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Ende März 2013

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Eine Woche vor Ostern hatten sie im Michaelistift Adolf Reimanns 95. Geburtstag gefeiert. Es war ein großes Fest. Alle Bewohner waren eingeladen und die meisten auch gekommen. Die Seniorenblaskapelle des Hauses spielte Marschmusik. Der Oberbürgermeister gratulierte persönlich. Alle wunderten sich über den Jubilar. Er machte einen ganz munteren Eindruck und schien durchaus mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Ja, er schien sich tatsächlich zu freuen. Das war ungewöhnlich, da er schon lange kaum noch lichte Momente hatte und meistens in seiner eigenen Welt lebte, zu der außer ihm niemand Zugang hatte. Auf die Realität reagierte er in der Regel mit Grimm.

Ein paar Tage später geschah dann etwas völlig Überraschendes. Beim Abendessen nahm er wie gewöhnlich nicht am Tischgespräch teil, unterbrach es auch nicht mit unsinnigen Kommentaren. Doch dann fing er plötzlich ganz unvermittelt an zu erzählen. Nicht zielgerichtet, sondern in Bildern, die nur schwer in einen Zusammenhang zu bringen waren:

… dieses Dorf in Russland …

Kinder schrien …

die Türen von außen verbarrikadiert …

eine große Scheune …

zwölf Kameraden tot …

ein Mannschaftswagen …

aufgefahren auf eine Mine …

völlig zerfetzt …

Feuer …

das Scheunendach …

Partisanen, sagten sie …

die Männer …

an die Wand gestellt …

eine Heldentat …

daneben geschossen …

absichtlich …

hätte vors Kriegsgericht kommen können …

alles so still …

schrien nicht mehr …

die Kinder …

eingestürzt …

habe selbst die Fackel geworfen!

Adolf Reimann war dann mit einem Ruck aufgestanden, hatte seinen Rollator gegriffen und mit schlurfenden Schritten den Speisesaal verlassen.

Die beiden Frauen und Fritjof Fries blieben eine Weile schweigend sitzen. Dann stand Hannah plötzlich auf und verließ gleichfalls den Raum, Hedwig folgte ihr auf den Fuß.

Fritjof Fries blieb sitzen. Er sah ins Leere. Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten waren plötzlich wieder gegenwärtig. Vor fast allen graute ihm.

Doch dann war da auch ein ganz anderes Bild – der schönste Augenblick in seinem Leben.

Warum hatte er sich das nicht bewahren können?

Scheißkrieg!

Und jetzt wurde er tagein, tagaus daran erinnert.

*

Am Ostermontagmorgen wurde den Bewohnern des Michaelistifts mitgeteilt, Adolf Reimann sei in der Nacht gestorben. Sie hatten ihn nicht mehr gesehen.

*

Einige Tage später – Hannah und Hedwig hatten gerade am Mittagstisch Platz genommen, an dem Fritjof Fries wie immer schon eine geraume Zeit saß – kam Fengzhi Zhang zu ihnen mit einem großen, kräftigen Mann, der trotz seines hohen Alters noch gerade aufgerichtet ging. Er hatte weißes, leicht gelocktes und noch volles Haar, buschige Augenbrauen und trug einen hellgrauen Anzug – ein Maßanzug, wie es schien – mit einer rotweiß gestreiften Krawatte.

