Читать книгу Lillian - Straße der Sünde - Christopher Crane - Страница 10
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„Unglaublich“, sagte Frank und bestaunte das Schlafzimmer. Das Bett war echte Handarbeit. Es schien im ganzen Raum nichts zu geben, was nicht aus Holz und von Hand gefertigt worden war. Die Nachttische, Stühle und sogar eine Lampe an der lediglich die Fassung aus Metall war. Lillian erkundete gerade den Kleiderschrank.
„Er muss das Haus renoviert haben, für den Fall, dass sie jemals zurückkommt. Es muss ihn Hunderte von Stunden gekostet haben, das alles herzustellen.“
Das Haus war für seine beschauliche Größe überraschend geräumig. Im Inneren verbargen sich ein großes Wohnzimmer mit offener Küche, ein Schlafzimmer und ein großes Badezimmer samt Wanne. Hinter dem Haus befand sich ein kleiner Garten und nebenan stand ein Haus, das scheinbar zur gleichen Zeit erbaut worden war, denn es sah von außen exakt gleich aus.
„Es ist großartig“, verkündete Lillian, „unser eigenes kleines Haus. Wollen wir gleich zu deinem Opa? Ich könnte einen kleinen Imbiss vertragen. Erst recht, nachdem wir nach der Beerdigung nichts abbekommen haben.“
Frank starrte immer noch das Bett an. Er konnte sein Glück kaum fassen. Gestern hatte er noch in einem verkümmerten Blumenladen mit Mindestlohn gearbeitet und hatte einen negativen Kontostand und heute waren sie beide Besitzer eines Eigenheims und eines beachtlichen kleinen Vermögens.
Raus aus den Schulden und rein ins neue Zuhause, ging es ihm durch den Kopf.
„Ja, lass uns gehen“, sagte er leicht benommen.
„Du kannst es auch kaum glauben, oder?“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie so viel Geld besessen, geschweige denn ein Haus.“
„Geht mir genauso. Jetzt müssen wir verantwortungsvoll damit umgehen. Du darfst nicht vergessen, du bist gerade arbeitslos.“
„Wir haben auch noch den Anteil am Blumenladen“, sagte Frank und lächelte.
„Genau“, sagte Lillian, „wie sieht es aus mit deinen Chamäleon-Blumen?“
„Den Blumenladen könnten wir zum Verkauf meiner Kreation benutzen“, sagte Frank und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Und Gewächshäuser gibt’s im Ort ja auch. Wer weiß, vielleicht kommt hier wirklich alles zusammen. Man müsste herausfinden, wem die Gärtnerei gehört.“
Lillian hatte sich auf der Matratze nach hinten fallen lassen und lag auf dem Rücken. Frank stand am Fenster, murmelte und rechnete vor sich hin.
„Franky“, sagte Lillian, „komm her!“
Frank drehte sich um und kam zum Bett. Sie streckte ihre Hände nach ihm aus.
„Komm, leg dich neben mich.“
Frank seufzte und legte sich neben Lillian. Das Bett war weich, vielleicht etwas zu weich, aber dafür schrecklich bequem. Nach der langen Fahrt und dem ereignisreichen Tag schloss er für einen Moment die Augen.
„Weißt du, wo wir sind, Frank?“, fragte Lillian.
„Wo sind wir?“
„Wir sind zu Hause“, sagte sie und küsste ihn.
Er grinste. „Ja, das sind wir wohl.“
„Und jetzt gehen wir eine Kleinigkeit essen. Ich will deinen Opa und seinen Mann besser kennenlernen. Ihm scheint wohl mal das Restaurant gehört zu haben, das jetzt ein Asiate ist. Was wohl aus dem Laden geworden ist?“
Frank stand auf und zog Lillian mit sich.
„Machen wir uns auf den Weg. Dann kannst du ihn selber fragen. Ich ruf kurz an und gebe Bescheid, dass wir kommen.“
Spencer stellte das Tablett auf den Tisch und bemerkte, dass er etwas vergessen hatte.
„Sophie, wärst du so lieb und stellst das Geschirr auf? Ich muss noch mal in die Küche. Ich habe die Snacks vergessen“, bat er in höflichem Ton.
„Gerne doch“, gab Sophie zurück.
