Читать книгу Lillian - Straße der Sünde - Christopher Crane - Страница 11
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In den nächsten vier Wochen waren Frank und Lillian vollauf beschäftigt. Mit kleinen Schritten begannen sie, sich ihr Leben in Shuus einzurichten und sich mit allem Ungewohnten vertraut zu machen. Sie entfernten die weißen Laken von den Möbeln in ihrem Haus und sortierten aus. Auch wenn sich viele schöne Stücke darunter befanden, waren es doch die Gebrauchsgegenstände anderer Leute und ganz besonders Lillian wollte ihre eigenen Sachen. Sie schafften diverse Möbel in den Keller und ersetzten die Bilder von Basil und Sarah Wilkee durch ihre eigenen. In der nächsten größeren Stadt kauften sie eine neue Matratze für ihr Bett und verschiedene Pflanzen und Erde für ihren Garten. Frank lag viel daran, sich der Grünfläche alsbald anzunehmen. Der Rasen musste geschnitten und das Unkraut gejätet werden, und auch eine Chamäleon-Blume wollte er pflanzen, in der Hoffnung, für sie bald Verwendung zu haben. Frank hatte vor, eine Hecke zu setzen, um den Garten abzugrenzen. Denn mit dem neuen Haus kamen auch neue Nachbarn: Karla und Randy Putz. Ein aufgewecktes Pärchen Mitte fünfzig, das ununterbrochen schwatzte. Wenn sie sich nicht lauthals über alles von Brotlaib bis Zipfelmütze unterhielten, führten sie ihre drei Hunde durch Shuus und räumten hinter ihnen her. Nach und nach wurden im Haus der Telefonanschluss, das Wasser und das Internet wieder angestellt. Auch ihre Schulden waren dank des Erbes schnell abbezahlt.
Sophie hatte ihnen versichert, dass ihr Laden der umsatzstärkste in ganz Shuus sei. Kundschaft kam von überall her, um bei ihr einzukaufen. Ein derart großes Kundeneinzugsgebiet war Gold wert. Gemeinsam unterzeichneten sie den Kaufvertrag für den Blumenladen und Lillian begann mit den Zeichnungen für den Umbau. Der Laden war Anfang der Sechziger erbaut worden und Lillian hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn zu modernisieren. Die Schaufenster sollten größer und die Auslage prominenter präsentiert werden. Der Fußboden des Ladens war bedeckt von moosgrünen Fliesen, auf denen ockerfarbene Regale standen. Alles musste weichen. Weiß und modern sollte es werden mit einer schicken Touchscreen-Kasse und einem Onlinevertriebssystem, bei dem Kunden ihre eigenen Sträuße aus einem Baukasten zusammenstellen konnten. So was kostete natürlich Geld und so steckten Lillian und Frank den Rest ihrer Ersparnisse in den Umbau.
Der Besuch bei Suchoong’s, Shuus einzigem chinesischen Restaurant, wurde genauso zur Routine wie der anschließende Kinobesuch. Einmal in der Woche entspannte das junge Paar bei einem Date und ließ den Lärm und Stress des Umbaus hinter sich, um es sich schmecken zu lassen und im Kino zu schmusen, während Miles O’Keeffe auf der Leinwand durch die Wüste ritt. Hin und wieder, wenn sie allein waren, verschwand Franks Zunge für ein paar Minuten zwischen Lillians Beinen.
Eine Routine, die in ihrer Beziehung zu einer Art Tradition geworden war, auf die Lillian bestand und der Frank sehr gerne nachkam. Er liebte es, ihre Wärme an der Spitze seiner Zunge zu spüren und sie zu schmecken. Lillian revanchierte sich nur selten, was Frank nicht im Geringsten störte. Ganz im Gegenteil. Wenn sie sich am Höhepunkt aufbäumte und er sie mit seiner freien Hand sanft in den Kinosessel presste, war ihm das schon genug. Und bei einem kurzen Moment mit sich alleine hatte er genügend Bilder vor Augen, um auf seine Kosten zu kommen. Der eigentliche Film spielte manchmal gar keine Rolle, sie genossen das Abendessen und Lillian ließ sich von Frank verwöhnen.
