weggehen von hier.“

Hedwig nickte nur stumm und seufzte.

„Aber ich weiß ja, dass das nicht geht. In anderen Häusern dieser Art wird es nicht besser sein. Benni kann nun mal nicht für uns sorgen, er hat einfach zu viel zu tun. Und deine Renate – sie ist viel zu früh gestorben.“

Hedwig antwortete nicht. Ihre Trauer hatte sie wieder eingeholt. Irgendwann kam ganz leise: „Mein einziges Kind, meine kleine Renate. Ich kann einfach nicht verwinden, dass sie nicht mehr da ist.“

Wieder sprachen sie lange kein Wort.

Schließlich meinte Hannah: „Aber wenigstens können wir jetzt sicher sein: Fritjof ist in Ordnung. Meine Bedenken waren unbegründet. Wir müssen das unbedingt sofort Benni erzählen. Er hat Fritjof ja auch nicht getraut.“

1 Erich Honecker - letzter Staatsratsvorsitzender der DDR

Metastasen eines Verbrechens

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