Spencer, der mit seinen 71 Jahren deutlich jünger war als Basil, hatte eine Halbglatze und ein freundliches Gesicht. Mit den Jahren hatten sich zwar einige Falten eingeschlichen, doch eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung hatten ihm ein fast jugendliches Aussehen verschafft. Seine Augenbrauen waren mit den Jahren lichter geworden und das Einzige, was von der Zeit gänzlich unberührt geblieben war, waren seine Zähne, die in großen weißen Reihen bei jedem Lächeln aus seinem Mund strahlten.
„Hast du gebacken?“, fragte Sophie.
„Oh nein. Mir hat die Zeit gefehlt“, sagte er und trat zurück ins Wohnzimmer. „Mit den ganzen Vorbereitungen für Sarahs Leichenschmaus bin ich zu nichts gekommen. Ich habe das Gebäck im Supermarkt gekauft. Ich kenne die Marke noch aus meiner Zeit im Restaurant. Wir haben die Kekse gerne zum Kaffee gegeben. Alles kann man nicht selber machen.“ Er stellte die Dose mit den Keksen auf den Tisch. „Das sollte reichen. Immerhin treffen wir uns ja zum Reden und nicht, um zu essen.“
Sophie hatte bereits auf einem der Sofas Platz genommen und sich einen Tee eingegossen. „Wird sich Basil nicht zu uns setzen?“, fragte sie und nippte vorsichtig am noch heißen Tee.
„Doch, das wird er. Er ist noch draußen bei den Tieren. Er geht in letzter Zeit wieder mehr vors Haus, was mir nur recht ist. Ein Mann in seinem Alter braucht die Bewegung. Sonst denken seine alten Knochen, dass sie bereits auf Eichenholz liegen. Ich werde nach ihm sehen. Er hat dem Schwein beigebracht, einen Ball zu apportieren, wahrscheinlich versucht er jetzt, dem Pferd das Stricken zu erklären“, Spencer schüttelte den Kopf.
Sophie kicherte in ihren Tee.
„Ich bin gleich zurück“, sagte er und schlenderte hinaus auf die Veranda. Er schaute Richtung Tierkuppel, und gerade als er Basil erkannte, kam der Sprinter auf den Hof gefahren und versperrte ihm die Sicht. In der Fahrerkabine erkannte er Basils Enkel und dessen Partnerin.
„Hallo ihr zwei“, sagte er, als die beiden ausstiegen. „Spencer Flal, ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen“, sagte er und streckte ihnen die Hand zum Gruß entgegen.
Die beiden stellten sich vor und schüttelten ihm die Hand.
„Es freut mich, euch kennenzulernen, es kommt nicht oft vor, dass Basil Verwandtschaft zu Besuch hat. Ach was sag ich denn“, sagte Spencer und machte eine verjagende Geste. „Ihr seid ja gar nicht zu Besuch. Ihr seid doch jetzt offizielle Shuuslinge.“
„Das sind wir wohl“, sagte Lillian lachend. „Das Haus ist wirklich fantastisch. Ich kann kaum glauben, dass wir es einfach so kriegen. Bist du sicher, dass es Basil nicht fehlen wird?“
„Nicht im Geringsten, ihr Lieben. Er war schon seit Ewigkeiten nicht mehr dort oben. Ich glaube, das Haus erinnert ihn zu sehr an Sarah.“
„Wo ist Opa denn?“, fragte Frank.
Spencer seufzte und kratzte sich am Hinterkopf.
„Dein Opa ist auf der Koppel und wirft Lissy, unserem Schwein, einen Ball vor den Rüssel, den sie ihm dann stolz zurückbringt.“
Basil kam hinter dem Sprinter hervor und mischte sich in die Unterhaltung ein. In seiner rechten Hand hielt er einen vollgesabberten Tennisball.
„Sie ist ein feines Schwein. Treuer als jeder Hund und nützlicher als jede Katze. Ich kann es kaum abwarten, sie dieses Weihnachten zu essen.“
„Das kannst du vergessen, Basil Wilkee. Niemand isst eines meiner Tiere“, protestierte Spencer.
„Und was ist mit dem Huhn, das wir letztes Weihnachten geköpft und gefressen haben? Hat sich das etwa selber den Kopf abgeschlagen und ist dann in den Ofen gekrochen?“
Derartig flapsige Kommentare ließ Spencer ihm schon lange nicht mehr durchgehen. Er ging an Frank und Lillian vorbei und baute sich vor Basil auf. Die zwei alten Männer standen einander gegenüber, als wollten sie sich gleich in eine Schlägerei stürzen.