Sophie schloss schnell mit Lillian Freundschaft. Alles, was ihr gefehlt hatte, war eine Freundin, mit der sie sich austauschen konnte, und schon lebte die Alte wieder auf. Während Lillian die Pläne für den neuen Blumenladen zeichnete, schaute sie gerne bei ihr vorbei, um ihr über die Schulter zu schauen. Bei den späteren Umbauarbeiten war Sophie auch mit dabei. Anfangs war sie nicht sonderlich begeistert zu sehen, wie die Arbeiter ihren geliebten Laden auseinanderrissen, bis nichts mehr übrig war als der Putz an den Wänden. Aber Lillian erklärte ihr, wie alles aussehen würde, und schon bald beruhigte sie sich wieder. Auch ließ sie sich von Lillian die Haare schneiden. Der graue Dutt mit den gelben Spitzen wich einem pfiffigen Kurzhaarschnitt mit schwarzen Strähnen. Und mit der neuen Frisur und Lillians Freundschaft kehrte auch Sophies Lebensfreude zurück.
Wenn sich einmal die Zeit bot und sich die kreative Muse zeigte, arbeitete Lillian eifrig an den Plänen ihres Traumhauses. Sie fügte ihrem Wohnzimmer den Orientteppich hinzu, den sie bei Spencer gesehen hatte, und vergrößerte das Schlafzimmer.
Frank hatte die übrigen Chamäleon-Blumensamen sicher in Einmachgläsern verstaut und im Keller eingelagert. Hin und wieder ging er hinunter und stand vor dem Regal. Alles, was er noch brauchte, war die nötige Anbaufläche und die finanziellen Mittel. Leider brauchte er weitaus mehr Geld, als seine Oma ihm vererbt hatte, und die Herstellung neuer Samen erforderte ein ganzes Labor, das er sich nicht leisten konnte. Aber so wie die Dinge gerade liefen, würde sich vielleicht auch das bald ändern.
Nach drei Wochen heißer Umbauphase und dank zuverlässiger Handwerker war alles fertig. Der Laden war komplett Weiß gefliest, hatte neue Frontscheiben, auf denen sich hinter blauem Plastikschutz der neue Name verbarg, und auch im Inneren stand alles bereit. Frank zog die letzten Schrauben fest, während Lillian Sekt in drei Gläser goss. Sophie war vorbeigekommen und soeben hatten sich die Möbelpacker verabschiedet, die eine neue Theke aus braunem Wahlnussholz angeliefert hatten.
„Mensch, das hast du aber super hinbekommen“, staunte Sophie, als sie den Laden betrat.
„Sophie!“, rief Lillian und kam auf sie zugestürzt. „Schön, dich zu sehen.“
Sie nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.
„Wir sind gerade fertig geworden.“
Frank kam unter der Theke hervor und klopfte sich den Staub aus der Hose. Sein übliches Outfit hatte der handwerklichen Arbeit weichen müssen. Die Fliege hatte er erst gar nicht angelegt und die Ärmel seines Hemdes waren nach oben gerempelt. Seine schwarzen Schuhe waren verziert von weißen Farbklecksen, denn er hatte darauf bestanden, den Laden samt Keller selber zu streichen, um ein wenig Geld zu sparen.
„Hallo Sophie“, sagte er und drückte sie freundschaftlich.
„Schön habt ihr ihn gemacht, meinen alten Laden. Ach, das ist er ja jetzt gar nicht mehr“, sagte sie und hielt sich die Hand vor den zitternden Mund. Sie sah sich um. Alles war so neu und anders. Wo vorher die Theke gestanden hatte, thronte jetzt eine Front aus Dekoartikeln und alles, was sie einst kannte und jeden Abend gehegt und gepflegt hatte, war verschwunden.
„Alles ist anders. Sarah ist weg, mein Laden ist weg“, sagte sie mit trauriger Stimme.
„Na na“, machte Frank, „du darfst so oft vorbeikommen, wie du möchtest. Dein Laden ist immer noch da, er hat sich nur ein klein wenig verändert.“
„Und wenn du jemanden zum Reden brauchst, rufst du mich an, ja Sophie?“, sagte Lillian und nahm sie bei der Hand.
