Читать книгу Lillian - Straße der Sünde - Christopher Crane - Страница 9
Оглавление4
In der Kirche von Shuus waren inzwischen die letzten ortsansässigen Trauergäste eingetroffen. Pfarrer Glenn Clark befand sich im Gespräch mit einer älteren Dame und hörte ihr aufmerksam zu. Sophie, die den örtlichen Blumenladen betrieb, hatte für die Zeremonie Blumen gestiftet und kontrollierte den Kranz neben dem Sarg. Weiße Tulpen mit schwarzen Rosen in grünen Gestecken. Immer mal wieder musste sie kurz innehalten, um sich eine Träne aus den Augen zu wischen. Vorne neben dem Sarg stand ein großes Bild von Sarah, auf dem sie mit Rucksack an einem Gebirgshang in die Kamera lächelte. Das Bild strahlte genau die Art von Lebensfreude aus, für die Sarah bei ihren Freunden bekannt war. Und jetzt war sie mit einem Mal aus der Welt verschwunden, für immer.
Vor der Kirche blickte ein kleiner Mann in einem leicht verschwitzten Anzug nervös auf seine Armbanduhr. Dann ging er in die Kirche und steuerte geradewegs auf den Pfarrer zu. Leise wisperte er ihm etwas zu, klopfte ihm auf die Schulter und verließ die Kirche wieder, um noch ein wenig zu warten. Glenn legte der Frau, die auf ihn einredete, die Hand auf die Schulter und wies sie mit einer Bewegung an, sich in der Menge einen Sitzplatz zu suchen. Langsam wackelte sie schluchzend davon und setzte sich. Der Pfarrer schritt die Stufen zum Pult empor und nahm seine gewohnte Position ein.
„Liebe Gemeinde, Señor Handuselá hat mich informiert, dass unsere beiden Gäste noch nicht eingetroffen sind. Ich möchte Sie um einen Augenblick Ihrer Geduld bitten. Ich bin mir sicher, unsere Gäste werden bald hier sein. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“
Ein alter Mann mit einer dicken Brille, die in den 70er der letzte Schrei gewesen sein musste, rümpfte die Nase und sprach aus, was so einige dachten. „Das kann doch nicht wahr sein ... machen diese zwei Erbschleicher etwa eine Spazierfahrt?“
Lillian steuerte den Sprinter langsam durch Shuus, damit sie auch nichts verpassten. Als die Straße einen Schlenker nach rechts machte, kamen sie an einer kleinen Apotheke vorbei. Sie blickten links aus dem Fenster und sahen ein großes Feld, auf dem zwei Kühe, ein paar Hühner und ein Schwein hin und her liefen. Irgendjemand hatte all die Tiere auf ein und dieselbe Weide gestellt. Am Ende der Weide befand sich ein alter Bauernhof mit einem fast schon Herrenhaus ähnlichen Wohngebäude. Es gab keine Silos und auch keinen matschigen Vorhof oder einen Traktor. Die Einfahrt war fein säuberlich mit Kies ausgebettet und der Weg vor dem Haus geteert. Eine alte Limousine ruhte vor dem Gebäude. Lillian lenkte den Wagen links die Straßen entlang. Langsam nährten sie sich dem Ortsinneren. Auf einem Schild las Frank: „Sophie und Sarahs Blumenladen - Sträuße für jeden Anlass.“
„Mensch, es hat sich echt eine Menge getan, seitdem ich das letzte Mal hier war. Irgendwo hier muss auch noch die alte Tischlerei meines Opas sein. Er hat in Handarbeit alles hergestellt, was du dir nur vorstellen kannst: Tische, Stühle und sogar ganze Häuserfassaden oder Kinderspielzeug. Er war wirklich geschickt mit seinen Händen.“
Und wie er so erzählte, öffnete sich eine Tür zu Erinnerungen, die Frank schon lange nicht mehr angetastet hatte. „Er hat mir jedes Jahr ein Spielzeug geschenkt. Eins zu Weihnachten und eins an meinem Geburtstag. Da waren echt die tollsten Sachen dabei, nicht nur Autos oder Figuren. Einmal hat er mir einen ganzen Kran gebaut, der sogar funktioniert hat. Er war wirklich begabt. Ich würde zu gern wissen, was aus ihm geworden ist.“
„Lass uns mal hier rechts abbiegen, es sieht so aus, als ob wir sonst in ein Wohngebiet kommen.“
Lillian setzte den Blinker und bog rechts ab. Ihr war aufgefallen, dass ihnen bisher noch kein einziges Auto entgegengekommen war.
