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Dienstag, 20. August 2013 (2)

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Um vierzehn Uhr traf sich das Ermittlerteam mit Spusichef Breithaupt für eine erste Bestandsaufnahme zu dem Mord vom Vormittag. Travniczek wollte gerade beginnen, da platzte Breithaupt heraus: „Kollegen, eine Sekunde, aber das muss jetzt sein, ich hab gestern einen köstlichen neuen Witz gehört!“

Er ignorierte die abwehrende Handbewegung des Chefs und fuhr ohne Pause fort: „Ein großer Stift und ein kleiner Stift gehen spazieren. Sagt der große Stift zum kleinen Stift: Dann wachs mal, Stift!“

Wie üblich lachte er über seinen Witz am lautesten, lehnte sich zufrieden zurück, da es ihm diesmal gelungen war, Travniczek zu überrumpeln, sog lustvoll den Duft von Frau Sieberts unschlagbar köstlichem Kaffee ein und sah gierig nach dem Teller mit den Keksen, der aber noch außerhalb seiner Reichweite stand.

Dann begann Travniczek energisch: „Zuerst: Haben wir endlich etwas Brauchbares zum Überfall auf das Asylbewerberheim?“

„Nein, nichts“, erwiderte Brombach, „und das frustriert mich maßlos. Wahrscheinlich hat Grundmann recht. Es handelt sich um Neulinge, die möglicherweise sogar irgendwo von außerhalb kommen. Da haben wir schlechte Karten.“

„Da wird Wurlitzer aber jaulen“, meinte Travniczek. „Der steht mir auf den Füßen. Wir brauchen dringend Fahndungserfolge. Die BILLIG-Zeitung titelt: ‚AUF DEM RECHTEN AUGE BLIND! – So hätte der Überfall auf das Asylbewerberheim verhindert werden können.‘ Die haben herausgefunden, dass die Verkehrspolizei geschlafen hat.“

„Da haben wir den Salat. Außer Strafzettel schreiben können diese Flaschen doch nichts“, fauchte Brombach. „Wenn die von der BILLIG-Zeitung in die Pfanne gehauen werden, ist mir das grad recht.“

„Also, solange wir uns nichts vorzuwerfen haben“, meinte Travniczek beschwichtigend, „sehe ich das Geschreibe von diesen Schmierfinken einigermaßen gelassen. Deshalb zuerst zum Fall Lewandowski. Hier handelt es sich schließlich um Mord. Was wissen wir über das Opfer? Martina bitte!“

„Benjamin Lewandowski, geboren am 26. September 1953 in Heidelberg, also knapp sechzig Jahre alt, freischaffender Architekt, wohnte seit 1977 in der Friedrichstraße 12, also nur wenige Minuten vom Tatort entfernt. Dort hatte er auch sein Büro. Er war dort eingezogen, nachdem er geheiratet hatte, eine Renate, geborene Fahrenkopf. Er hat aus dieser Ehe zwei Kinder: Paul, 31 Jahre alt, lebt in Heilbronn, und Jasmin, 27. Sie ist unter dem Namen Güttler verheiratet und lebt in Dortmund. Die genauen Adressen haben wir noch nicht. Lewandowskis Frau ist vor drei Jahren verstorben. Mehr gibt es wohl noch nicht.“

„Gibt es weitere Angehörige? Zwei hat er uns ja selbst letzten Donnerstag genannt: seine Mutter und seine Schwiegermutter im Michaelistift. Gibt es noch andere Menschen, die ihm nahestanden, Verwandte, Freunde, Geschäftspartner?“, fragte Travniczek nach.

„Bis jetzt Fehlanzeige. Hoffentlich finden wir in der Wohnung irgendein Adressbuch.“

„Wichtig ist“, ergänzte Brombach, „Lewandowski war vergangenen Freitag bei uns und hat den Verdacht geäußert, ein gewisser Fritjof Fries, der in dem Seniorenheim Michaelistift wohnt, lebe dort unter falschem Namen und sei möglicherweise ein gesuchter Kriegsverbrecher.“

„Natürlich“, griff Travniczek ein. „Es ist sicher kein Zufall, dass der Mord und die Aussage Lewandowskis zeitlich zusammentreffen. Aber gerade deswegen: Wir dürfen nicht aufhören, in andere Richtungen zu ermitteln. Herr Breithaupt, wie war die Lage am Tatort?“

Der Spusichef hatte zwischenzeitlich den Teller mit den Keksen erreicht und antwortete mit vollem Mund:

„Zum Opfer: Lewandowski wurde aus nächster Nähe in den Hinterkopf geschossen. Wir haben ein 6,35mm-Projektil sichergestellt. Das könnte auf eine Walther PP als Tatwaffe hindeuten, die gängige Dienstwaffe der deutschen Offiziere im Zweiten Weltkrieg. Wenn sich das bestätigen lässt, wird das sicher ein guter Anhaltspunkt sein, wo man den Täter suchen muss. … Lewandowski saß bei der Tat auf einer Bank vor dem Riemenschneideraltar. Wir können davon ausgehen, dass er seinen Mörder überhaupt nicht gesehen hat. Weiter gibt es in Tatortnähe jede Menge Spuren: Kleiderfasern, Haare etc. Aber da dieser Raum natürlich sehr stark frequentiert wird, hat das meiste davon sicher nichts mit der Tat zu tun. Damit lässt sich sowieso erst etwas anfangen, wenn wir konkrete Tatverdächtige haben.“

„Sie waren doch auch schon in Wohnung und Büro von Lewandowski?“, fragte Travniczek ungeduldig nach.

„Nein, die Arbeiten im Museum waren zu umfangreich. Aber wir werden in Kürze dort weitermachen.“

„Dann gehen wir, sobald wir hier fertig sind, da auch gleich hin“, meinte Travniczek. „Ich habe Folgendes herausgefunden: Nach Aussage von Walter Hauschild, der die Aufsicht für den Tatraum hatte, muss der Mord zwischen 9 Uhr 35 und 9 Uhr 45 begangen worden sein, also ein sehr kleines Zeitfenster. Leider hat er niemanden beobachtet, der ihm irgendwie verdächtig vorgekommen wäre. Ich habe hinterher die Mitarbeiter des Museums befragt. Dabei ist nichts weiter herausgekommen. Sie waren nur alle fürchterlich beleidigt, als ich auch nur die Möglichkeit andeutete, der Täter könnte auch einer von ihnen sein. Ein gewisser Pflaumer hat sich besonders lautstark aufgeregt und der Herr Direktor warf mir Wildwest-Methoden vor. Zur Videoüberwachungsanlage: Michael, du wolltest dich darum kümmern. Was ist dabei herausgekommen?“

„Nichts, was uns direkt weiterbringt, aber vielleicht doch der Schlüssel für den Fall.“

„Du sprichst in Rätseln“, meinte Martina Lange und sah ihn fragend an.

„Die Sache ist auch äußerst rätselhaft. Und angesichts der Reaktion von Pflaumer und Semmelroth wird sie noch rätselhafter. Als ich die Aufnahmen ansehen wollte, stellte sich heraus, dass die Überwachungsanlage um 9 Uhr 34 ausgeschaltet wurde und ab 9 Uhr 47 wieder an war.“

„Von wo wird die Anlage gesteuert?“, fragte Travniczek dazwischen.

„Es gibt zwei Schalter. Einer ist im Büro des Museumsdirektors, der andere am Tresen im Foyer. Der Direktor sagt aus, er sei während der ganzen Zeit im Büro gewesen, und Pflaumer, der Mann im Foyer, will ungefähr in dieser Zeit für einige Minuten auf der Toilette gewesen sein.“

„Selbst wenn dieser Mensch kurzzeitig nicht am Tresen stand“, warf Travniczek ein, „ist es vorstellbar, dass jemand Fremdes an den Tresen gegangen ist, um die Videoüberwachung aus- und vor allem auch wieder einzuschalten? Der oder die Täter waren ja sicherlich sehr dreist. Aber so etwas?“

„Das halte ich für nahezu ausgeschlossen“, bemerkte Lange.

„Das bedeutet aber“, setzte Travniczek seinen Gedankengang fort, „der Täter muss einen Komplizen unter den Museumsmitarbeitern haben.“

„Und zwar am ehesten diesen Herbert Pflaumer, der im Foyer Dienst hatte“, meinte Brombach.

„Oder den Herrn Direktor höchstselbst“, warf Lange süffisant ein.

„Aber warum regen sich gerade diese beiden so sehr auf, wenn ich von einem möglichen Täter unter den Museumsmitarbeitern rede?“, fragte Travniczek.

„Der getroffene Hund bellt“, stellte Brombach fest.