„Hach, ich bin froh, dass ihr hier seid. Shuus braucht ein wenig junges Blut. Für alte Weiber wie mich ist einfach kein Platz mehr.“
„So was will ich aber nicht hören, hast du verstanden? Wir sind noch ganz neu hier. Wer weiß, vielleicht kauft ja gar niemand bei uns ein und du musst den Laden wieder übernehmen“, sagte Frank.
Lillian wusste, dass er lediglich versuchte, sie aufzumuntern. Es waren schon mehrfach Kunden vorbeigekommen, die sich erkundigt hatten, wann der Laden endlich wieder öffnen würde. Heute Morgen hatte sie ein Banner aufgehängt und beim „Shuus Weekly“ eine halbe Seite für eine Werbeanzeige gekauft. Schon übermorgen würden sie den Laden wieder eröffnen.
„Du wirst uns doch nicht im Stich lassen, oder Sophie?“, fragte Frank.
„Nonsens“, entgegnete Sophie. „Es ist lieb, dass du einer alten Frau das Gefühl geben willst, gebraucht zu werden, aber der Laden ist inzwischen fertig umgebaut, euer Technik-Krimskrams scheint auch zu funktionieren. Es wird Zeit wieder zu eröffnen. Und für mich wird es Zeit, in den aktiven Ruhestand zu wechseln. Frank, morgen früh werde ich dir die Bogdanow-Brüder vorstellen. Ihr solltet euch endlich kennenlernen. Sie werden dir gefallen, aber nimm dich in Acht, die Jungs wirken auf den ersten Blick etwas ... schroff. Hast du noch den Sprinter?“
„Ja, er steht oben am Haus.“
„Sehr gut. Wir treffen uns morgen um halb drei hier am Laden, bring den Sprinter mit. Der Platz wird uns zugutekommen. Ich werde dich begleiten. Ein einziges Mal. Dann seid ihr auf euch alleine gestellt. Kommst du auch mit, Lillian?“
„Um halb drei morgens?“, sagte Lillian und nahm einen Schluck Sekt. „Danke, aber nein danke. Da bleib ich in meinem kuschligen Bett.“
Sophie grinste und griff Frank fast schon zu fest am Arm.
„Dann sind wir auf uns alleine gestellt. Halb drei“, wiederholte sie und zeigte ihm mit dem Finger ins Gesicht.
„Halb drei“, bestätigte Frank.
Sophie rückte die Blümchen verzierte Handtasche an ihrem Ellenbogen zurecht. „Lillian, sei ein Schatz und reich mir ein Glas.“
Lillian, die inzwischen alle drei Gläser leer getrunken hatte, reichte ihr eins und schenkte Sekt nach.
„Danke“, sagte Sophie und setzte das Glas an ihre Lippen. Sie zog den Inhalt in drei großen Schlucken hinunter und warf Frank das leere Glas zu.
„Halb drei!“, wiederholte sie, als sie Richtung Ausgang lief, „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dann drehte sie sich um: „Oder jemand Schlimmeres.“
Frank hielt das Glas fest umklammert und Lillian stand neben ihm mit der Sektflasche in der Hand. Beide sagten kein Wort. Sophie öffnete die Tür des Ladens und lachte einmal laut auf, bevor sie in die Dunkelheit der Nacht verschwand.
Zu unbekannter Uhrzeit wurde Frank plötzlich geweckt. Etwas schlug ihm mitten ins Gesicht und jagte einen dumpfen Schmerz durch sein Gesicht. Etwas verweilte für einen Moment und glitt dann an seinem Hals hinab, bis es endlich liegen blieb. Jetzt klingelte auch noch sein Wecker. Es war zwei Uhr morgens und an der Zeit aufzustehen, um sich für den ersten Tag am Großmarkt zu wappnen. Vorsichtig nahm er Lillians Fuß von seiner Brust und legte ihn zur Seite. Er setzte sich langsam auf und sah, dass Lillian sich mal wieder im Schlaf um die eigene Achse gedreht hatte. Eine Angewohnheit, die sie schon seit jeher mit sich trug. Sie bewegte sich die ganze Nacht durchs Bett, völlig egal, wo und was sie dabei anrempelte. Sei es der Nachttisch oder sein Schritt. Nichts war sicher. Aber das war nun mal der Preis dafür, dass er sich das Bett mit einer nach Lavendel duftenden Schönheit wie Lillian teilen durfte. Den Lavendelduft schenkte er ihr jedes Jahr zum Geburtstag, die Schönheit kam ganz von alleine.
