Читать книгу Metastasen eines Verbrechens - Christoph Wagner - Страница 8
Prolog
Оглавление„Das ist doch alles einfach nur Wahnsinn!“, rief Bernhard Travniczek plötzlich und schlug wütend sein Buch zu. Sein Vater, Chef der Heidelberger Mordkommission, der ihm auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Eichendorffstraße1 gleichfalls lesend gegenübersaß, schreckte von seinem Buch hoch.
„Was ist Wahnsinn? Wenn du die Bullenhitze hier meinst, stimme ich dir sofort zu. Aber sag mal: Was liest du da eigentlich?“
„Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs2.“
„Aha. Du bereitest dich schon auf dein Studium vor. Das ist löblich. Aber was empört dich da so?“
„Was ich hier lese.“
Bernhard schlug das Buch wieder auf und blätterte aufgeregt, um die entscheidende Stelle zu finden.
„Das ist einfach nicht zu fassen: Da erschießt ein wild gewordener Student den österreichischen Thronfolger, und kurz darauf gehen alle angeblich zivilisierten Nationen Europas aufeinander los, ohne Sinn und Verstand. Am Ende sind neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten tot. Und was das Verrückteste ist: In allen beteiligten Ländern wurde erst lange nach Kriegsbeginn darüber nachgedacht, welche Ziele man in diesem Krieg eigentlich verfolgt, also, warum man diesen Krieg überhaupt führtAugust 1938
Warum muss ich ausgerechnet jetzt krank werden, bei dieser Affenhitze? Wegen der paar Windpocken noch eine Woche im Bett bleiben? Das halt ich nie aus!
Hannah Rosenbaum lag in ihrem Zimmer in der Villa am Graimbergweg. Es war das schönste Zimmer im Haus, in einer Art Turm gelegen. Sie hatte Fieber, fast 39°. Wegen der Hitze hatte sie nur ihren Schlüpfer anbehalten und auch die Bettdecke weggeworfen. Aber es schien ihr immer noch unerträglich. Doch sie wusste, dass das ganze Haus leer war und niemand kommen würde, um ihr zu sagen, sie müsse unter die Bettdecke kriechen, weil sie sonst noch eine Lungenentzündung bekäme.
Außerdem hab ich Wichtigeres zu tun. Was ist nur mit Fritz los? Ich muss es endlich rausfinden. Er redet kaum noch mit mir. Hat er plötzlich Angst vor mir? Warum bloß? Das Vertrauen ist weg.
Hat das mit der HJ zu tun? Er geht da jetzt mit Begeisterung hin … hat wohl sogar irgendeine Führungsaufgabe übernommen. Schuld an allem ist nur dieser blöde Noll. Wie ich den hasse!
Aber zugegeben: Wenn die andern Fritz nicht immer so geärgert hätten, wär es nicht so weit gekommen. Auch die sind schuld.
Fritz hat sich aber auch sehr verändert. Er sieht jetzt richtig toll aus … muss unheimlich viel trainiert haben … sieht jetzt jedem gerade in die Augen … und strahlt Kraft aus.
Hat ihm das dieser Noll beigebracht? Oder hat er das in der HJ gelernt?
Dann ist vielleicht alles ganz anders, als Papa sagt. Vielleicht sind die Nazis gar nicht so schlecht. Wir Juden sind doch einfach nur minderwertig.
Warum musste ich auch ausgerechnet als Jüdin geboren werden?
Nein, so was darfst du nicht einmal denken!!
Immer hab ich mich um Fritz gekümmert. Schon komisch – ich, das ein Jahr jüngere Mädchen.
Doch jetzt ist alles anders. Was ist eigentlich los? Natürlich will ich ihn immer noch beschützen. Aber das reicht nicht. Ich will ihm einfach nah sein, immer – ganz nah.
Aber er schneidet mich plötzlich … Hat wohl vergessen, was ich alles für ihn getan habe … Oder ist es einfach nur Angst, weil ich ein Mädchen bin?
Wenn ich nichts verpasst habe, ist er noch nie einem Mädchen nahegekommen. Außer mir. Aber ich bin ja eigentlich nur so eine Art Schwester für ihn.
Oder will er einfach überhaupt nichts von Mädchen wissen? … Sollte etwa dieser Noll …? Nein, das ist Blödsinn! Das kann überhaupt nicht sein!
Fritz braucht mich einfach nicht mehr. Er ist selbst stark genug. … Ich bin überflüssig, zu nichts mehr nütze … abgelegt wie ein altes Kleidungsstück …
Sie warf sich auf das Bett, verbarg ihr Gesicht im Kissen und fing heftig zu weinen an. Es fröstelte sie. Sie zog jetzt doch die Bettdecke über den Kopf. Sie wollte nichts mehr sehen und hören. Nie mehr!
Wär alles leichter, wenn ich keine Jüdin wär? Was wär dann? Ich wär sicher beim BDM.
Will ich das? Nein, nein und abermals nein!! Ich müsste dann ja diese blöde Uniform tragen. Da wird mir doch schon vom Hingucken schlecht. Was Scheußlicheres kann man doch gar nicht anziehen.