„Ich muss stören“, unterbrach Frau Siebert ihre Unterredung. „Eine Merle Blattau hat angerufen, sie sei die derzeitige Lebensgefährtin von Benjamin Lewandowski. In die Wohnung und das Büro sei eingebrochen und dabei eine ziemliche Verwüstung angerichtet worden.“

„Mist! Da war jemand schneller als wir. Ich gehe da jetzt sofort hin“, verkündete Travniczek, „und ihr überprüft diesen Pflaumer – und den merkwürdigen Herrn Direktor. Sucht nach Verbindungen zu Lewandowski und weiteren Anhaltspunkten, ob die mit dem Mord irgendetwas zu tun haben könnten. Breithaupt, Sie kommen bitte so schnell wie möglich nach. Und denkt auch noch einmal über das Asylbewerberheim nach. Ich will die Kerle unbedingt kriegen.“

Er nahm noch einen kräftigen Schluck Kaffee und verschwand.

*

Travniczek ging nachdenklich zu seinem Wagen. Wenn der Mord an Lewandowski mit dessen Aussage vor vier Tagen zusammenhing, dann war er mit schuld. Dann hatte er die Brisanz der Aussage unterschätzt. Aber war es denn denkbar, dass dieser alte Mann aus dem Michaelistift der Täter ist? Wohl kaum. Hatte dann dieser Fries einen Killer beauftragt? Die Kaltblütigkeit der Tat könnte darauf hindeuten. Oder – Fries war nicht allein. Es gab noch andere, die Angst hatten, Fries könnte enttarnt werden. Aber das konnten doch nicht alles alte Männer sein. Er war also mitten in den Neonazisumpf hineingeraten. Hatte der Mord an Lewandowski vielleicht sogar irgendwie mit dem Anschlag auf das Asylbewerberheim zu tun? War dieser ominöse Reiterhof der Schlüssel?

Ekel stieg in ihm hoch. Er hatte in München einmal einen Fall in diesem Milieu gehabt. Mit Grauen erinnerte er sich an die Vernehmungen, denn selten hatte er so viel Menschenverachtung erlebt. Ganz normale Berufsverbrecher waren ihm da sehr viel lieber.

Aber vielleicht sorgte er sich umsonst und der Mord hatte ganz andere Gründe. Doch sein Bauch sagte ihm, dass das nicht stimmen konnte.

Er brauchte unverhältnismäßig lange zur Wohnung von Lewandowski in der Friedrichstraße, denn er hatte sich verfahren. Er wusste nicht, dass die Plöck* nach der Märzgasse ein Stück weit Fußgängerzone ist, und musste so einen großen Umweg machen.

Das Haus in der Friedrichstraße, in dem Lewandowskis Wohnung und Büro lagen, schien Travniczek noch aus dem 18. Jahrhundert zu stammen. Die reichverzierte Eingangstür stand offen. In der ersten Etage fand er eine Wohnungstür nur angelehnt, das Schloss herausgebrochen. Profis waren das sicher nicht, dachte er, und läutete. Da niemand reagierte, öffnete er die Tür vorsichtig einen Spalt. Da kam eine Frau auf ihn zugelaufen und schrie ihn an: „Was unterstehen Sie sich, hier einfach einzudringen!“

Travniczek registrierte kurz: Mitte vierzig, lange blonde Haare, intensiv geschminkt, enganliegende schwarze Designerjeans, knappes hellrotes T-Shirt, nabelfrei, nichts drunter, beeindruckender Busen.

Durchaus etwas verwirrt zeigte er seinen Ausweis, kam aber nicht dazu sich vorzustellen, da die Frau ihn sofort mit einem aggressiven Wortschwall attackierte: „Ach, die Polizei! Warum dauert das so lange, bis hier endlich jemand kommt? Vor fast einer Stunde habe ich angerufen, es ist wirklich unerhört! Ich wette, wenn irgendein Kümmeltürke angerufen hätte, wären Sie nach zehn Minuten mit einem Dutzend Leuten da gewesen.“

Travniczek sah instinktiv auf die Uhr und stellte fest, dass er vor exakt sechsundzwanzig Minuten von der Polizeidirektion aufgebrochen war. Er suchte, nicht ganz erfolgreich, nach seiner freundlichsten Miene.