„Wahrscheinlich sind alle bereits auf der Beerdigung“, schlussfolgerte sie. Der Sprinter rollte die Straße entlang und passierte ein kleines Kino, dessen Werbeparole die nächsten Attraktionen ankündigte:
DEMNÄCHST
Ghostbusters
&
Ghostbusters II
„Das lob ich mir“, sagte Frank, „hier laufen noch die wirklich guten Filme.“
„Das Kino wird bestimmt von einem Filmliebhaber betrieben. Wer zahlt denn noch Geld, um Jahrzehnte alte Filme zu sehen?“
„Lilly ...“, setzte Frank an und stockte vor Begeisterung.
„Was denn?“
„Da hinten ist ein Asiate. Wir können lecker essen gehen und später Ghostbusters auf der großen Leinwand anschauen. An einem Abend.“ Frank starrte mit einer kindischen Begeisterung auf das Restaurant, das zwischen dem Kino und einer Bank aufragte. Hinter dem roten Schriftzug, der „Suchoong’s“ buchstabierte, war noch der Name des Vorbesitzers zu erkennen.
„Spencers finest“, las Lillian vor. „Scheint wohl nicht immer ein Asiate gewesen zu sein.“
„Bis das Schicksal eingegriffen hat und diesen Irrtum korrigierte. Was meinst du? Heute Abend Ghostbusters und gebratenen Reis?“
Lillian nickte. „Weißt du was, Frank, ich glaube, uns wird es hier gut gehen. Vielleicht hatte deine Oma einen Anteil an dem Blumenladen, und vielleicht hat sie ihn dir sogar vermacht.“
„Möglich“, sagte Frank, „es wäre eine tolle Sache, so einen Laden nach meinen Vorstellungen zu gestalten.“
„Jetzt müssen wir erst mal zur Beerdigung. Mensch, schau dir das an.“ Lillian hielt den Wagen an und kam vor einer Abbiegung zum Stehen. Vor ihnen stand eine Gärtnerei.
„Die ist ja riesig“, beobachtete Frank.
Sechs lange Gewächshäuser lagen direkt nebeneinander. Im Inneren waren bunte Blumen und Grünzeug zu erkennen. Eine automatische Sprinkleranlage goss gerade in einem der Gewächshäuser die Blumen, während an einem anderen das Sonnendach aufging.
Frank war beeindruckt. „Scheint voll automatisiert zu sein. So was ist ganz schön kostspielig. Würde mich nicht wundern, wenn hier für den Großmarkt angebaut wird. Jedes einzelne dieser Gewächshäuser muss über hundert Meter lang sein. Beeindruckend.“
Frank starrte wie gefesselt auf die vorbeiziehende Gärtnerei, während Lillian schon wieder etwas Neues entdeckt hatte.
„Siehst du das auch? Ist das eine goldene Statue?“, sagte sie und bog nach links Richtung Stadtzentrum ab. Ein großer Kreisverkehr führte um einen prunkvollen Brunnen herum. Das Stadtzentrum an sich war eher mau, es bestand aus dem Rathaus und einer goldenen Statue, die die Stadtverwaltung um mehrere Meter überragte. Lillian hielt vor der Statue an, zog den Schlüssel ab und stieg aus. Frank folgte ihr.
„Devin McShuus“, las sie von einer Plakette unterhalb der Statue ab. „Der Gründer unserer schönen Stadt. Schmuggler, Philosoph und zu hundert Prozent selbstlos.“
„Ich erinnere mich“, sagte Frank, „er soll mit dem Schmuggeln von Schnaps und Tabak so viel Geld verdient haben, dass er Shuus gegründet hat. Er ernannte sich zum ersten Bürgermeister und hat nie auch nur einen Tag in seinem Leben als solcher gearbeitet.“
Sie drehten sich um. Am Rathaus selber hing ein Schild mit der Aufschrift „Nie eröffnet und permanent geschlossen. Bei politischen Fragen treffen Sie bitte selber die richtige Entscheidung. Danke - Devin McShuus.“
Das gesamte Gebäude war aus Beton und machte den Eindruck, als hätte man es aus einem riesigen Förmchen gegossen.