Und dann erst das idiotische Gequatsche von diesen BDM-Tanten: „Wir wollen möglichst schnell dem Führer Söhne schenken!“ …
Ich weine ja gar nicht mehr. Warum hab ich eigentlich geweint? …
Vielleicht hat Fritz mich ja gar nicht weggeworfen. Er hat ganz bestimmt einfach nur Angst. … Aber nicht vor dem Mädchen – sondern weil ich Jüdin bin!
In der HJ haben sie ihm sicher eingetrichtert, ein deutscher Junge darf nichts mit einer Jüdin zu tun haben … und er glaubt diesen Quatsch vielleicht wirklich.
Ich muss auf ihn zugehen!
Ich muss wieder für ihn sorgen!
Ich kann das!
In dem Moment spürte sie wieder Leben in sich, Erwartung. Sie summte eine Melodie vor sich hin, ihre Lieblingsstelle aus dem V. Brandenburgischen Konzert von Bach, das sie gerade im Geigenunterricht durchnahm. Voller Energie sprang sie aus dem Bett, griff nach ihrer Geige und fing an zu spielen. Einmal, zweimal, immer wieder, ohne zu merken, wie verstimmt das Instrument war. Sie tanzte mit der Geige.
Plötzlich warf sie sie aufs Bett, tanzte weiter, streifte mit einer raschen Bewegung ihren Schlüpfer ab. Öffnete die Zimmertür, tanzte nackt durch den Flur, ins Schlafzimmer der Eltern, öffnete den großen Schrank. Da war ein Spiegel, in dem sie sich von Kopf bis Fuß betrachten konnte.
Ich bin schön. Schöner als all diese dummen BDM-Gänse mit ihren Söhnen für den Führer!
Wieder kam die Melodie über ihre Lippen, wieder begann sie zu tanzen, diesmal durch die ganze Wohnung. Sie wusste, sie war allein. Niemand würde sie beobachten. Am liebsten hätte sie so in den Garten hinausgetanzt …
Wer wird mich so sehen, mich bewundern, weil ich so schön bin? … mich umarmen und küssen?
Ich will mich in seine schützenden starken Arme fallenlassen, mit ihm eins werden.
Nie mehr Angst haben müssen … keine Juden, Deutschen, Chinesen oder Eskimos mehr, keine Gesetze, die Liebe verbieten wollen.
Nur noch ich selbst will ich sein, die schöne Hannah. …
Aber wer bin ich eigentlich? Wer kann mir das sagen?
Der, in dessen Armen ich liege! …
Und wer soll das sein? – – Fritz?!
Aber diese Scheiß-HJ! Die ist im Weg. … Was machen die da eigentlich? Fritz hat noch nie davon erzählt. …
Das muss ich herausfinden. Bald. Unbedingt!
Da hörte sie den Schlüssel in der Wohnungstür. Mit einigen schnellen Sätzen sprang sie zurück ins Bett und zog die Bettdecke über sich. Die Mutter sah nach ihr. Sie schläft, dachte sie, das ist gut, und schloss sofort wieder ganz vorsichtig die Tür.
3. Kannst du mir das erklären?“
Der Vater legte sein Lektüre, eine neuere Biographie seines Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach, endgültig beiseite, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah seinen Sohn mit der Nachsicht des Älteren an.
„Erklären soll ich das? Eigentlich ist das doch ganz einfach: So ist eben die Natur des Menschen.“
Bernhard war wie vor den Kopf geschlagen.
„Wie bitte? Die Natur des Menschen? Millionen sinnlos zu massakrieren? Die Jugend des eigenen Volkes zu verheizen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
„Vorsicht, so direkt darfst du es nicht nehmen. Was ich meine: Es gehört zur Natur des Menschen, ohne Sinn und Verstand zu handeln. Und das führt dann oft in die Katastrophe, siehe Erster Weltkrieg.“
„Aber ich bring doch auch nicht ohne Grund einfach meine Mitmenschen um.“
„Aber mit Grund schon?“
„Natürlich auch nicht!“
„Das will ich hoffen. Und warum tust du das nicht?“
Bernhard war verwirrt. Die Frage war doch einfach absurd.
„Das musst du doch am besten wissen. Man darf einfach nicht töten.“
„Siehste?“
„Ich versteh jetzt gar nichts mehr.“
„So schwer ist das doch nicht. Du sagst: ‚Man darf einfach nicht töten.‘ Ganz richtig. Aber woher weißt du das?“
Bernhard begann zu ahnen, worauf der Vater hinaus wollte. Doch er zögerte mit einer Antwort. So fuhr der Vater fort und begann zu dozieren: „Hast du jemals einen Menschen töten wollen und dann auf Grund logischer Erwägungen beschlossen, es nicht zu tun?“
„Ich? Nein.“
„Das bedeutet aber, auch du hast letztlich ohne Sinn und Verstand gehandelt, sondern auf Grund von Normen, die du durch Erziehung, gesellschaftliches Umfeld, Freunde, gute oder schlimme Erfahrungen et cetera in dich aufgenommen hast.“
„Aber damit kann man dann ja alles entschuldigen.“
„Nicht entschuldigen, sondern erklären. Das ist etwas grundsätzlich anderes. Ich habe in meinem Job schon mit einer Vielzahl von Verbrechen zu tun gehabt. Und jedes Mal stelle ich mir wieder die Frage nach dem Motiv, nach dem Warum. Wenn man da tief genug bohrt, kommt man eigentlich immer in einen Bereich, der mit Denken überhaupt nichts mehr zu tun hat.“
Bernhard war sehr nachdenklich geworden.