„Travniczek mein Name. Sie müssen entschuldigen. Ich kann Ihnen versichern, wir tun unser Bestes, haben aber zu wenig Personal. Manchmal dauert es dann eben etwas länger. Aber jetzt würde ich mir gerne die Wohnung ansehen.“

„Dann kommen Sie“, sagte sie mürrisch, trat zur Seite und ließ ihn eintreten. Hinter der Wohnungstür begann ein ziemlich langer, dunkler Flur. Gleich rechts sah er in ein großes Büro, in dem völliges Durcheinander herrschte. Auch in den weiteren Räumen war offensichtlich alles durchwühlt worden.

„Gibt es einen Raum, der intakt ist, wo wir in Ruhe sprechen können?“

„In der Küche ist alles heil geblieben“, sagte die Frau, die sich allmählich zu beruhigen schien.

Sie setzten sich auf eine Eckbank, die wie die gesamte Einrichtung sicher schon weit mehr als ein halbes Jahrhundert in diesem Raum stand.

„Dann sagen Sie mir bitte zunächst, mit wem spreche ich?“

„Das habe ich doch schon bei meinem Anruf gesagt – Merle Blattau.“

„Und was tun Sie in dieser Wohnung?“

Sie sah ihn etwas verdutzt an: „Was ich hier tue? Ich wohne hier!“

„Aber warum steht dann auf dem Klingelschild nur Lewandowski?“

„Ach so, ich wohne noch nicht lange hier. Benjamin ist noch nicht dazu gekommen, neue Schilder anzubringen.“

„Sie sind die derzeitige Lebensgefährtin von Herrn Lewandowski?“

„Ja.“

„Seit wann?“

„Seit etwas mehr als drei Monaten. Aber was soll diese Fragerei? Ich denke, Sie sind hier, um einen Einbruch aufzuklären.“

„Gemach, gemach, ich komme gleich dazu. Ich brauche nur noch ein paar Vorinformationen. Wann haben Sie Herrn Lewandowski zum letzten Mal gesehen?“

„So kurz nach sechs heute Morgen.“

„Sind Sie oder er da aus dem Haus gegangen?“

„Das war ich. Ich musste zur Arbeit. Ich arbeite am Empfang des Kranichhotels im Pfaffengrund* und meine Schicht begann heute um 6 Uhr 30. Benjamin hat die ganze Nacht gearbeitet. Er ist zurzeit furchtbar im Stress.“

„Und wann sind Sie zurückgekommen und haben den Einbruch bemerkt?“

„So gegen halb drei.“

„Sie haben doch sicher als Erstes versucht, Herrn Lewandowski anzurufen?“

„Natürlich!“

„Haben Sie ihn erreicht?“

„Nein.“

„Beunruhigt Sie das nicht?“

„Nein. Wenn Benjamin Tag und Nacht arbeitet, macht er manchmal zwei, drei Stunden Pause, um den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Er geht dann entweder den Gaisberg*

hoch in den Wald oder nach nebenan ins Kurpfälzische Museum. Er nimmt dann meist sein Handy nicht mit, um wirklich ungestört zu bleiben.“

„Verstehe“, antwortete Travniczek. Er sah ihr einige Momente schweigend ins Gesicht. Er wusste nicht genau warum, aber er war sicher, die Frau log ihn an.

„Sie wissen also tatsächlich noch nicht, dass Ihr Lebensgefährte tot ist?“

Sie erschrak sichtlich, tat aber so, als verstünde sie ihn nicht.

„Wie bitte?“

„Benjamin Lewandowski wurde heute Vormittag gegen 9 Uhr 45 erschossen im Kurpfälzischen Museum aufgefunden.“

Travniczek beobachtete sie genau. Sie sah ihn eine kurze Zeit mit völlig leerer, verständnisloser Miene an. Dann ließ sie ihren Kopf auf die Tischplatte fallen und begann laut zu weinen.

Das war gekonntes Theater, da war er sich sicher. Sie wusste längst, dass Lewandowski tot war. Was hatte sie mit dem Mord zu tun?

*

Eine halbe Stunde später. Breithaupt war inzwischen mit einem Trupp von vier Leuten angerückt. Sie hatten sich zunächst das Büro vorgenommen. Travniczek selbst war während dessen durch alle Räume gegangen. Aber es gab, zumindest auf den ersten Blick, keinerlei Hinweise auf den Grund des Einbruchs oder gar auf den Mord.