„Wie verrückt“, sagte Lillian.
„Oh, warte erst mal, bis du die ersten Einwohner kennenlernst.“
„Jetzt sollten wir uns aber wirklich auf den Weg machen. Man wartet bestimmt schon auf uns.“
„Och, lass sie doch noch ein klein bisschen länger warten“, sagte Frank und nahm Lillian in den Arm.
„Willst du mit mir alleine sein oder deine Oma beerdigen? Du hast die Wahl“, sagte Lillian und lächelte ihn an.
Frank überlegte. „Kann ich nicht beides haben? Wir können die Leute ruhig noch ein wenig warten lassen. Wie viele können in der Kirche schon auf uns warten. Der Ort ist winzig.“
Lillian lockte ihn mit dem Zeigefinger hinter sich her, öffnete die Schiebetür des Sprinters und verschwand ins Innere. Schnell zog sie ihre eng sitzende Jeans nach unten.
„Kann ich dir helfen?“, fragte Frank und schon flogen ihm ihre Kleider entgegen. Lillian streckte ihren Kopf aus der Schiebetür hervor und bedeckte ihre Brüste mit ihren Händen.
„Wenn du Glück hast, darfst du mir helfen, sonst mach ich hier ohne dich weiter“, sagte sie und verschwand kichernd ins Innere.
Frank stieg in den Sprinter und wollte seine Hose ausziehen.
„Das kannst du dir sparen.“
„Kann ich das?“
„Kannst du.“
„Na gut“, sagte er und ließ seinen Hosenbund verschlossen.
Lillian hatte es sich so gut es ging gemütlich gemacht. Frank begann sie zu küssen. Sein Mund wanderte von ihren Lippen hinunter zu ihrem Hals und über ihre Brüste. Sanft biss er in ihren rechten Nippel und umfasste ihre Brust. Lillian schob Franks Kopf immer weiter nach unten.
Und während Frank seine Lillian oral befriedigte, warteten in der Kirche über hundert Menschen auf deren Ankunft.
Der spanische Anwalt wurde allmählich nervös. Er hatte noch weitere Termine und war es nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ. Also schritt er zurück in die Kirche und diesmal würde er nicht wieder herauskommen, um zu warten. Er hastete durch die Gänge zu Pfarrer Glenn und ließ ihn wissen, dass es Zeit war, zu beginnen.
„Na gut“, sagte Glenn, „so langsam werden mir die Schäfchen sowieso unruhig. Setzen Sie sich, Rudolpho, ich werde mit der Zeremonie beginnen.“
Der Anwalt nickte und nahm in der ersten Reihe Platz. Glenn hob beschwörend die Hände und lenkte die Aufmerksamkeit der Menge auf sich. Der alte Mann mit der aus der Mode gekommenen Brille meldete sich wieder zu Wort. „Na endlich. Bringen wir es hinter uns. Bevor ich hier auch noch sterbe. Los geht’s!“
Pfarrer Glenn setzte an und begann mit seiner Ansprache.
„Willkommen, meine Lieben, zu einem eher tragischen Anlass. Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um von Sarah Wasserstein-Wilkee Abschied zu nehmen. Ehefrau von Basil Wasserstein-Wilkee, geliebte Großmutter, Betreiberin unseres Blumenladens und gute Freundin von uns allen.“ Er blickte kurz auf und hielt Ausschau nach den zwei jungen Menschen, dessen Anwesenheit so dringend erwartet wurde. Sie wären in der vergreisten Menge deutlich aufgefallen, aber sein Blick wurde nicht fündig. „Auch wenn wir sie aufgrund ihrer vielen Weltreisen in den letzten Jahren nur selten gesehen haben, werden wir sie jetzt, da der Herr sie zu sich genommen hat, noch viel mehr vermissen. Ihr Lächeln wird uns fehlen ebenso wie ihre zahlreichen Postkarten, die sie an uns alle verschickte. Aber auch ihre kleinen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann werden uns fehlen.“
Hier und da kam es zu Gelächter in der Menge.