„Dieses Huhn war unser Freund. Und es war altersschwach, das weißt du ganz genau. Wir töten unsere Tiere nicht ohne Grund. Das weißt du ebenfalls, was du darüber hinaus noch weißt, ist, dass wir eingeschneit waren und die Supermarktregale leer waren. Und du weißt ganz genau, dass ich viel Wert auf unser Essen lege, Basil Wilkee.“
Er drehte sich kurz zu Lillian und Frank um.
„Der Tunnel war zugeschneit. Das passiert manchmal, es ist der einzige Zugang zum Ort. Wir sind eben ein verlassenes Örtchen am Ende der Welt. Und wenn der Tunnel dicht ist, sitzen wir hier fest, vorübergehend.“
Er wendete sich wieder Basil zu.
„Ich würde es schätzen, wenn du dein loses Mundwerk in unserem Zuhause zügelst, zumindest wenn wir Gäste haben, Basil Wilkee. Diese Seite schätze ich an dir überhaupt nicht.“
„Es tut mir leid Spenc“, sagte Basil und ließ den Kopf hängen. „Ich ... ich hab einfach so dahergeredet. Trudel war ein gutes Huhn.“
„Entschuldigung angenommen. Jetzt ab ins Haus mit dir, setz deinen Filter zwischen Hirn und Mund wieder ein und setz dich zu Sophie. Verstanden?“
„Jawohl.“ Basil gab sich geschlagen und trottete ins Haus.
„Ich liebe dich, Basil Wilkee, sogar mit deinem losen Mundwerk!“, rief ihm Spencer hinterher. „Bitte entschuldigt“, sagte er zu Lillian und Frank. „Er soll in der Kirche einen riesen Aufstand gemacht haben. Gott sei Dank habe ich davon nichts mitbekommen. Ich war im Gemeindesaal und ... aber genug davon. Kommt, lasst uns reingehen.“
Er schritt voran und zeigte den beiden den Weg. Sie liefen durch einen kurzen Eingangsbereich aus Marmor und bogen dann in ein großes Wohnzimmer ab. Darin befand sich weder ein Fernseher noch ein Radio. Dafür aber zwei große Sofas mit einem Ohrensessel und einem Glastisch dazwischen, der mit einer Keksdose und Getränken auf sie wartete. Auf dem Boden lag ein großer Orientteppich, der fast den gesamten Raum abdeckte. Lillian blieb stehen und bewunderte den Teppich. Frank nahm auf dem Sofa gegenüber von Sophie und seinem Opa Platz. Spencer, im Ohrensessel, bemerkte, wie Lillians Blick über den Teppich kreiste.
„Er ist wunderschön, nicht wahr? Ich habe ihn aus Istanbul mitgebracht. Ich habe dort zwei Jahre in einem Hotel gekocht und der Teppich war ein Abschiedsgeschenk des Inhabers. Er ist aus echter Seide. Selber würde ich mir so etwas nie kaufen, aber er ist ein wahres Prachtstück.“
„Ich wollte schon immer einen großen Perserteppich haben“, sagte sie und drehte sich um die eigene Achse. „Er ist so groß.“
„So einen würdest du leider nur schwer in mein kleines Haus bekommen“, merkte Basil an.
„Lillian entwirft schon seit Jahren ihr Traumhaus“, sagte Frank „Ihr würdet nicht glauben, was sie dort alles eingeplant hat.“
„Jedes Mädchen hat seine Träume, Frank“, sagte Basil. „Manche wollen reisen, andere wollen ein Haus bauen.“
Sophie deutete durch ein höfliches Räuspern an, dass sie sich gänzlich ignoriert fühlte.
„Bitte entschuldige, wo sind denn meine Manieren, Frank, Lillian, das ist Sophie“, stellte Spencer sie vor. „Ihr gehört der andere Teil von Sarahs Blumenladen.“
Die gebrechliche Frau nickte zustimmend und nippte weiter an ihrem Tee. Sophie war klein und hager. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Dutt zusammengesteckt und an ihren Füßen saßen ein paar alte Turnschuhe. Abgesehen von einem kleinen Goldkettchen an ihrem rechten Handgelenk machte sie einen verwahrlosten Eindruck.
„Ich bin mit einem Anliegen zu diesem Treffen gekommen“, fing sie an, „ich bin alt und das Geschäft mit dem Blumenladen wird mir zu viel.“
„Sophie ...“, wollte Basil sie unterbrechen.