„Kann sich das jemals ändern?“
„Vielleicht, indem man anfängt, die Dinge auf eine andere Weise zu betrachten. Du hast dich entschieden, Geschichte zu studieren. Das freut mich, wie du weißt. Ich denke, gerade hier lässt sich besonders gut zeigen, was ich meine.“
„Nämlich?“
„Nehmen wir den Ersten Weltkrieg, denn der ist in der Tat ein besonders drastisches Beispiel. Was sich, so weit ich weiß, kaum in der Literatur findet, ist die Frage nach den verborgenen, nicht bewussten Normen, Idealen, Zwängen, die zu diesem aberwitzigen Desaster geführt haben. Man versucht immer, die Sache rational zu erklären. Da ist zunächst der Auslöser, das Attentat von Sarajewo, auf dem Hintergrund einer insgesamt angespannten politischen Lage. Dann werden die logischen Mechanismen beschrieben, wie daraus der große Krieg wurde. Aber das ist alles Unfug. Denn da war eben nichts logisch. Das Denken wurde nur dazu verwendet, die eigenen Vorurteile und vor allem verqueren Ehrbegriffe zu legitimieren. Denn für die, die wirklich nachgedacht haben, war damals schon klar: Was hier geschieht, ist Wahnsinn – und vor allem ein Verbrechen. Aber nicht nur die Führer der Nationen waren in diesen verheerenden Irrationalitäten gefangen, sondern auch das sogenannte einfache Volk. Hast du schon einmal historische Filmaufnahmen gesehen von den Soldaten, wie sie in den Krieg ziehen?“
„Nein.“
„Da hast du den Wahnsinn in Reinkultur. Es ist überhaupt nicht zu fassen, mit welcher Begeisterung, mit welchem Hurra und Tschingderassabum die damals Fähnchen schwingend auf die Schlachtfelder gezogen sind. Als ob es zum Jahrmarkt ginge. Forsche mal nach, was diese Menschen dazu getrieben hat, ihr Denken schlicht und einfach abzustellen und wie die Lemminge in den Tod zu rennen. Nur wenn wir diese Mechanismen durchschauen, können wir Wege finden, es besser zu machen.“
„Sollte ich da nicht besser Psychologie studieren?“
„Mindestens im Nebenfach. Ich verstehe ohnehin nicht, wie jemand Geschichte erklären will, wenn er keine Ahnung hat, wie die menschliche Seele funktioniert. Ich will dir noch ein Beispiel geben. Es ist immer wieder die Frage gestellt worden, wie war nur nach diesem furchtbaren Ersten Weltkrieg die Steigerung zum Zweiten möglich? Die Leute hätten doch eigentlich genug haben müssen von der Schlächterei. Natürlich – wenn sie vernunftgemäß gehandelt hätten. Haben sie aber nicht. Und warum nicht? Mir erscheint folgende Erklärung am plausibelsten: Am Ende des Ersten Weltkriegs war nahezu die gesamte jüngere männliche Bevölkerung Deutschlands entweder tot oder verwundet, körperlich wie seelisch schwerstens beschädigt. Tagaus, tagein hatten sie massenhaft getötet, hatten ständig ihre zerfetzten und verstümmelten Kameraden vor Augen, mussten ständig damit rechnen, da selbst zu liegen. Und als nach vier Jahren endlich alles vorbei war, kam der große Frust hinzu. Sie hatten verloren. Die ganze Schlächterei umsonst. Was kannst du von solchen Menschen erwarten, und auch von den Jüngeren, die sie erzogen haben? Ein ganzes Volk mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das konnte nicht einfach ‚normal‘ weitergehen. Die nächste Katastrophe war bereits programmiert, lange bevor sie eintrat.“
„Aber das geht doch dann immer so weiter.“
„Es muss nicht. Es gibt Hoffnung.“
„Jetzt widersprichst du dir aber.“
„Vielleicht. Aber ihr Jungen könnt es ändern.
„Wie soll das gehen?“
„Indem ihr endlich damit anfangt.“
„Womit?“
„Mit dem Nachdenken.“
1 Die Eichendorffstraße liegt im Süden von Heidelberg im Stadtteil Rohrbach
2 DIE ZEIT: Welt – und Kulturgeschichte, Band 12, S. 498ff
3 DIE ZEIT: Welt – und Kulturgeschichte, Band 13, S. 12ff