Читать книгу Lillian - Straße der Sünde - Christopher Crane - Страница 8
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Der rostbraune Sprinter glitt um die Kurven wie ein Boot auf hoher See, das ins Unbekannte hinaussteuerte. Gerade hatten sie die Straße verlassen, in der sie die letzten fünf Jahre zusammengelebt hatten. Jetzt bogen sie auf die Hauptstraße und folgten ihr bis zum Ortsausgang. Ihre ehemalige Universität lag direkt neben der Auffahrt zur Schnellstraße, die sie nach Shuus bringen würde.
Frank hatte anfangs Schwierigkeiten gehabt, das lange Gefährt richtig in die Kurven zu steuern. Er befürchtete, das lange Heck würde ihm ausbrechen und beim Auslenken gegen den Bordstein stoßen. Daher fuhr er langsam und vorsichtig, und erst als sie in die Auffahrt Richtung Schnellstraße abbogen, gab er richtig Gas. Vorbei an der Universität und hinaus aus der Großstadt. Über 700 Kilometer trennten sie jetzt von Shuus.
Die Fahrt würde angenehm werden,
ging es ihm durch den Kopf und damit begannen seinen Gedanken abzudriften. Es war eine Ewigkeit her, seitdem er das letzte Mal Shuus besucht hatte. Soviel Frank wusste, gab es auch in Shuus einen Blumenladen. Sollte sich das Erbe auf ein paar wertlose Stricknadeln und eine Ansammlung von verstörten Katzen belaufen, könnte er immer noch im örtlichen Blumengeschäft anheuern und Lilly könnte weiterhin ihre Holzhütten entwerfen. Das lief alles online ab. Er ließ die Vorstellung für einen Moment so stehen und wurde dann von einem Schütteln überzogen. Nein, so durfte er die Sache erst gar nicht angehen.
Das Radio sorgte für Unterhaltung und die Stunden zogen an den beiden vorbei. An einem Rastplatz warf Frank einen Blick auf das Navigationssystem. Fast die Hälfte der Strecke lag hinter ihnen. Er und Lillian wechselten die Plätze. Den Rest des Weges würde sie fahren, und Frank war froh, sich ein klein wenig ausruhen zu können.
Zu allererst verstellte Lillian den Sitz. Frank war wesentlich größer als sie und daher rutschte sie ein wenig nach vorne. Auch der Spiegel entsprach nicht ihren Vorstellungen und erst, nachdem sie den Sitz hochgepumpt hatte, wendete sie sich Frank zu.
„Jetzt brauch ich noch genau zwei Dinge“, erklärte sie, „einen Kuss und gute Musik. Kannst du mir da helfen?“
Frank lehnte sich rüber und küsste sie. Währenddessen schaltete seine freie Hand das Radio auf einen Oldiesender. Aus den Lautsprechern sang eine sanfte Männerstimme im flotten Takt über das Böse im Guten. Lillian startete den Wagen und lenkte ihn zurück auf die linke Fahrbahn. Es konnte weitergehen.
Der Rest des Weges verlief wie ein Wunder ohne Stau oder andere Verkehrsstörungen. Die Straße führte geradeaus und Lillian folgte ihr in aller Gemütlichkeit. Kleine Ortschaften und Wälder zogen an ihnen vorbei und Frank entspannte sich. Er hatte den Kopf nach hinten gelegt und seine Schuhe ausgezogen. Lediglich seine Zehen zuckten zum Rhythmus des aktuellen Songs.
Lillian drehte das Radio leiser.
„Frank, sag mal, wie ist es so in Shuus?“, fragte sie neugierig.
„Es ist ein schöner kleiner Ort, der sehr abgelegen ist. Shuus liegt im Tal und viel Aufregung herrscht dort nicht gerade. Es gibt genau einen Supermarkt und eine Einfahrt in den Ort.“
„Glaubst du, dein Opa taucht noch auf?“
„Er wird bestimmt bei der Beerdigung anwesend sein, wenn er noch am Leben ist. Wer ist schon nicht bei der Beerdigung der eigenen Ehefrau anwesend? Wenn ich tot wäre, würdest du doch sicher auch zur Beerdigung gehen, oder?“
„Ja, aber du stirbst noch lange nicht, klar?“
„Ich hab es nicht vor.“
Der Sprinter schoss an einem Straßenschild vorbei, das Shuus ankündigte.
„Shuus ist nur noch 3 km entfernt“, sagte Frank. „Warum machen wir uns nicht ein aktuelles Bild? Vor Ort meine ich.“
Lillian nickte zustimmend. „Und anschließend fahren wir direkt zur Beerdigung.“
Lillian warf einen raschen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett.