„Darf ich Ihnen Professor Dr. Andreas Zeitler vorstellen?“, sagte Fengzhi Zhang, deren Deutsch inzwischen sehr viel sicherer geworden war. „Herr Professor, das sind Frau Professor Hannah Lewandowski, Hedwig Fahrenkopf und Fritjof Fries. Sie wohnen schon lange hier bei uns. Ich hoffe, Sie kommen gut miteinander aus.“

Schnell machte sie sich unsichtbar. Professor Zeitler setzte sich zu den anderen. Er goss sich Mineralwasser ein, hob das Glas und sagte mit freundlichem Lächeln: „Es freut mich, Sie kennenzulernen. Schade, dass kein besseres Getränk da ist. Ich trinke trotzdem auf Ihr Wohl und eine schöne gemeinsame Zeit.“

Er nahm einen Schluck und fragte dann: „Sie sind also schon länger hier im Hause?“

Sofort ergriff Fries das Wort: „Ja, vor allem ich. Seit fast elf Jahren wohne ich jetzt hier. Mal sehen, wie lange ich es mit meinen neunzig Jahren noch mache. Und diese charmanten Damen leisten mir jetzt seit zwei Jahren Gesellschaft, sehr angenehme Gesellschaft. Aber Frau Zhang stellte Sie uns als Professor vor. Darf ich fragen, welche Fachrichtung?“

„Dürfen Sie. Ich habe lange Zeit an der Universität in Frankfurt gelehrt, Neuere Geschichte. Jetzt bin ich allerdings emeritiert, was nicht bedeutet, dass ich nicht mehr arbeite. Ich schreibe, historische Fachbücher.“

„Aha“, sagte Fries mit wachsendem Interesse. „Verzeihen Sie, wenn ich neugierig erscheine. Wenn ich Sie so, rein äußerlich, mit uns anderen Bewohnern hier vergleiche, frage ich mich, warum sind Sie eigentlich schon hier? Sie passen doch noch gar nicht wirklich zu uns.“

Ein Schatten ging über das Gesicht des Professors. Aber schnell lächelte er wieder und sagte: „Das ist jetzt wohl ein Kompliment. Aber, ehrlich gesagt, ich hatte mir meinen Lebensabend auch anders vorgestellt. Meine Frau war acht Jahre jünger als ich. Fast fünfzig Jahre haben wir in Schlierbach* in einem wunderschönen Haus mit großem Garten gelebt und dort fünf Kinder groß gezogen. … Tja, und dann war sie plötzlich nicht mehr da. … Herzversagen, ohne jede Vorankündigung.“

Hier hielt er inne. Die drei anderen schwiegen betroffen. Der Professor wirkte abwesend und sehr müde.

Doch dann fasste er sich wieder und fuhr fort: „Ich hatte angesichts des Altersunterschieds nie darüber nachgedacht, was ich mache, wenn sie vor mir geht. Das lag einfach außerhalb meiner Vorstellung. Plötzlich war ich allein in dem großen Haus. Die Kinder sind über die ganze Welt verstreut, alle weit weg von Heidelberg. Einige von ihnen haben mir angeboten, ich solle doch zu ihnen ziehen. Aber ich bin nun mal Heidelberger. Ich kann nur hier leben. Selbst in meiner Frankfurter Zeit hatte ich dort nur eine kleine Wohnung und war, wann immer es ging, wieder hier.

Ich hatte gehofft, mich an das Alleinsein zu gewöhnen, mit der Zeit. Aber dann wurde mir klar: In dem Haus erinnert mich alles an meine verstorbene Frau. Da konnte ich ja nur depressiv werden. Da habe ich mir diese Einrichtung angesehen und sehr spontan entschieden, hierher zu ziehen. … Tja, so sieht das bei mir aus. Aber zum Glück habe ich ja meine Arbeit. Es gibt für mich noch viele neue Aufgaben, denen ich mich stellen will.“

„Professor Zeitler, was sind das für Aufgaben?“, fragte Hannah Lewandowski. Die Aufdringlichkeit von Fries war ihr peinlich.