Widerwillig schob er die Decke beiseite und verließ das Bett. Auf Autopilot duschte und rasierte er sich. Müde und noch benommen vom Schlaf tapste er zum Kleiderschrank und griff wahllos hinein. Wie könnte es auch anders sein, traf er die richtige Auswahl: schwarze Schuhe, eine schwarze Hose mit einem Hemd und einem Pulli, den er überzog. Er wählte eine Fliege passend zum Hemd und legte sie um.
Lillian schnarchte friedlich in ihrem pink-lila gestreiften Pyjama vor sich hin, als sich Frank zu ihr hinabkniete.
„Schlaf gut“, sagte er und küsste ihren Arm, der zufällig unter der Decke hervorschaute. Sie bestätigte den Abschied, indem sie nach ihm schlug, dabei sein Kissen erwischte, sich herumdrehte und auf seiner Seite des Bettes weiterschlief.
„Ich hab dich auch lieb“, flüsterte Frank mit einem Grinsen. Dann verließ er das Schlafzimmer.
Der Sprinter war eiskalt, als Frank den Zündschlüssel umdrehte. Er befreite das Lenkrad aus der Wegfahrsperre und setzte rückwärts aus der Ausfahrt.
Sophie wartete schon auf ihn als er um 2:25 Uhr neben dem Blumenladen vorfuhr.
„Pünktlich“, bemerkte sie beim Einsteigen, „so muss es sein. Ein guter Geschäftsmann braucht drei Dinge: Belastbarkeit, Durchsetzungsvermögen und Pünktlichkeit. Dann wollen wir mal sehen, ob du die anderen zwei Voraussetzungen auch mitbringst. Fahr los, wir müssen bis fünf dort sein. Sonst ist die beste Ware bereits vergriffen.“
Frank wollte ihr für einen Moment einen Guten Morgen wünschen, überlegte es sich aber anders. Er trat aufs Gas und binnen Minuten hatten sie Shuus verlassen. Auf dem Weg gab Sophie immer wieder Anweisungen und wies Frank an, abzubiegen oder auf eine andere Spur zu wechseln. Sie kannte den Weg und wusste auch, wo man das beste Frühstück bekommen konnte.
„Dort drüben ist eine kleine Bäckerei, wir sind jetzt fast da. Lass uns kurz anhalten. Wir holen uns einen Kaffee und ein süßes Stückchen. Dann werfen wir uns ins Getümmel. Du wirst den Zucker und das Koffein brauchen. Vertrau mir. Warst du schon mal auf dem Großmarkt?“
„Ich hab zuvor schon in einem Blumenladen gearbeitet. Aber mein Chef hat viel Wert darauf gelegt, keine frische Ware zu kaufen. Alles, was wir im Angebot hatten, war reduziert. Vor sieben war ich noch nie auf dem Großmarkt.“
„Sieben?“, fuhr Sophie entsetzt auf. „Was hast du denn da um sieben angestellt? Den Restmüll aus den Containern gefischt? Das wird ja so ein Laden gewesen sein.“
„Es lief mehr ... schlecht als recht. Wir hatten nicht mal eine Auslage vor dem Geschäft“, sagte Frank und parkte den Wagen vor dem Bäcker.
„Und so wollen wir uns ja nicht anstellen“, predigte Sophie und stieg aus.
Sie bestellten sich je einen Kaffee und ein süßes Stückchen und aßen hastig, während sie im Sprinter durch das große Tor des Großmarkts rollten. Der Pförtner knöpfte Frank eine Gebühr ab und überreichte ihm ein Schildchen.