„Chef!“, meldete sich Breithaupt, „einen wichtigen Hinweis haben wir sehr schnell gefunden. Es befinden sich drei Computer in diesem Büro. Alle sind zerstört und die Festplatten sind weg.“

„Das ist ja schon eine ganze Menge. Aber die Einbrecher müssen noch mehr gesucht haben. Sonst hätten sie ja nicht die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt.“

„Müssen wir sehen. Fingerabdrücke, Haare, DNA und Faserspuren haben wir jede Menge. Das dauert natürlich, bis das alles ausgewertet ist.“

„Ist eben so. Habt ihr ein Handy gefunden?“

„Nein, bis jetzt nicht.“

„Mist!“

Er wandte sich zurück Richtung Küche. Er wollte sehen, ob Merle Blattau wieder ansprechbar war.

Sie saß noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Ihr Kopf lag im angewinkelten rechten Arm auf der Tischplatte. Er setzte sich ihr gegenüber und verharrte eine Weile in Schweigen. Sie rührte sich nicht. Schließlich sprach er sie ganz behutsam an.

„Frau Blattau, ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist, aber …“

„Nichts verstehen Sie, gar nichts!“

Sie hatte den Kopf leicht angehoben und sah ihn mit verweinten, hasserfüllten Augen an.

„Vielleicht können Sie mir helfen zu verstehen. Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?“

„Fragen Sie.“

Sie hob Kopf und Oberkörper weiter an und setzte sich wieder aufrecht hin.

„Haben Sie irgendeine Vermutung, wer Ihren Lebenspartner getötet haben könnte?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Hatte er Feinde, Neider, unliebsame Konkurrenten? War er in der letzten Zeit irgendwie verändert?“

Merle Blattau reagierte erst gar nicht. Dann sagte sie tonlos: „Vielleicht. … Er arbeitete gerade an einem Riesenprojekt. … Die Firma DRAGO, ein international tätiger Anlagenbauer, will in Frankfurt einen neuen Fertigungskomplex bauen. Das Projekt war ausgeschrieben, und am kommenden Samstag sollen die Vorschläge präsentiert werden. … Bei einem Zuschlag hätte Benjamin damit den mit Abstand größten Auftrag seiner Karriere an Land gezogen. Er wäre damit quasi in eine andere Liga der Architekten aufgestiegen, wenn Sie verstehen, was ich meine. … Vor etwa zwei Monaten hat ein Kollege angerufen und den Vorschlag gemacht, das Projekt gemeinsam zu realisieren. Für ein relativ kleines Architekturbüro sei das doch eine Nummer zu groß. … Aber Benjamin sah das anders und hat abgelehnt. Der Kollege war sehr verärgert. … Wir haben dann Nachforschungen angestellt. Dieser Kollege stand vor dem wirtschaftlichen Aus. Er hatte sich wohl vor kurzem mit einem zu großen Auftrag irgendwie verhoben.“

„Das ist interessant. Denn von den Kollegen, die im Moment das Büro Ihres Lebenspartners untersuchen, hörte ich gerade, dass die Einbrecher es wohl auf die Festplatten der Computer abgesehen hatten. Die sind alle ausgebaut.“

„Oh Gott, dann haben die das komplette Material des DRAGO-Projekts! … Jetzt wird mir alles klar, jetzt wird mir alles klar! Dieses Schwein! Ich habe ihm von Anfang an misstraut. Aber dass er so weit gehen würde!“

„Herr Lewandowski hat doch wohl irgendeine Sicherheitskopie von dem Material angefertigt. Wissen Sie etwas darüber?“

„Natürlich hat er. … Das sind mehrere DVDs. Die sind in einem Geheimfach in meinem Schreibtisch.“

„Das Zimmer wurde auch durchwühlt?“

„Ja, wie alles andere.“

„Dann sehen Sie doch bitte sofort nach, ob die DVDs noch da sind.“

In großer Panik sprang Merle Blattau auf und rannte in ihr Zimmer. Sämtliche Schreibtischschubladen waren herausgerissen, der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Sie kniete sich hin und griff dort, wo die Schubladen gewesen waren, unter die Schreibplatte. Nach wenigen Augenblicken rief sie erleichtert: „Gott sei Dank, sie haben sie nicht gefunden!“

Sie erhob sich und hatte vier gefüllte DVD-Hüllen aus Papier in der Hand.

„Sehen Sie nach, ob wirklich die richtigen DVDs drin sind.“

Merle Blattau öffnete die erste Hülle. Ein Donald-Duck-Film kam zum Vorschein, und in den anderen Hüllen waren ebenfalls Spielfilmaufnahmen. Entgeistert sah sie die Sachen an, warf sie dann weit von sich, knickte in den Knien ein und schrie: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Sie fing wieder heftig zu weinen an.