„Ich sagte ja, mein Gebiet ist die Neuere Geschichte. Und mein besonderes Interesse gilt der Zeit des Dritten Reichs. Wobei es mir nicht um die spektakulären Großereignisse geht. Dazu ist fast alles gesagt. Neue Erkenntnisse sind kaum noch zu erwarten. Ich für meinen Teil will vor allem wissen, wie sich das Alltagsleben der Menschen in jenen Jahren gestaltete. Zurzeit arbeite ich an dem Thema Kindererziehung. Wie sah sie damals in Deutschland aus im Vergleich zu Frankreich, England, Polen oder Russland? Die gleiche Frage will ich zum Thema Familie, Arbeitsleben, aber auch Altwerden stellen. Ich weiß nicht, ob ich noch genug Zeit habe, das alles zu untersuchen. Aber den Versuch ist es wert. Das gibt mir wieder Lebensmut.“

„Das klingt ja höchst interessant!“, beteiligte sich jetzt auch Hedwig Fahrenkopf an dem Gespräch. „Verzeihen Sie eine etwas indiskrete Frage: Was für ein Jahrgang sind Sie eigentlich und wie ist Ihre persönliche Erinnerung an diese Zeit?“

„Geboren bin ich zwei Tage vor der sogenannten Machtergreifung. Das Dritte Reich, das waren meine ersten zwölf Lebensjahre. Aber ich hatte Glück. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, im Odenwald, in Beerfelden*, wenn Sie wissen, wo das ist. Da schien der Krieg lange Zeit sehr weit weg.“

„Aber wie wollen Sie dann über diese Zeit wahrheitsgemäß schreiben?“, unterbrach ihn da Fries plötzlich sehr erregt. „Niemand kann verstehen, was Bombennächte bedeuten, der nicht selbst im Luftschutzkeller saß. Niemand kann sich vorstellen, was Frontalltag bedeutet, dem nicht selbst die Granaten um die Ohren geflogen sind!“

„Aber beruhigen Sie sich doch, lieber Herr Fries“, sagte Professor Zeitler beschwichtigend und blieb dabei vollkommen gelassen. „Noch gibt es Zeitzeugen, die ich befragen kann, sicher auch gerade hier unter den Bewohnern dieses Hauses. Und wir können auf Tausende Originaldokumente zugreifen: Briefe, Bilder, Filme und vieles mehr. Da kann man schon zu objektiven Befunden gelangen.“

„Objektive Befunde?“, steigerte sich Fries immer mehr in Rage. „Dass ich nicht lache! Von den Jungen kommt da doch nichts außer selbstgerechten Anklagen wie ‚Soldaten sind Mörder‘ oder ‚die Wehrmacht war eine Verbrecherbande‘. Was wissen die denn, was damals los war? Vor ein paar Tagen hat hier an diesem Tisch noch unser alter Reimann gesessen. Siebzig Jahre hat es gebraucht, bis es endlich aus ihm herausbrach. Er war damals im Osten, hat Frauen und Kinder verbrannt, bei lebendigem Leib! ‚Lebenslänglich hätte er dafür bekommen müssen‘‚ sagt man heute. Warum eigentlich? Lebenslänglich hatte er doch schon! Da war sicher kein Tag, an dem er nicht die brennende Scheune gesehen und die Schreie der Kinder gehört hätte. Glaubt mir das. Und dann die Nächte, die fürchterlichen Nächte! Was braucht es da noch lebenslänglich? In diesem Krieg, diesem Scheißkrieg, waren doch nur die zu beneiden, die nicht zurückgekommen sind!“

*

Hannah und Hedwig saßen nach dem Mittagessen in ihrem Wohnzimmer. Sie hatten noch kein Wort gesprochen, waren aber doch voll innerer Unruhe. Der Ausbruch von Fritjof Fries hatte sie völlig überrumpelt und fassungslos gemacht.