„Nein. Basil, es geht mir schon seit einer Weile so. Die Arbeit im Laden ist anstrengend und ich bin einfach zu alt geworden. Um ehrlich zu sein, bin ich es auch ein klein wenig leid. Die Arbeit mit Sarah war angenehm, aber alleine ist es zu anstrengend. Es wird Zeit, zurückzutreten. Und da kommt ihr ins Spiel. Basil hat mich wissen lassen, dass ihr von Sarah eine beachtliche Summe Geld geerbt habt. Hier ist mein Angebot: Für 50 000 verkaufe ich euch meinen Anteil am Laden, überlasse euch meine Kontakte und Stammkundschaft und helfe euch mit dem Geschäft, bis ihr euch zurechtfindet. Einverstanden?“
Spencer und Basil blickten beide zu Lillian und Frank, die selber nicht so recht wussten, was sie mit dem plötzlichen Überfall anfangen sollten.
„Sophie, das ist sehr großzügig von dir. Was meinst du, Lillian? So eine Entscheidung kann ich nicht für uns beide treffen. Es ist unser Geld.“
Das stimmte nicht. Rechtlich gesehen gehörte das Geld Frank und Frank alleine. Lillian war sich dessen durchaus bewusst, aber so hatte ihre Beziehung schon immer funktioniert. Sie teilten sich ein Bankkonto und verwalteten ihr Geld gemeinsam. Bea hatte ihr immer gesagt, dass sie und Frank ein finanzielles Wunderkind seien. Die meisten Beziehungen, die ihre Finanzen so handhabten, zerbrachen irgendwann daran.
„Sophie, ist der Laden denn nicht viel mehr wert?“, fragte Lillian.
„Das ist mir egal“, sagte Sophie mit einer ordentlichen Portion Ehrlichkeit in der Stimme. „Mir ist er 50 000 wert, denn das ist die Summe, die mir noch fehlt, um meinen Ruhestand genießen zu können. Das Geschäft hat eine treue Stammkundschaft und ich habe gute Kontakte zu den Bogdanows, die die Gärtnerei betreiben. Das sind gute Jungs, sie liefern mir ihre Rosen zu einem unschlagbar niedrigen Preis. Ich werde sie bitten, für euch dasselbe zu tun, und sie werden meiner Bitte nachkommen.“
„Wolltet ihr in Shuus bleiben?“, fragte Basil.
„Das hatten wir vor“, sagte Lillian.
„Und was genau war euer Plan, habt ihr eine Arbeit außerhalb von Shuus?“
„Nein, wir sind quasi arbeitslos.“
„Warum kauft ihr nicht den Laden, steckt die restliche Kohle in eine Renovierung und zieht das Ding richtig groß auf?“, schlug Basil vor.
Spencer hatte seine Beine überkreuzt und die Arme verschränkt.
„Das wäre doch was. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Was habt ihr schon zu verlieren? Euer Haus kann euch niemand nehmen.“
„Was meinst du?“, fragte Lillian Frank.
„Warum nicht. Wir kaufen den Laden. Vielleicht haben diese Bungda...“, er versuchte vergeblich, den russischen Namen auszusprechen.
„Bogdanows“, korrigierte ihn Sophie. „Ich werde euch einander vorstellen.“
„Fein. Vielleicht kann ich diese Bogdanows davon überzeugen, Geld in meine Blumensamen-Idee zu investieren.“
Fragende Blicke richteten sich auf Frank.
„Mein Junge, es tut mir leid, dass ich deine Welt zerstören muss, aber Blumensamen gibt es schon“, sagte Basil.
„Aber nein. Blumen, die aus diesen Samen wachsen, wechseln regelmäßig die Farbe, ganz von alleine.“
Die fragenden Blicke lösten sich in Erstaunen auf.
„Die Jungs werden sich sicher dafür begeistern lassen“, erklärte Sophie. „Sie suchen immer nach einer cleveren Investitionsmöglichkeit. Sie sind sehr gewieft, was ihre Geschäfte angeht. Sie haben die Gärtnerei quasi aus dem nichts aufgebaut.“
Basil gähnte.
„Dann wäre ja vorerst alles geklärt“, meinte Spencer. „Dann würde ich euch jetzt alle gerne rausschmeißen. Es wird Zeit, dass diese zwei alten Männer ihren Mittagsschlaf machen. In Ordnung?“ Er war aufgestanden und lächelte seine Gäste freundlich an.