„So sorgten ihre kleinen Meinungsverschiedenheiten doch für viel Gesprächsstoff und die allzeit friedliche Versöhnung am Ende jedes Streits kam so regelmäßig wie die Sonne mit der Morgenstunde. Sarah Wilkee, geborene Wasserstein wuchs als junges jüdisches Mädchen im Schrecken des Dritten Reiches auf. Doch Sarah entkam und überlebte. Sie überlebte dank ihres Ehemanns Patrick Horn, damals ein junger Soldat, der sich seinem Vorgesetzten widersetzte und zusammen mit Sarah Wasserstein nach London floh. Patrick Horn, oder wie wir ihn heute kennen, Basil Wilkee, tat das einzig Richtige in einem Land, in dem so vieles falsch lief. Aus dem notdürftigen Zusammentreffen der beiden jungen Menschen wurde eine Freundschaft, und aus Freundschaft wuchsen Anerkennung, Respekt, Vertrauen und schließlich Liebe. Das junge Paar heiratete und lebte für 25 Jahre in London, bis sie schließlich das Land verließen und in Shuus ein neues Zuhause fanden. Basil und Sarah lebten zusammen in einem gemütlichen Haus neben dem Dorfpark, das viele von uns bereits als Gäste besuchen durften. Sie schufen sich ein Zuhause und wurden Teil des Dorflebens. Basil arbeitete bis zu seinem Ruhestand in der Tischlerei und Sarah versorgte uns alle bis ins hohe Alter im Blumenladen mit ...“
Lillian fuhr den Sprinter direkt vor der Kirche vor. Hastig knöpfte sie ihre Hose wieder zu und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Frank flackte entspannt in seinem Sitz, während sich Lillian im Spiegel betrachtete.
„Meinst du, wir sollten uns noch schnell umziehen? Ich hab bestimmt irgendwo schwarze Sachen, die Frage ist nur, in welcher Kiste die jetzt sind.“
Lillian krabbelte hinter ihren Sitz und stand vor den Umzugskisten.
„Lilly, weißt du, was dir fehlt?“
Lillian drehte sich zu Frank, der mit ihrem Slip am Finger hin und her wedelte.
„Und weißt du, warum du dein Höschen nicht mehr hast? Weil ich so verdammt gut bin“, sagte er und ließ den Slip weiter um seinen Finger kreisen.
Lillian schüttelte den Kopf und grinste. Dann riss sie ihm die Trophäe aus der Hand und zog ihre Jeans aus. „Das bist du. Und das darfst du auch gerne bald wieder unter Beweis stellen“, sagte sie und schlüpfte in ihren Slip. „Komm, wir müssen jetzt in die Kirche, sonst kommen gleich alle raus und ich steh hier in der Unterwäsche mitten im Wagen.“ Lillian zog ihre Hose hoch und hüpfte mit dem Hosenbund in den Händen in die Höhe, damit sie vollends in die enge Jeans hineinrutschte. Sie knöpfte die Hose zu und pustete sich die Haare aus dem Gesicht. Frank grinste.
„Los jetzt. Ab in die Kirche.“
Lillian und Frank stiegen aus dem Sprinter und liefen direkt auf die große Kirchentür zu. Frank öffnete Lillian die Tür und die beiden betraten die Kirche. Pfarrer Glenn, der seine Gemeinde nur allzu gut kannte, bemerkte den einfallenden Lichtstrahl sofort und hielt kurz inne. „Bitte, nehmt Platz. Wir haben euch bereits erwartet.“
Frank und Lillian setzten sich schnell in die letzte Reihe und hofften, in der Menge unterzugehen. Als jüngste Personen in der gesamten Kirche war das aber geradezu unmöglich. Auch hatte die dramatische Pause alle Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Der Pfarrer fuhr fort. „Während Basil seinen Ruhestand zu Hause auslebte, wurde Sarah von der Reiselust gepackt. Sie wollte die Welt sehen und er seinen Sessel, die Zeitung und drei warme Mahlzeiten.“
Erneutes Gelächter schwappte durch die Menge.