Travniczek ließ ihr eine Weile Zeit und fragte dann: „Woher können die Einbrecher gewusst haben, dass hier die Sicherheitskopien sind?“

Wieder traf ihn ihr hasserfüllter Blick: „Woher soll ich das denn wissen? Kriegen Sie’s raus!“

Travniczek erschrak. Was ist das, fragte er sich, woher dieser abgrundtiefe Hass? Da spielt noch etwas hinein, von dem wir gar keine Ahnung haben. Der Fall hat noch eine andere Dimension.

„Frau Blattau, wir werden uns alle erdenkliche Mühe geben“, sagte er indessen beruhigend. „Jetzt hätte ich noch drei ganz wichtige Fragen. Erstens: Wer war der Architekt, der das Projekt mit Herrn Lewandowski zusammen realisieren wollte?“

„Sein Nachname ist Pranger, aus Karlsruhe. Mehr weiß ich nicht.“

„Das wird reichen, ihn ausfindig zu machen. Die zweite Frage: Hatte Herr Lewandowski außer den beiden erwachsenen Kindern und seiner Mutter noch weitere nahe Angehörige, die benachrichtigt werden müssen?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Und drittens: Hat Herr Lewandowski völlig allein gearbeitet oder hatte er irgendwelche Mitarbeiter?“

„In der letzten Zeit war da niemand.“

„Das wäre es dann fürs Erste. Die Kollegen von der Spurensicherung werden sicher bis zum späten Abend zu tun haben. Wenn Sie Hilfe brauchen, vielleicht einen Arzt, wenden Sie sich vertrauensvoll an sie. Ich muss mich jetzt empfehlen. Ich werde Sie später sicher noch einmal ausführlich sprechen müssen. Wenn Ihnen zwischendurch noch etwas einfällt, Sie können mich jederzeit anrufen. Hier meine Karte. Dann auf Wiedersehen.“

Er schickte sich an, die Küche zu verlassen. In der Tür drehte er sich noch einmal um.

„Ach, Frau Blattau, eine allerletzte Frage hätte ich doch noch. Sie sagten vorhin, Sie seien am Empfang eines Hotels beschäftigt. Haben Sie das schon immer gemacht?“

„Nein, eigentlich bin ich Schauspielerin. Warum fragen Sie?“

„Nur so, aus Interesse. Und warum spielen Sie nicht mehr?“

„Tja, wie das so geht. Ich stamme eigentlich aus Argentinien und war da zunächst am Theater, später dann vor allem im Fernsehen sehr erfolgreich. Vor elf Jahren bin ich dann nach Deutschland gekommen – wegen eines Mannes – und hier habe ich beruflich nicht mehr Fuß fassen können. Mein Typ war wohl gerade nicht gefragt.“

Schauspielerin, dachte Travniczek. Da lag er doch vorhin richtig mit seiner Vermutung. Sie stammte aus Argentinien. Kam da nicht auch dieser Fries her? Gab es da irgendeine Verbindung? Aber der Name Blattau klang gar nicht nach Argentinien. Außerdem sprach sie akzentfreies Deutsch. Da konnte irgendetwas nicht stimmen.

*

Mit einem flauen Gefühl im Magen trat Travniczek zwanzig Minuten später an den Empfang im Michaelistift. Er wartete, bis sich ihm die diensthabende junge Dame zuwandte.

„Guten Tag, Siegwalt mein Name. Was kann ich für Sie tun?“

Der Kommissar zog seinen Ausweis hervor. „Joseph Travniczek, Kripo Heidelberg, Mordkommission.“

„O Gott, Sie suchen doch nicht etwa hier bei uns nach einem Mörder?“

„Nein, nein, ganz so schlimm ist es nicht. Aber trotzdem schlimm genug. Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt. Die Mutter des Getöteten wohnt vermutlich bei Ihnen.“

„Und wer soll das sein?“

„Frau Lewandowski.“

Frau Siegwalt erschrak sichtlich.

„O nein, die arme alte Frau! … Wissen Sie, die hat schon so viel Furchtbares in ihrem Leben mitmachen müssen. Und jetzt auch noch das.“

„Ja“, erwiderte Travniczek mitfühlend, „und ich habe die traurige Pflicht, ihr die schlimme Nachricht zu überbringen. Wo kann ich sie finden?“

Frau Siegwalt zögerte.