„Das legst du in deinen Wagen, dann wissen die Verkäufer, wo die Ware hin soll. Man kennt mich hier. Alles wird sofort ins Fahrzeug gepackt. Komm, folge mir.“
Sophie führte Frank durch das eifrige Durcheinander des Großmarkts. Überall wurden große silberne Wagen durch die Menge geschoben und Blumen verladen. Lkws fuhren in die große Halle, deren Fahrer ganze Bestände zu Schnäppchenpreisen aufkauften, die sie dann hastig verluden und davonschafften. Ein Händler stritt sich gerade lautstark mit einem Kunden, der sich beschwerte, dass seine Sonnenblumen mehr orange seien als gelb. Auf der gegenüberliegenden Seite schüttelten sich zwei freundlich die Hand, während Wagenladungen von Primeln verpackt wurden.
Gemütlich tappte Sophie mit Frank im Schlepptau über den nassen Fußboden und ließ das ganze Treiben an sich vorbeigleiten, als würde es gar nicht stattfinden.
Sophie war ein echter Profi. Da war sich Frank sicher. Sie schritt einher, als würde ihr der ganze Markt gehören. Hin und wieder grüßten Händler und sie erwiderte lediglich mit einem Lächeln oder Winken. Gelegentlich schickte sie Frank zu einem der Stände und ließ ihn eine Bestellung aufgeben. Sophie hatte ihn angewiesen, lediglich ihre angestammte Nummer vorzuzeigen, wenn ihm einer der Händler Probleme machte. Und es funktionierte. Sobald sie die Nummer sahen, änderten sie den Ton und suchten nach Sophie, die irgendwo hinter Frank auf Abstand die Situation abschätzte.
Sophie verstand ihr Handwerk. Und der Großmarkt respektierte einen Profi wie sie.
Sie zeigte ihm, wo es die besten Geranien gab und die schönsten Nelken. Erklärte ihm, von welchen Händlern er Abstand halten sollte und auf welche stets Verlass war.
„Tulpen immer aus Holland. Die Jungs im Norden wissen, was sie tun. Diese Sklavenarbeit aus Zentralasien darfst du nicht unterstützen. Wenn du Grün kaufst, nimm es in die Hand und breche ein Bündel davon durch. Knackt es, ist es noch frisch, lässt es sich allzu weit biegen, ist es alt und geht dir wahrscheinlich auf dem Weg in den Laden kaputt.“
Sie passierten einen großen Stand, der voller Rosen war. Der Duft überdeckte selbst in der Halle voller Blütenduft jeden anderen Geruch.
Ein kleiner Mann entlud einen Lkw, während ein großer Hüne an einem Pult etwas notierte. Ein dritter lauschte einer brünetten Frau und steckte ihr eine rote Rose ins Haar. Frank und Sophie blieben stehen.
„Und wenn es um Rosen geht, kann niemand den Bogdanow-Brüdern das Wasser reichen. Nicht mal der Herrgott persönlich. Guten Morgen, Jungs“, rief sie lautstark.
Der Mann am Pult schaute zuerst auf. Er erkannte Sophie sofort, legte seinen Stift weg und ging auf sie zu.
„Sophie! Wie geht es dir?“
Er nahm ihre Hand und küsste sie.
„Das ist Sergei“, sagte Sophie.
Der gut zwei Meter große Russe wendete seinen rustikalen Schädel Frank zu. Er hatte einen schwarzen Vollbart und trug einen blond gebleichten Kurzhaarschnitt, der über seine breiten Schultern emporragte.
„Hast du einen neuen Liebhaber, Sophie?“, witzelte er und steckte die Hände in seine Armyjacke.
„Sergei, sei vorsichtig. Sonst wachse ich zu dir empor und zieh dir die Ohren lang.“
Er lachte herzhaft.