„Sarah machte sich auf, die Welt zu erkunden. Von Neuseeland über Australien bis hin nach Japan, China, Kanada und Amerika. Ja, ich denke, wir können uns alle sicher sein, dass Sarah vieles gesehen und entdeckt hat. Auf einer Kreuzfahrt kam es zu einem tragischen Zwischenfall, der Sarahs Leben forderte. Zu guter Letzt bist du doch noch heimgekehrt, geliebter Weltenbummler. Während dein Körper dort draußen ruht, wird deine Seele hier bei uns ihren Frieden finden. Und ich bin mir sicher, ganz egal, wo du jetzt bist, dort gibt es eine Menge zu entdecken.“ Glenn verließ sein Podium und ging hinunter zum Sarg. Dort verweilte er für einen Moment und drehte sich dann der Menge zu. „Wie es ihr Wille war, wird unser Freund Rudolpho jetzt Sarahs Testament verlesen.“
Ein Stöhnen war aus der Beerdigungsgesellschaft zu hören, und eine aus der Mode gekommene Brille wurde genervt zurechtgerückt. Der spanische Anwalt hastete zum Pult, zog einen Stapel Papiere aus seinem Jackett und schlug sie zweimal gegen das Pult, als wäre es von äußerster Wichtigkeit, dass sie genau übereinanderlagen, bevor er sie vor sich ausbreitete.
„Im Namen der gesamten Gemeinde möchte ich Sie ...“, er suchte hastig in seinen Unterlagen nach zwei Namen, „Frank und Lillian Wilkee bei uns in Shuus begrüßen. Im Angesicht
ihrer Verspätung möchte ich mich kurzfassen. Frau Sarah Wasserstein-Wilkee hinterlässt Ihnen und Ihnen alleine ihr Privatvermögen in sechsstelliger Höhe, ihr Haus sowie ihren Anteil am Blumenladen. Bitte sprechen Sie mich nachher kurz an und ich werde Ihnen alles Nötige übergeben.“
Er steckte die Papiere zurück in sein Jackett und sprach weiter: „Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, auch noch ein paar Worte über Sarah zu verlieren. Sarah war ...“
„Jetzt reicht es“, brummte der alte Mann mit der Brille. Er stand auf und schob alle beiseite, bis er den mittleren Gang erreicht hatte. Langsam, aber stetig und mit der Hilfe eines Gehstocks lief er auf den Anwalt zu. Ein Raunen ging durch die Menge.
„Ach du je“, sagte Frank.
„Was denn? Wer ist das?“
Der alte Mann hatte den Anwalt jetzt fast erreicht. Er blieb stehen, um ihn mit einem genervten Blick abzustrafen.
„Verpiss dich, Rudi, den Leuten tut schon der Arsch weh. Ich muss es wissen, denn meiner tut weh und er ist älter als jeder Arsch hier drin.“
„Aber ich ...“, wandte Rudolpho ein. Doch der alte Mann signalisierte ihm mit seinem Gehstock den sofortigen Abgang. Rudolpho gab auf und setzte sich zurück an seinen Platz. Der alte Mann lief an der vordersten Reihe vorbei, griff sich einen Stuhl und schleifte ihn unter lautem Knarren direkt in die Mitte der Kirche. Das Geräusch hallte für kurze Zeit unangenehm durch die große Halle. Er setzte sich auf den Stuhl und legte beide Hände auf den Gehstock.
„Was nicht heißen soll, dass ich nicht lieber sitze als stehe.“
„Frank ...“, bohrte Lillian erneut nach. Das Raunen der Menge hatte sich in Getuschel verwandelt, das immer lauter wurde.
„Ich denke, ich muss mich nicht vorstellen. Mein Name ist ...“
„FRANK ...“, sagte Lillian laut, aber er reagierte nicht.
„Basil Wilkee“, sagte der alte Mann und stampfte mit seinem Gehstock auf.
„Mein Opa. Der alte Gauner ist also tatsächlich noch am Leben. Irre!“
„Wir wissen alle, was für eine gute Seele Sarah war und jetzt ist sie tot. Also lassen wir es dabei bleiben und Gott einen guten Herrn sein, einverstanden?“ Basils Blick richtete sich auf Pfarrer Glenn, der dem Geschehen mit verschränkten Armen stumm beiwohnte.