„Ich weiß nicht“, meinte sie dann, „ob das eine so gute Idee ist. Frau Lewandowski ist schon sehr betagt. Sie wird demnächst neunzig. Man kann nicht wissen, wie sie das aufnehmen wird.“

„Das ist richtig. Aber man kann ihr die Wahrheit auch nicht ersparen.“

„Natürlich nicht. Aber ich würde vorher gerne Herrn Dr. Hager, unseren Hauspsychologen, zu Rate ziehen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Wenn es nicht zu lange dauert. Meine Zeit ist natürlich begrenzt.“

„Ja, selbstverständlich. Ich werde Herrn Dr. Hager hoffentlich gleich erreichen. Wenn Sie ein paar Minuten hier Platz nehmen wollen.“

Sie deutete auf die Sitzgruppe gegenüber dem Empfangstresen. Travniczek setzte sich. Dieser Satz „Die hat schon so viel Furchtbares in ihrem Leben mitmachen müssen“, beschäftigte ihn sehr. Frau Lewandowski musste das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche und junge Erwachsene erlebt haben. Intuitiv sah er die Verbindung zu Lewandowskis Verdacht, dieser Mitbewohner Fries sei ein Kriegsverbrecher. Das Furchtbare, von dem hier die Rede war, musste damit irgendwie in Zusammenhang stehen.

Da kam ein stattlicher Mann, bebrillt, in grauem Anzug an den Empfang und sprach eine Weile mit Frau Siegwalt im Flüsterton. Travniczek konnte nichts verstehen. Aber der Mann, sicher Dr. Hager, wirkte sehr beunruhigt. Bald darauf eilte er auf ihn zu.

„Dr. Hager, Psychologe des Hauses, Frau Siegwalt hat mir berichtet, was geschehen ist. Können Sie schon etwas über die Umstände des Todes von Herrn Lewandowski sagen?“

„Selbst wenn ich könnte, dürfte ich nicht. Laufende Ermittlungen. Aber wir wissen ohnehin noch fast gar nichts. Herr Lewandowski wurde heute Vormittag erschossen aufgefunden. Das ist alles. Ich hoffe, dass mir seine Mutter irgendetwas sagen kann, das uns weiterbringt.“

„Sie wollen Frau Lewandowski jetzt gleich befragen?“

„Wenn es irgend geht, ja. Je früher wir eine heiße Spur haben, desto sicherer werden wir den Täter überführen können. Da geht es oft um ein, zwei Tage, manchmal nur Stunden.“

„Verstehe. Ich würde Sie aber trotzdem bitten, davon zunächst Abstand zu nehmen. Ich arbeite öfters mit der alten Dame. An sich ist sie ja eine sehr starke Persönlichkeit. Aber Sie müssen wissen, sie ist Jüdin und hat im Dritten Reich ihre gesamte Familie verloren. Eltern und Geschwister wurden in Auschwitz vergast. Sie selbst hat nur durch einen Zufall überlebt. Wenn jetzt auch ihr Sohn – übrigens ihr einziges Kind – ermordet wurde … nicht auszudenken, was dann passiert!“

„Das kann ich verstehen. Aber das ändert nichts daran: Sie ist momentan unsere wichtigste Zeugin. Wir müssen da irgendeinen Weg finden.“

Dr. Hager fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete tief durch.

„Können wir folgendermaßen verfahren?“, meinte er schließlich. „Ich werde jetzt wohl oder übel gleich mit ihr sprechen. Und wir werden sehen, wie sie es aufnimmt. Ich habe da keine Prognose. Es kann sein, dass sie völlig zusammenbricht. Es ist aber auch gut möglich, dass sie den Mörder schnell gefasst sehen will und sofort mit Ihnen sprechen möchte. Wir müssen einfach abwarten. Ich werde mich dann umgehend bei Ihnen melden.“

„Damit muss ich leben. Rufen Sie mich bitte noch heute Abend im Büro an. Hier meine Karte.“

Travniczek verabschiedete sich und verließ langsam das Michaelistift. Was für eine Tragödie, dachte er. Warum ist das Schicksal so ungerecht, eine Frau, die so Furchtbares mitgemacht hat, jetzt noch einmal so zu schlagen?

Wut stieg in ihm hoch. Er wollte umkehren und sofort diesen Fritjof Fries in die Mangel nehmen. Er musste sich zwingen, diesem Impuls nicht nachzugeben. Denn wenn er ihn jetzt verhören würde und dabei nichts herauskäme, wäre Fries vorgewarnt und könnte eventuelle Spuren problemlos verwischen. Natürlich mussten sie erst dessen Umfeld genau abklären.