„Das ist Frank, er hat meinen Laden übernommen. Ich möchte, dass du und deine Brüder ihm in Zukunft genauso freundschaftlich zur Seite stehen wie zuvor mir.“
Sergei nahm eine Hand aus der Tasche und strich sich durch seinen dicken Bart. „Sicher, sicher“, murmelte er, „bist du ... sicher, dass du aufgeben willst? Das Geschäft wird besser. Es wird immer wieder besser. Ist gerade schlechter, aber irgendwann auch wieder besser. Nein?“
„Oh mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Frank hier hat mächtig was abdrücken müssen, damit er meinen Anteil vom Laden bekommt. Er ist Sarahs Enkel musst du wissen.“
Oh, Sarah, so tragisch, dachte der große Russe für einen Moment in sich hinein, bis auch der zweite Teil des Satzes bei ihm ankam.
„Sarahs Enkel?“, sagte er freudig und umarmte Frank.
Der Arme bekam die volle Wucht von Sergeis Stärke zu spüren.
„Es freut mich, dich kennenzulernen“, hauchte er, während Sergeis Umarmung ihm die Luft aus der Lunge drückte.
„Sind deine Brüder heute nicht zugange?“, fragte Sophie.
„Doch, doch“, bestätigte Sergei und ließ von Frank ab, „Ivan, Turbin. Идите сюда!“
Der große Russe sprach plötzlich in seiner Muttersprache und Frank hoffte, dass er irgendwie erraten konnte, was er gesagt hatte.
Der kleinere Mann sprang vom Lastwagen und eine frustrierte Brünette stakste genervt davon, als ihr Flirt plötzlich sein Interesse verlor und sie stehen ließ.
„Brüder. Das ist Frank. Er hat Sophies Laden übernommen.“
„Sophies Laden übernommen? Wovon redest du?“, ratterte der Kleinste herunter. „Sophie steht direkt vor uns. Warum würde sie ihren Laden hergeben?“
„Weil Sophie alt geworden ist, Turbin, und weil sie Krebs hat.“
Die drei Russen waren sprachlos. Lediglich Frank traute sich, etwas zu sagen.
„Sophie, wie schlimm ist es?“, fragte er besorgt.
„Mein Arzt hat mir noch drei Monate gegeben. Das war vor einer Woche.
Ich kann euch sagen, dass ich nicht vorhabe, in nächster Zeit zu sterben. Ich werde mein kleines Vermögen verprassen und es mir gut gehen lassen. Und wenn ich mich zu schwach fühle ... Ich habe nicht vor, in einem Bett zu sterben“, sagte sie und verrenkte den Hals. „Also, Jungs, werdet ihr meinem Wunsch nachkommen und euch um Frank kümmern?“
„Selbstverständlich“, sagte Ivan.
„Sehr gut. Wir nehmen noch drei Dutzend rote und ein Dutzend weiße Rosen. Frank wird die Ware morgen abholen.“
Und damit ließ sie Frank und die drei Russen stehen und machte sich auf den Rückweg zu ihrer Mitfahrgelegenheit.
„Ich äh ...“, stammelte Frank als Sergei näher kam, um Sophie beim Davonlaufen zu beobachten.
„Wie macht sie sich?“, fragte Turbin. „Ist dir irgendetwas aufgefallen? Wird sie schnell müde oder hat sie Schmerzen?“
„Ich“, stammelte Frank, der immer noch unter Schock stand. „Ich wusste nicht mal, dass sie krank ist. Mir ist nichts aufgefallen, ich kenne sie erst seit knapp einem Monat.“
Als Sophie die große Halle sicher verlassen hatte, drehte sich Frank den drei Brüdern zu.
„Ich schätze, wir sehen uns morgen. Danke für alles. Ich würde gerne noch etwas mit euch besprechen, aber ich fürchte, der Moment ist unpassend.“
„Richtig ...“, sagte Sergei stumpf, während Turbin lose Rosenblüten vom Boden aufsammelte. Er schien nicht recht zu wissen, wie er mit der Nachricht umgehen sollte und darum beschäftigte er sich irgendwie. Ivan hatte sich eine Zigarette angesteckt und saß rauchend auf einer Plastikkiste. Er fuhr sich verloren durch die Haare.
„Sie ist eine gute Freundin. Sie hat uns schon oft geholfen und wir stehen auf ewig in ihrer Schuld. Wir werden dich gut behandeln ...“, ihm war der Name von Sophies Nachfolger temporär entfallen.
