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Mai 1935

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Im Pausenhof des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums, dem ältesten Gymnasium Heidelbergs, war direkt neben der Turnhalle ein Auflauf entstanden. Inmitten eines Pulks von Quartanern gab es offenbar eine Rauferei. Zwei Obertertianer im Braunhemd der HJ beobachteten das Geschehen aus einiger Entfernung.

„Da wird wohl einer von mehreren verprügelt“, bemerkte Wernher, der für sein Alter schon sehr groß und auch kräftig war.

„Na und, was geht’s uns an?“, sagte Gunther, flachsblond, Kraushaar mit Sommersprossen.

„Du hast doch auch gelernt, es ist unsere nationale Pflicht, andere für die Bewegung zu gewinnen.“

„Was hat das denn damit zu tun?“

„Wir befreien das Opfer und stellen es unter unseren besonderen Schutz. Danach werben wir den Knaben an. Das klappt bestimmt.“

„Und wenn‘s ein Jammerlappen ist? Oder gar ein Saujud?“

Hier wurde ihr Gespräch unterbrochen. Dr. Hagen von Adelung, gefürchteter Lehrer für Latein und Griechisch, ging mit militärisch strammem Schritt auf die Quartanergruppe zu und riss die Gaffer mit energischen Griffen auseinander. In der Mitte des Kreises knieten zwei Jungen links und rechts neben einem Dritten und schlugen auf ihn ein. Dr. von Adelung packte beide am Kragen, zerrte sie nach oben und schnauzte sie an: „Zwei gegen einen ist feige!“

„Aber er hat doch …“

Eine schallende Ohrfeige unterbrach ihn.

„Du widersprichst mir nicht, egal was ist! Niemals zwei gegen einen! Ein offener Boxkampf, das ist eines deutschen Jungen würdig. Aber nicht so etwas.“

Die Schulglocke ertönte.

„Auf denn, in den Unterricht! Aber du bekommst auch noch den Lohn für deine Feigheit.“

Er packte den zweiten Schläger am Hemd und gab auch ihm eine schallende Ohrfeige. Dann wandte er sich von der Gruppe ab und strebte großen Schrittes in das Schulgebäude, ohne sich um den am Boden liegenden Jungen zu kümmern. Der blutete heftig aus der Nase.

Die Gruppe hatte sich aufgelöst. Fritz Wiechmann setzte sich mühsam auf, griff nach seinem Taschentuch und versuchte, sich das Blut abzuwischen. Aber es kam immer noch welches nach.

„Was hast du denen denn getan?“, hörte er da plötzlich eine Stimme neben sich. Er sah auf und schaute in das herausfordernd blickende Gesicht eines sehr viel älteren Schülers. Reflexartig hielt er seine Hände vors Gesicht und schrie weinerlich: „Nicht schlagen! Nicht schlagen!“

„Warum sollte ich dich schlagen?“, fragte der andere zurück und sein Blick wurde freundlicher. „Komm hoch!“

Der Große hielt ihm seine Hände hin. Fritz ergriff sie und ließ sich hochziehen.

„Aber was war hier eigentlich los? Warum haben die dich verprügelt?“

Fritz sah schüchtern auf den Boden. Er fühlte sich irgendwie schuldig.

„Ich hab ihnen nichts getan. Aber sie machen es trotzdem, immer wieder.“

„Du musst dich wehren. Schlag zurück!“

„Aber es sind immer mehrere. Und – ich bin zu schwach.“

„Und was ist mit deinen Freunden, helfen die dir nicht?“

„Hab keine Freunde.“

Der Große sah ihn bedauernd an: „Junge, du fängst an mir leidzutun. Wie heißt du denn?“

„Fritz.“

„Ich bin Wernher. Pass mal auf. Ab sofort stehst du unter meinem besonderen Schutz. Und wenn die dir auch nur ein einziges Haar krümmen, dann …!“ Und er ballte seine rechte Hand zur Faust, zog den Arm an den Körper und ließ seine beeindruckenden Muskeln spielen.

„Du siehst, das wird denen schlecht bekommen. Aber – das kann nicht ewig so gehen. Du kommst zweimal in der Woche zu mir, und dann bring ich dir Boxen bei. Das kann ich, besser als Griechisch. Ich hab schon zweimal unser großes Boxturnier gewonnen und dabei auch schon mehrere Obersekundaner zu Boden gestreckt. Also, heute Nachmittag um vier geht’s los.“

Wernher gab Fritz noch seine Adresse.

„Aber jetzt sollte ich in den Unterricht gehen, Latein bei Dr. von Adelung.“

„O je, wird er dich jetzt auch schlagen?“

„Mich – schlagen? Nein, das traut der sich nicht.“

„Weil du so stark bist?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Warum dann?“

„Weil ich dieses Hemd trage.“

Und er schlug sich stolz auf die Brust.

„Das verstehe ich nicht.“

„Wenn du heute zu mir kommst, erklär ich ‘s dir.“

Wernher wandte sich um und schlenderte gemütlich vor sich hinpfeifend in das Schulgebäude. Fritz sah ihm nach. Sein Nasenbluten hatte aufgehört. Träumte er oder war das wirklich wahr? Er hatte einen Freund gefunden, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte ihn.

„Ich hab einen Freund, ich hab einen Freund! Das muss ich gleich Hannah erzählen!“

Er lief einfach los, ohne sich um seinen Schulranzen zu kümmern, der noch im Klassenzimmer stand. Am Hauptbahnhof stieg er in die Straßenbahn. Er war vor Glück ganz benommen und kam gar nicht auf den Gedanken, dass Hannah noch in der Schule war und er sie erst beim Mittagessen sehen würde.

Metastasen eines Verbrechens

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