„Ob die Beerdigung wohl schon begonnen hat? Aber was sind schon ein paar Minuten. Wir setzen uns einfach in die hinterste Reihe und hören zu.“
Sie steuerte den Sprinter auf die Ausfahrt zu und bog, wie es schien, auf einen Feldweg ein. Der Verkehr war nicht wie gewohnt durch einen Mittelstreifen getrennt und zur Rechten hatte man die Straße behelfsmäßig mit Kies auf zwei Spuren erweitert. Zu allem Überfluss war die Straße von Bäumen umzingelt, die Lillian vor jeder Kurve die Sicht raubten. Momentan gab es keinen Gegenverkehr und Lillian hoffte, dass das auch so bleiben würde. Die kleine Straße schlängelte sich einen Kilometer dahin und endete vor einem Tunnel. Am Eingang befand sich eine Ampel, die ausgeschaltet war und nichts anzeigte.
„Wofür ist denn die Ampel gedacht?“, fragte Lillian und fuhr in den Tunnel.
„Wahrscheinlich als Signal, damit zwei Fahrzeuge nicht den Tunnel verstopfen. Aber da du jetzt eh schon daran vorbeigefahren bist, mein kleiner Rennfahrer, ist es wohl sowieso egal.“
„Ganz richtig!“, stimmte ihm Lillian zu.
Lillian ging etwas vom Gas und schaltete die Scheinwerfer ein. Der Tunnel war genauso minimalistisch angelegt wie zuvor die Straße. Die Innenwände waren nicht aus Beton, sondern aus Holz. Lange gebogene Balken stützten die Decke. Eine Beleuchtung gab es nicht. Der Sprinter passte gerade so durch den Tunnel, wenige Zentimeter mehr und er wäre stecken geblieben.
Lillian verzog die Augen zu Schlitzen, um sich auf den Lichtkegel der Scheinwerfer zu konzentrieren. Anstatt einer elektrischen Lampe, die alle fünf Meter Licht spendete, wartete die Straße lieber mit zahlreichen Kurven auf. Ganz zum Leid von Lillian, die die Geschwindigkeit inzwischen auf 30 Stundenkilometer gedrosselt hatte. Es ging zweihundert Meter geradeaus, dann abwärts und schließlich mehrere Meter steil um eine Rechtskurve. Dann eine Linkskurve. Plötzlich ging es dermaßen steil bergauf, dass der Motor Mühe hatte, mit der Steigung fertigzuwerden. Lillian schaltete einen Gang herunter und gab wieder Gas. Der Motor freute sich über neue Zugkraft und schoss mit einem Aufbrummen die Anhöhe hinauf. Jetzt war es Frank, der die Augen zusammenkniff und sich nach vorne lehnte.
„Lilly ...“, sagte er.
Er könnte schwören, ein Motorenbrummen zu hören. Leise und dumpf, aber da war irgendetwas.
Der Wagen hatte die Anhöhe jetzt fast erklommen. Der Lichtkegel schoss bereits darüber hinaus und neigte sich abwärts.
„VORSICHT“, schrie er.
In ihrem Lichtkegel tauchte ein kleiner Lkw auf, der, ohne die Absicht anzuhalten, auf sie zukam. Lillian trat das Bremspedal durch und kam zum Stehen. Der Lkw donnerte weiter auf sie zu.
„Was macht der denn?“, fragte Lillian hastig und hämmerte auf die Hupe.
„Hey, du Verrückter“, rief sie und hupte ein letztes Mal.
Der Lkw kam wenige Meter vor dem Sprinter zum Stehen.
„Und jetzt?“
Die Straße war zu eng, damit die beiden großen Fahrzeuge aneinander vorbeimanövrieren könnten.
Der Fahrer des Lkws stieg aus und kam auf den Sprinter zugelaufen.
„Lilly, was hat der vor?“, fragte Frank ängstlich und zupfte nervös an seiner Fliege.
„Wir werden es wohl gleich erfahren.“
Selbstsicher ließ Lillian das Fenster herunter und hängte lässig den Ellenbogen raus. Der Lkw-Fahrer, ein älterer Mann Ende sechzig mit runzligem Gesicht und einer Zigarette im Mundwinkel, blieb vor dem offenen Fenster stehen.
„Das ist wohl gerade noch mal gut gegangen, was?“, fragte Lillian.
„Ja“, sagte der Mann, „ihr solltet umkehren.“
„Warum sollen wir umkehren?“, fragte Lillian misstrauisch.
„Ihr habt keine Chance. Ihr braucht es erst gar nicht zu versuchen. Aber niemand hört auf mich, niemand will mir glauben. Am Ende geht es euch doch allen gleich. Ihr wünscht euch, dass ihr nie hierhergekommen wärt.“
Lillian neigte sich zu Frank hinüber und flüsterte:
„Mit dem ist es nicht weit her.“
„Denkst du, ich kann dich nicht hören, nur weil du flüsterst?“, sagte der Mann mit lauter Stimme.