Er bestieg sein Dienstfahrzeug, setzte das Blaulicht, schaltete das Martinshorn ein und raste zurück zur Polizeidirektion. Da keine akute Gefahr bestand, durfte er das eigentlich nicht. Aber das war ihm jetzt egal. In der Direktion lief er in den ersten Stock und steuerte dort, ohne ins Büro zu sehen, dem Ende des Ganges zu, wo in einer kleinen Rumpelkammer sein elektronisches Klavier stand. Er schloss hinter sich ab und griff ohne zu überlegen nach Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge. Nur das konnte ihm jetzt wieder die nötige Klarheit verschaffen. Schon nach wenigen Takten der virtuosen Anfangspassagen löste sich seine innere Spannung. Und als die letzten Töne der grandiosen Fuge verklungen waren, hielt er einen Moment inne, schloss das Klavier und begab sich mit kraftvollem Schritt in sein Büro. Sein Kopf war wieder frei. Die Arbeit konnte weitergehen.

Außer ihm war niemand mehr da. Aber auf seinem Schreibtisch fand er eine Nachricht von Melissa Siebert: Herbert Pflaumer hatte in den letzten Tagen mehrfach Telefonkontakt mit Graf Baldur von Blauwitz.

Was war davon zu halten?

Travniczek versuchte, die bisherigen Erkenntnisse irgendwie zusammenzusetzen:

Fritjof Fries, nach Meinung von Lewandowski unter falschem Namen lebender gesuchter Kriegsverbrecher, stand im Kontakt mit Graf von Blauwitz. Der ist Mitglied der Deutschen Nationaldemokraten. (Perverser Name: Was ist an denen demokratisch?) Dessen Vater war ranghohes Mitglied der Waffen-SS gewesen. Das passte.

Lewandowski wurde erschossen. Warum? Fries fürchtete offenbar, von ihm enttarnt zu werden. Reichte das für einen Mord?

Fries konnte den Mord aber nicht selbst begangen haben. Pflaumer, unter dringendem Verdacht, den Mörder durch vorübergehendes Ausschalten der Videoüberwachung gedeckt zu haben, hatte Telefonkontakt zu dem Grafen. Der Graf hing also mit drin.

Travniczek schob im Geiste die einzelnen Puzzleteile hin und her: Dem Grafen scheint eine wichtige Rolle zuzukommen. Ist er vielleicht gar das Zentrum des Ganzen? Was hat es mit diesen Versammlungen im Reiterhof auf sich? Was für Leute treffen sich da? Motorräder hat Lewandowski dort gesehen. Haben die Skins, die das Asylbewerberheim überfallen haben, auch mit dem Grafen zu tun? … Alles reine Spekulation! …

Der Einbruch in Lewandowskis Büro, der Diebstahl der Festplatten – was soll das mit den Nazis zu tun haben? ... Das macht überhaupt keinen Sinn.

Also dieser Architekt, Pranger!

Aber Travniczek weigerte sich zu glauben, der Mord an Lewandowski könnte überhaupt nichts mit den Nazis zu tun haben. Warum eigentlich? Wollte er einfach, dass es die Nazis waren?

Und diese Blattau? Hier musste er besonders aufpassen: Sie ist Schauspielerin. Also kann alles, was sie sagt und tut, reines Theater sein. Wenn sie ihr Handwerk beherrscht, wird es schwer, das zu durchschauen. Aber diese Hassausbrüche! Das war echt, da war er sicher. … Aber –

Das Telefon unterbrach seinen Gedankengang. Eigentlich gut so, dachte er. Er wäre jetzt ohnehin nicht mehr weiter gekommen.

Dr. Hager war am Apparat.

„Wie lief es?“

„Schlecht. Sie ist mir zusammengeklappt. Herzattacke, vielleicht sogar Infarkt. Wir haben sie sofort in die Klinik bringen müssen. Der Arzt sagt, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Ihr Herz ist doch schon sehr schwach.“

Nach dem Telefonat wollte Travniczek nur noch nach Hause. Vielleicht war ja Bernhard da. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder gespürt, wie gut ihm die Gespräche mit seinem Sohn taten. Plötzlich kam ihm da wieder der Satz in den Sinn, mit dem Bernhard vor einigen Tagen den Ersten Weltkrieg charakterisiert hatte: Das ist doch alles einfach nur Wahnsinn!

Metastasen eines Verbrechens

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