„Natürlich“, sagte Frank.
Sophie, die die Routine der beiden bereits kannte, stand vom Sofa auf und nahm ihre Handtasche.
„Wir sehen uns bald wieder. Basil. Spencer.“ Sie verabschiedete sich nüchtern und verließ das Haus.
„Sie ist eigentlich eine Frohnatur. Aber Sarahs Tod hat sie sehr mitgenommen“, sagte Spencer mit ernster Miene. „Sie hat niemanden und lebt alleine über dem Blumenladen. Ich fürchte, die gute Sophie hat sich in den vergangenen Jahren etwas vernachlässigt.“
Spencers Gedanken schienen in weite Ferne abzudriften, dann kehrte seine Fröhlichkeit zurück. „Ich bin sicher, dass wir uns bald wiedersehen. Vielleicht zum Abendessen? Ich würde liebend gerne einmal für euch kochen und herausfinden, wie eure Geschmacksknospen so gepolt sind.“
Lillian erinnerte sich plötzlich an die verblasste Aufschrift hinter dem Asiaten. „Spencer, hat dir einmal der Asiate gehört?“
„Ja, vor langer Zeit. Es war mein Restaurant und es war etwas Besonderes. Er war etwas Besonderes ...“, sinnierte er und dachte an bessere Zeiten, in denen er eine ganze Mannschaft von Kellnern vor sich her getrieben und in der Küche den Ton angegeben hatte.
„Was ist passiert?“
„Wisst ihr, je älter man wird, desto mehr muss man zurücklassen. Das Leben ist nicht immer fair und ...“, er geriet ins Stottern und Lillian meinte, eine Träne in seinem rechten Auge erkennen zu können.
„Ich glaube, ihr solltet jetzt besser gehen“, sagte Basil.
„Ja, natürlich“, sagte Lillian, „bitte entschuldige, Spencer. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Quatsch“, sagte der und winkte ab, „wir reden ein anderes Mal, ja? Beim Abendessen. Und ich koche, versprecht mir das!“
„Versprochen“, sagte Lillian.
„Sehr gut.“
„Und jetzt raus mit euch“, sagte Basil, „probiert den Asiaten doch mal aus, er ist gar nicht übel.“
Dafür fing er sich einen verächtlichen Blick von Spencer ein.
„Komm jetzt, wir gehen ins Bett“, sagte Basil und nahm Spencer an der Hand und lief mit ihm davon.
„Viel Spaß“, rief Frank, der es sich einfach nicht verkneifen konnte.
„Um zu schlafen, Muschischlotzer“, feuerte Basil knallhart zurück.
„Opa?“, fragte Frank und Basil blieb stehen.
„Was?“
„Kann ich bei euch kurz aufs Klo?“
„Was weiß ich, kannst du? Klugscheißer ...“, sagte er und verließ den Raum.
„Lilly, ich werde mal kurz nach dem Klo Ausschau halten. Geh ruhig schon mal raus zum Wagen.“
Lillian warf noch einen letzten Blick auf den Orientteppich und lief Richtung Ausgang. Am Eingang fiel ihr ein Wurm auf, der versuchte, ins Haus zu kriechen. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass es nicht nur der eine war, sondern eine ganze Straße aus Würmern, die zum Großteil verendet waren. Vorsichtig lief sie um das Ungeziefer herum und ging ins Freie. Ihr Blick war immer noch nach unten gerichtet. Alles war voller Würmer, die aus dem Erdreich gekrochen kamen. Sobald sie die Oberfläche erreicht hatten, kippte einer nach dem anderen um und begann in der heißen Mittagssonne zu rösten. Die Hitze verdampfte alle Flüssigkeit aus den schleimigen Kreaturen, bis nur noch ihr vertrockneter Kadaver übrig war. Lillian hielt sich die Nase zu, denn die Luft war erfüllt von verbranntem Fleisch. Es roch nach Tod. Endlich blickte Lillian wieder auf.
Sie erschrak.
Gegen die Schiebetür des Sprinters lehnte ein in schwarz gekleideter Unbekannter mit einer Sonnenbrille.