„Einige von euch haben sich in letzter Zeit das Maul zerrissen. Es hieß, ich wäre einfach abgehauen. Hätte Sarah verlassen. Pah! Wer gemeinsam das durchgemacht hat, was wir durchgemacht haben, trennt sich nicht einfach. Sie wollte reisen und ich wollte bleiben, also habe ich sie gehen lassen. Sie hat sich ihren Traum erfüllt und das war auch gut so. Allen Anwesenden, die drohen, an ihrer Neugier zu ersticken, sei gesagt: Ich lebe seit geraumer Zeit zusammen mit Spencer Flal auf seinem alten Hof. Spencer hat die Lücke in meinem Leben gefüllt, die Sarah bei ihrem Reiseantritt hinterlassen hat. Denkt, was ihr wollt, es ist mir egal, denn wir sind glücklich. Spencer hat für euch mehrere Speisen im Gemeindesaal vorbereitet, geht, esst. Und macht, was ihr am besten könnt: Zerreißt euch das Maul und steht dumm in der Gegend herum. So, das war’s, jetzt will ich in Ruhe mit meinem Enkel reden. Frank, mein Junge, wo bist du?“
„Hier Opa!“, rief Frank und winkte seinem Großvater zu.
Basil erhob sich aus seinem Stuhl und ging laut schnaufend auf Frank zu. Diese Ansprache hatte ihn doch etwas mehr mitgenommen, als er erwartet hatte. Die Beerdigungsgesellschaft erhob sich und ging fast geschlossen Richtung Gemeindesaal.
„Frank, mein Junge, gut, dich endlich wiederzusehen“, sagte Basil und nahm seinen Enkel in den Arm.
„Es ist auch schön, dich wiederzusehen.“
„Ist es das, ja?“, fragte Basil und verpasste Frank eine Ohrfeige. „Das ist dafür, dass du mich nie besucht hast. Nicht mal ein einziger Anruf übers Jahr? Ist dir dein alter Opa denn nicht mehr wert?“ Er verpasste ihm die nächste Ohrfeige. „Und das ist dafür, dass du zu spät zur Beerdigung deiner Großmutter gekommen bist.“
Frank hielt sich die schmerzende Backe, während sich sein Opa Lillian zuwandte. Seine Stimmung änderte sich schlagartig und er begrüßte sie freundlich: „Und du musst Lillian sein, habe ich recht?“
„Genau“
„Es freut mich, dich kennenzulernen. Frank hat mir vor Jahren von eurer Hochzeit erzählt. Die Ehre hatte ich natürlich nicht“, sagte er in scharfem Ton zu seinem Enkel. „Ihr müsst mich entschuldigen. Es war ein anstrengender Tag und ich habe genug für heute. Mit 99 Jahren verbraucht sich die Kraft schneller, als es einem lieb ist. Lasst euch von Rudi den Schlüssel für das Haus geben, in gewisser Weise ist es mein handwerkliches Lebenswerk. Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, dass Sarah noch Geld hatte. Auch damit wünsche ich euch viel Vergnügen. Ich werde mich jetzt zurückziehen. Wenn ihr euch ein klein wenig eingelebt habt, kommt doch später zum Kaffee vorbei, wann immer es euch passt. Dann besprechen wir alles Weitere.
„Gerne, Opa, bitte entschuldige, Opa. Mit dem Studium und allem ... ich hab oft an dich gedacht. Ehrlich!“, log Frank.
Basil Wilkee überhörte den Kommentar, als ob eine Lüge sein Trommelfell überhaupt nicht erreichen könnte.
„Und tu mir einen Gefallen, Junge, putz dir vorher die Zähne, ja? Dein Atmen riecht nach Muschi.“
Lillian blickte halb grinsend und halb beschämt Richtung Boden. Basil holte tief Luft und atmete langsam aus. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Und jetzt ging er und ließ die beiden stehen.
„Er ist gut in Schuss für sein Alter“, sagte Lillian, „und wie es aussieht, ist er mit fast hundert Jahren noch kurz schwul geworden.“
„Jub. Das ist Opa“, sagte Frank und schaute seinem Großvater hinterher. „Keine Angst zu tun, wonach ihm der Sinn steht, und keine Hemmungen, seine ehrliche Meinung zu sagen.“
„Ein Haus“, sagte Lilly und begann zu strahlen, „ein Haus! Und Geld. Ein sechsstelliger Betrag!“
Sie fiel Frank in die Arme und küsste ihn.
„Jetzt geht es mächtig bergauf, willing Lilly.“
„Aber so was von, friendly Franky.“