„Ich weiß überhaupt nicht, was ich davon halten soll“, begann Hedwig schließlich zögernd. „Seit dem ersten Tag kein Wort mehr über die Kriegszeit und dann so ein Ausbruch. Was hat er tatsächlich erlebt?“

„Die Vehemenz, mit der er Reimann verteidigt hat“, meinte Hannah nüchtern, „lässt doch eigentlich nur einen Schluss zu: Er muss selbst Ähnliches erlebt haben. … Das war keine Verteidigung von Reimann. Das betraf ihn selbst. … Hedwig, weißt du, was das heißt? Mein Instinkt hatte mich bei unserer ersten Begegnung doch nicht im Stich gelassen, und auch Benni lag richtig. Unser Freund Fries stand womöglich doch auf der anderen Seite. … Mir wird eiskalt bei der Vorstellung, er könnte selbst in irgendwelche Kriegsverbrechen verwickelt sein.“

„Nein, Hannah, jetzt bist du zu voreilig. Wie wir wissen, hat er diesen furchtbaren Bombenangriff auf Mannheim mitgemacht, bei dem er alle Angehörigen verloren hat. Er hatte außerdem schlimme Fronterlebnisse. Da muss er kein Verbrecher sein.“

„Vielleicht hast du recht. … Was er da über die Bombennächte und den Frontalltag gesagt hat, hat mich schon sehr betroffen gemacht.“

Hedwig schwieg eine Weile und fuhr dann nachdenklich fort: „Ich überlege gerade: Fritjof war bei Kriegsende etwas über zwanzig. Das heißt, er war zwölf Jahre lang der Gehirnwäsche der Nazierziehung ausgesetzt. Kann man ihn da noch anklagen, ganz gleich, was er getan hat?“

Hannah antwortete nicht gleich.

„Wenn man es ganz nüchtern betrachtet, darf man es nicht. Viele hatten nie normales menschliches Empfinden lernen können. Sie wurden zu seelischen Krüppeln erzogen. Aber dennoch … hier schaffe ich es einfach nicht … so sehr ich mich auch bemühe …“

„Was?“

„Die Dinge mit nüchterner mathematischer Logik anzusehen.“

Wieder sprachen sie längere Zeit kein Wort. Dann fing Hedwig wieder an: „Hast du dir eigentlich schon mal klar gemacht, dass Fritjof fast so alt ist, wie Fritz jetzt wäre, wenn er noch lebte? Ist das nicht merkwürdig?“

„Natürlich. Aber … lass Fritz ruhen. Ich habe mit ihm meinen endgültigen Frieden gemacht, als wir vor fünfzehn Jahren an seinem Grab in La Cambe1 standen. … Es gibt keine Anklage über den Tod hinaus. … Was immer er getan hat: Er bleibt der Einzige, den ich je wirklich geliebt habe.“

Hedwig wusste, dass sie jetzt nichts mehr sagen durfte, dass sie Hannah mit ihrem Schmerz und ihren Erinnerungen allein lassen musste.

Sie stand geräuschlos auf, ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Als sie mit der dampfenden Kanne zurückkam, saß Hannah noch genauso da, wie sie sie verlassen hatte. Hedwig stellte Tassen auf den Tisch und zündete eine Kerze an.

„Komm, lass uns einen richtig guten Kaffee trinken. Soll ich eine Musik auflegen?“

Hannah schüttelte heftig den Kopf, als müsste sie etwas abwerfen.

„Was hast du gerade gesagt? Ich war ganz woanders.“

„Willst du Musik hören?“

„Vielleicht später. … Wir müssen uns erst klarwerden, wie wir mit Fritjof weiter umgehen. Ich kann nicht einfach so tun, als ob nichts geschehen wäre.“

„Natürlich, Liebes. … Was sollen wir also deiner Ansicht nach machen? … Wie können wir die Wahrheit herausfinden? … Wenn er wirklich etwas zu verbergen hat, wird er es uns nicht einfach sagen.“

„Weißt du was? Ich rufe Benni an, und zwar jetzt gleich. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.“

1 Nahe der Gemeinde La Cambe in der Normandie liegt eine der zentralen Begräbnisstätten von im Zweiten Weltkrieg in Frankreich gefallenen deutschen Soldaten.

Metastasen eines Verbrechens

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