„Frank, mein Name ist Frank.“
„Ja. Frank.“
Sergei seufzte, doch die Neugier in ihm siegte.
„Worum geht es denn?“
„Sophie hat erwähnt, dass ihr jederzeit für eine Investitionsmöglichkeit zu haben seid, und ich habe einen todsicheren Deal für euch“, begann Frank sein Verkaufsgespräch. „Es geht um eine ganz ...“
„Ein andermal gerne, Frank“, würgte ihn Sergei ab. „Aber jetzt müssen wir unser Tagesgeschäft voll abwickeln.“
Hinter ihm meldete sich Ivan zu Wort: „К чёрту всё, давайте собирать вещи и валить. Я хочу выбраться отсюда. Бедная Софи ...“
„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagte Turbin und begleitete Frank. „Morgen kannst du die Rosen abholen. Dann reden wir weiter.“
„Natürlich“, sagte Frank und ließ sich davonführen.
Turbin stupste ihn sanft in die Menge und ging zurück zu seinen Brüdern. Als sich Frank seinen Weg bahnte, vibrierte sein Smartphone. Eine Nachricht von Lillian:
Spencer hat uns zum Essen eingeladen, ich würde gerne hingehen. 18:00 Uhr. Was meinst du? Wie ist es so auf dem Großmarkt? Finanzieren die Bogdanows deine Blumensamen?
Frank antwortete umgehend.
Gerne. Sag doch zu. Wir sind bald auf dem Heimweg. Bin noch nicht dazu gekommen, sie zu fragen. Warum, erzähl ich dir, wenn ich wieder daheim bin.
Ein blinkendes Symbol verkündete, dass Lillian gerade tippte. Sekunden später erschien ihre Nachricht auf seinem Display.
Lade die Bogdanows doch zum Essen ein. Spencer meint, wir können so viele mitbringen, wie wir wollen. Sei mutig! Liebe dich!
Und da stand Frank also. Entweder er würde die drei zu einem Abendessen einladen, bei dem er nicht der Gastgeber war, oder er würde bis morgen warten müssen, bis sich die nächste Gelegenheit bot. Nein, er würde jetzt nicht mehr warten. Spencer war aufgeschlossen und freundlich und wenn er seinen Gästen erlaubte, weitere Gäste zu laden, dann meinte er es auch so. Frank ging zurück zum Stand mit den Rosen.
Ivan verlud gerade zwei leere Wagen in den Lkw und Turbin kehrte inzwischen Rosenblätter zusammen, anstatt sie von Hand aufzulesen. Sergei saß wieder an seinem Pult und machte Einträge in eine große Kladde. Er trug eine kleine Lesebrille, die den gigantischen Russen schon fast zierlich wirken ließ. Frank näherte sich dem Pult und hob die Hand.
„Hi, ich bin’s noch mal.“
„Oh, Frank“, sagte Sergei und schaute ihn über seine Brillengläser hinweg an.
„Meine Frau, also Lillian, wir ...“, so recht wollten ihm die Worte nicht über die Lippen. Wie lud man jemand zu einem Essen in ein fremdes Haus ein? Ihm fiel einfach nichts Besseres ein und daher sagte er: „Wollt ihr heute Abend mit uns essen?“
Turbin hatte ihn gehört und rief, ohne mit dem Fegen aufzuhören: „Кто будет готовить?“
Sergei wiederholte die Frage seines Bruders: „Das kommt ganz drauf an, wer kocht?“
„Spencer. Um genau zu sein, findet das Essen bei ihm zu Hause statt. Würdet ihr gerne kommen? Wir ...“
Turbin hatte bei der Erwähnung von Spencers Namen seinen Besen fallen lassen und sprach in Russisch mit Sergei, während er wild gestikulierte.
„Спенсер? Я не пробовал его стряпню с тех пор, как он закрыл ресторан. Мы будем. Скажи ему, Сергей, что мы будем. Софи тоже придёт. Скажи ему, что мы придём.“
„Успокойся, Турбин“, wies Ivan seinen Bruder an und versuchte, ihn mit einer Geste zu beruhigen.