„Ehrlich gesagt hatte ich das gehofft. Aber da Sie alles mitbekommen haben, tut es mir sogar aufrichtig leid.“
Sie neigte sich wieder zu Frank.
„Tut es nicht. Was machen wir, damit der kurz zurücksetzt? Wir sind so gut wie da. Ich werde bestimmt nicht die ganzen Kurven rückwärts zurück aus dem Tunnel fahren.“
„Ich lebe seit 45 Jahren in Shuus und habe noch nie zurücksetzen müssen. Habt ihr die Ampel am Tunneleingang nicht gesehen? Es gibt eine Ampel, damit zwei Fahrzeuge nicht den Tunnel verstopfen.“
„Ach ja, die Ampel“, flüsterte Frank, „erinnerst du dich? Am Eingang des Tunnels. Damit zwei Fahrzeuge nicht den Tunnel verstopfen.“
„Genau. Die Ampel“, stimmte ihm der alte Mann zu.
„Okay. Einverstanden. Meine Schuld“, sagte Lillian und gestikulierte wild mit den Händen. „Ich hätte an der Ampel kurz anhalten sollen. Es tut mir leid.“
„Dein Leid nützt mir nichts. Ich habe es eilig. Ich muss dringend zur Ampel vor dem Tunnel, die Batterien sind leer und müssen getauscht werden. Wenn jetzt zwei Fahrzeuge kommen, verstopfen sie den Tunnel.“
„Aber ... das bedeutet doch, dass wir so oder so aufeinander festsitzen würden?“, sagte Lillian fassungslos.
„Nicht, wenn sie die Ampel abgewartet hätten, junge Dame“, erklärte der Mann.
Frank hatte beschlossen, Lillian ein wenig zu necken.
„Mensch, Lilly, hätten wir doch bloß die Ampel abgewartet. Dann wäre jetzt alles gut.“
„Ja, alles wäre gut, wenn Sie die Ampel abgewartet hätten, junge Dame.“
Frank warf ihr ein Augenbrauenzucken zu und musste es sich verkneifen, laut loszulachen.
„Also gut, Jungs“, sagte Lillian, „wie kommen wir hier wieder raus. Wie ist dein Name?“, fragte sie den Mann.
„Phil, junge Dame. Und ich muss die Ampel reparieren. Wenn die Ampel nicht funktioniert, ist es vielleicht möglich, dass zwei Fahrzeuge den Tunnel verstopfen. Und wenn eines der beiden Fahrzeuge den zwei Gästen gehört, kommen sie zu spät zur Beerdigung ihres Angehörigen. Sofern sie sich in einem der beiden Fahrzeuge befinden, die den Tunnel verstopfen könnten.“
„Aha!“, rief Lillian, die ein Schlupfloch in seiner Logik erkannt hatte.
„Phil, es ist dein Glückstag“, sagte sie, „wir sind die zwei Gäste.“
„Wunderbar!“, sagte Phil und lächelte, dass ihm die Kippe bis ans rechte Ohrläppchen rutschte. Langsam drehten sich die rostigen Zahnräder in seinem Schädel und er sagte: „Oh nein. Dann sitzen Sie ja jetzt hier wegen mir fest.“ Sein Lächeln verschwand und seine Zigarette rutschte samt Mundwinkel zu einem bedauernden Gesichtsausdruck herab. „Die Beerdigungszeremonie beginnt bald. Warten Sie. Ich setze zurück. Am Ende der Anhöhe ist eine Bucht genau für solche Fälle.“
„Phil, das wäre doch wunderbar. Mehr kann ich mir gar nicht wünschen“, sagte Lillian und kaute auf einem imaginären Kaugummi.
Phil nickte zustimmend und schlappte zurück zu seinem Lkw. Er startete den Motor und rollte rückwärts die Anhöhe hinunter, wo er in der Parkbucht verschwand.
„Danke, Phil“, sagte Lillian und hupte noch zwei Mal, während sie an ihm vorbeifuhr.
„Die Zeremonie soll bald beginnen. Wir müssen uns beeilen!“, erklärte Frank hastig.
„Immer mit der Ruhe“, meinte Lillian, „jetzt schauen wir uns erst mal Shuus an. Da ist es ja auch schon.“
Der Sprinter schoss aus dem Tunnel. Ein Schild kurz hinter dem Ausgang begrüßte Lillian und Frank mit freundlichen Worten:
WILLKOMMEN IN SHUUS
HEIMAT DER GEMÜTLICHKEIT
„Danke schön“, sagte Lillian und trat aufs Gas. „Jetzt bin ich aber mal gespannt, was du uns zu bieten hast, Heimat der Gemütlichkeit.“