„Hey Lillian“, sagte er lässig und lehnte sich mit einem Bein gegen den Wagen. „Es ist noch zu früh für unseren Tanz, aber wenn du so weitermachst wie bisher, wird es nicht mehr lange dauern. Alle sind bisher höchst zufrieden mit dir. Halte dich nicht zurück, sag, was immer dir in den Kopf kommt, und tu, wonach immer dir ist. Verstanden?“
„Wer bist du?“, fragte Lillian und hielt sich rückwärtsgehend am Türrahmen fest.
„Ich? Ich bin niemand. Ich bin unwichtig. Ich bin lediglich hier, um zu überwachen und zu motivieren. Und wenn es so weit ist, werde ich dich beim Tanzen führen. Machs gut, kleiner Sünder“, sagte er und winkte ihr zu. Was von den Würmern noch übrig war, ging in Flammen auf. Die noch lebendigen Würmer begannen, sich unter Todesqualen zu winden. Sie fiepten, als würde man ihre kleinen Körper bis zum Rande mit Schmerz füllen. Dann zerplatzten sie wie Popcorn und ließen kaum mehr als einen kleinen Blutfleck zurück. Immer neue Würmer krochen aus der Erde und verendeten unter Qual. Kreischten auf, zerplatzten.
Lillian schrie auf und wich weiter zurück, bis sie auf Widerstand prallte.
„Hey, Lilly, ganz ruhig“, sagte Frank hinter ihr.
„Oh Frank“, sagte sie und nahm ihn verängstigt in den Arm.
„Was ist denn in dich gefahren? Sonst bin ich es doch, der getröstet werden muss.“
Er streichelte ihren Rücken und küsste ihre Stirn. Und wie Lillian so in seinen Armen lag, wusste sie, dass sie jetzt genau zwei Möglichkeiten hatte. Sie konnten den bisher angenehmen Tag mit dem, was gerade passiert war, beenden und alles erzählen. Oder sie könnte lügen. Sie blickte aus seinen Armen zu ihm auf.
„Ich habe einen Wurm gesehen und bin erschrocken“, sagte sie mit gespielter Gelassenheit. Aber Frank war misstrauisch, er kannte sie zu gut.
„Ein Wurm? Ein Wurm hat dich erschreckt?“
Er konnte in ihren Augen erkennen, dass sie nichts mehr wollte, als dass er ihr glaubte und es dabei beruhen ließ.
„Wo ist dieser Wurm jetzt?“, fragte er. „Niemand erschreckt ungestraft mein Mädchen und kriecht einfach so davon.“
Er riss sie beschützend an sich und blickte über ihren Kopf hinweg. Lillian lachte auf, es hatte funktioniert. Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.
„Jetzt will ich endlich was essen. Ich bin halb verhungert. Und danach gehen wir Ghostbusters anschauen. Einverstanden?“
„Bist du sicher, dass dieses Würmchen einfach so davonkommen soll?“, fragte Frank ernst.
„Lass gut sein, mein Held. Das wird’s wohl gewesen sein.“
„Na gut, aber wenn es wieder auftaucht, gibst du mir Bescheid. Und jetzt: futtern! Und dann: Kino. Los geht’s!“
Er rannte Richtung Sprinter davon und Lillian folgte ihm. Ihr Blick huschte immer wieder über den Boden, aber es war nichts mehr zu sehen. Die Würmer waren verschwunden und der Unbekannte in Schwarz schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Was war gerade eben geschehen? Alles erschien so real. Der widerliche Geruch der Würmer klebte ihr noch immer in der Nase. Nachdenklich fuhr sie sich mit ihrer Zunge durch den Mund und bemerkte, wie trocken er war. Hatte sie heute überhaupt etwas getrunken? Das musste es gewesen sein. Ihr Hirn war von der Anstrengung des Tages ausgetrocknet worden und wollte ihr klarmachen, dass es Flüssigkeit brauchte. Es war zu einem vertrockneten Schwamm zusammengerunzelt und kullerte in ihrem Kopf hin und her. Dabei hatte sich der Teil mit ihrer Vorstellungskraft angestoßen und verrückt gespielt. Sie hatte noch nie zuvor Wahnvorstellungen gehabt. Das muss es sein. Sie war dehydriert.
„Frank“, sagte sie, „ich glaub, ich bin durstig ...“
„Bestell dir so viel du nur möchtest, Lilly, es wird Zeit, dass wir ein klein wenig feiern.“
Sie öffnete die Tür des Sprinters, und als Lillian einstieg, fiel ein einziger kleiner Wurm auf den Kies und zerplatzte. Doch davon bekam Lillian nichts mehr mit.