Frank wunderte sich über die Begeisterung Turbins. Entweder er freute sich oder er regte sich auf. Er war sich nicht ganz sicher.
„Wir werden kommen“, sagte Sergei.
„Ich freue mich. Dann sehen wir uns um 18 Uhr bei Spencer. “
„Bis heute Abend, Frank. Bitte entschuldige, ich muss die Bücher fertig machen“, er neigte den Kopf zur Seite und sprach zu seinem Bruder, der noch immer auf Russisch vor sich hin krakelte.
„Турбин, пол сам себя не подметёт“, sagte er zu Turbin und richtete seine nächsten Worte an Frank. „Danke für die Einladung.“ Er lächelte noch mal freundlich und wandte sich wieder den Büchern zu.
Frank hastete davon. Er war mit sich selbst zufrieden und hatte vor lauter Freude Sophie schon komplett vergessen. Heute Abend würde er den dreien beim Dinner seine Erfindung vorstellen. Das Probeexemplar, das er im Garten herangezogen hatte, kam jetzt gerade recht. Er hoffte nur, dass das ausreichen würde, um sie zum nötigen Geldsegen zu bewegen. Und schon kamen ihm die ersten Zweifel. Es war teuer, die Stecklinge zu ziehen und heranwachsen zu lassen. Die Blumen benötigten einen speziellen Dünger und was, wenn ihnen das Risiko zu groß war? Er brauchte noch irgendein Ass im Ärmel. Einen Trumpf, den er ausspielen konnte. Vielleicht kann mir da ja Sophie weiterhelfen, sie scheint die drei sehr gut zu kennen. Der richtige Tipp ist jetzt Gold wert.
Er stieg in den Sprinter, wo Sophie bereits auf ihn wartete. Er schenkte ihr keine Beachtung, aber Sophie musterte ihn dafür umso strenger.
„Und?“, fragte sie. „Haben sie zugesagt?“
„Wozu? Was? Woher weißt du ...“
„Sei kein Narr, Frank. Ich kenne deinen Opa die bessere Hälfte meines Lebens und ich habe es schon bei unserem ersten Treffen gemerkt, ihr Wilkee-Männer seid alle gleich. Wenn ihr euch etwas in den Kopf gesetzt habt, zieht ihr es auch durch. Ganz egal, wer euch im Weg steht oder welche Hindernisse ihr dafür überwinden müsst. Und außerdem hat mich Spencer auch eingeladen. Also, haben sie zugesagt?“
„Ja, das haben sie“, sagte Frank leise. „Sophie, gibt es irgendwas, das die drei haben wollen? Etwas, das ich ihnen besorgen könnte? Meine Idee ist marktreif, aber allein davon will ich es nicht abhängig machen.“
„Seit nun mehr als drei Jahren will Ivan Bogdanow einen Hund. Er will es sich nicht eingestehen und redet nur hin und wieder davon, wenn er einen sieht. Aber insgeheim wünscht er sich einen.“ Sophie klopfte auf ihre Handtasche. „Jawohl, ich bin mir sicher. Die drei sind ziemlich stolz, gerade untereinander. Sie sind ganz alleine, keine Eltern. Keine Verwandten. Nur ihre drei Dickschädel.“
Frank hatte sein Ass im Ärmel gefunden. Auf dem Heimweg besorgte er spontan einen sechs Monate alten Beagle-Welpen aus dem nächstbesten Hundeheim. Das Tier hatte Papiere, war stubenrein und hatte genau die richtigen Schlappohren, damit sich Ivan sofort in ihn verliebte. Und wenn Ivan den Hund nicht haben wollte, würde er ihn Sophie schenken, dann könnte der Beagle ihr in ihren letzten Tagen Gesellschaft leisten.
Der Beagle, Sophie und Frank machten sich gemeinsam auf den Rückweg nach Shuus.
Frank glaubte, jetzt alle Karten in der Hand zu halten, er musste sie nur noch richtig ausspielen. Und morgen würden sie den Blumenladen eröffnen, ganz egal, wie das Abendessen verlief. Von hier ab kann es nur noch schlechter werden, dachte Frank.
Und damit hatte er recht.