Читать книгу Lillian - Straße der Sünde - Christopher Crane - Страница 7

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„Ach wissen Sie was, den nehme ich so. Lassen Sie die blauen Rosen ruhig mit drin“, sagte die dürre Frau und schritt zur Kasse. Sie zückte ihren Geldbeutel, griff im vorderen Fach nach der Kreditkarte und klatschte sie auf die Theke. Frank nahm den Strauß aus dem Wasser und verpackte ihn in transparentes Papier. Müde tippte er den Rechnungsbetrag in die Kasse ein.

„21.00“, sagte er aus Gewohnheit, während er bereits nach der Karte griff. Er zog sie durch das Lesegerät und wartete auf den Beleg.

FIEP. Zahlung erfolgt.

Er zog die Karte aus dem Schubfach und reichte sie der Kundin. „Danke. Einen schönen Tag noch.“

Ohne einen Kommentar unterschrieb sie, er händigte den Beleg aus, sie schnappte sich den Strauß und flüchtete Richtung Ausgang.

Träge kam Frank hinter der Theke hervor und ließ seinen Blick durch den Laden kreisen. Er konnte keine Kundschaft mehr sehen und die Dunkelheit vor dem Laden sagte ihm, dass es endlich Zeit war, aufzuräumen und abzusperren. Wie immer, wenn ihm bewusst wurde, dass für heute Schluss war, begann der Schmerz, in seinen Beinen einzusetzen. Obwohl er das frühe Aufstehen, das Einkaufen auf dem Großmarkt und die lange Arbeitstage inzwischen gewöhnt sein sollte, kroch ihm doch bei jedem Feierabend ein dumpfer Schmerz die Waden empor. Vielleicht war es ein Zeichen, dass er sich endlich aufraffen und etwas verändern sollte. Der Weg seines Körpers, ihm mitzuteilen: Hey, wir hatten eigentlich nicht vor, unser restliches Dasein als Aushilfeflorist zu verbringen, oder?

Und er hatte recht.

Nach dem Biologiestudium wollte Frank eigentlich in die Forschung, um seinen eigenen Ideen nachzujagen. Doch daraus wurde nichts. Denn wie sich herausstellte, kostete Forschung eine Menge Geld. Und niemand investierte Unsummen in einen jungen Studenten mit ein paar verrückten Ideen. Ganz egal, ob sie das Potenzial hatten, irgendwann die Welt zu verändern. Und erst recht nicht, wenn sich der besagte Student schon bei diversen Vorstellungspräsentationen bis aufs Kleinste blamiert hatte. Aber für heute hatte er sein Soll erfüllt. Jetzt hieß es zusammenfegen, abschließen und dann ab nach Hause zu seiner Frau.

Angesichts des Feierabendschmerzes erledigte er die Aufräumarbeiten eher oberflächlich. Aber das störte ihn wenig, es war nun mal ein Blumenladen und es machte nichts, wenn hier und da mal ein Blättchen oder eine Blume auf dem Boden lag. Nur nass durfte es nicht sein, darauf hatte man ihn immer wieder hingewiesen. Melly, die Besitzerin des Ladens, war bereits einmal verklagt worden, weil ältere Kundschaft in ihrem Laden ausgerutscht war. Seit Frank im Laden arbeitete, war niemand mehr ausgerutscht, denn es war sein Vorgänger gewesen, der diversen Senioren neue Hüften und ihm seine Anstellung verschafft hatte.

Er beseitigte alle Wasserpfützen mit einem Mob und kehrte das Grünzeug zusammen, das sich dort angesammelt hatte, wo den ganzen Tag über Blumensträuße gebunden wurden.

Das soll es für heute gewesen sein.

Frank schlappte zum Hinterzimmer, schnappte seine Tasche und den Ladenschlüssel vom Tisch und lief Richtung Ausgang. DING DONG machte die Ladenglocke, als er ins Freie schritt.

Auch wenn er eigentlich gerne in dem kleinen Blumenladen arbeitete, so langsam ging es ihm auf die Nerven. Die ewige Routine, das Ein und Aus der Stammkundschaft und das mickrige Gehalt am Monatsende. Und all das für lange Tage mit schmerzenden Waden.

Er blieb einen Moment vor dem Gebäude stehen, stemmte die Arme in die Seite und stellte sich vor, wie das alte Fachwerkhaus wohl aussähe, wenn es in Flammen stünde. Wenn heute alles niederbrannte, könnte er morgen frei machen.

Hinter ihm brauste ein dicker Mann auf einem Mofa vorbei. Der Motor vollbrachte unter Volllast Höchstleistungen und spuckte die Abgase unter Maximallautstärke auf die Straße. Der Gestank riss Frank aus seinen pyromanischen Fantasien. Er machte sich auf den Heimweg. Die Altbauwohnung lag kaum mehr als fünf Fußminuten vom Laden entfernt. Hier hatte er schon zu Studentenzeiten gewohnt. Nach seiner Hochzeit hatte Frank sich eigentlich umziehen sehen, aber es scheiterte am Einfachsten: Geld. Er schlenderte die Straße hinab und bog an der Kreuzung nach links ab. Das Mofa mit dem dicken Mann zuckelte so langsam vor Frank die Straße hinunter, dass er das Gefährt mühelos hätte überholen können. Er schaute dem dicken Mann hinterher und überlegte, ob ihn zu Hause bereits die neue Ausgabe von Blumenliebe erwartete. Diesen Monat würde das Magazin einen seiner Artikel veröffentlichen. Immer mal wieder schaffte er es, einen Artikel zu verkaufen und damit die angeschlagenen Finanzen aufzustocken. Der neuste Artikel war erst vor einer Woche fertig geworden. Es ging um genetisch veränderte Blumensamen, die den gesamten Blumenmarkt verändern könnten. Der Verlag erhoffte sich Verkaufszahlen und Frank erhoffte sich neugierige Kollegen oder vielleicht einen investitionsbereiten Geschäftsmann. Die entsprechenden Samen hatte er bereits entwickelt, doch der dazugehörige Dünger benötigte teure Zutaten. Allein das Patent für den Dünger hatte ihn sein kleines Auto gekostet. Doch er war überzeugt, dass sich die Desinvestition noch bezahlt machen würde.

Die Straße machte im Dunkeln einen Knick und zweigte nach rechts ab. Frank lief weiter geradeaus, vorbei an Steaming Sallys Kaffeekneipe, die wie immer einen betörenden Bohnenduft verströmte. Während seiner Studentenzeit hatten er und seine große Liebe ganze Nächte in Sallys Café verbracht. Zum Lernen, Schwatzen oder einfach nur, um ungestört etwas zu fummeln. Oftmals alles zusammen und in genau dieser Reihenfolge. Später hatte Sally den Kaffee für ihre Hochzeit geliefert.

Das Einzige, was Sallys Café von Franks Zuhause trennte, war ein kleiner Park. Die verwilderte Fläche lag direkt dazwischen und war gleichzeitig der Grund für die billige Miete, die das junge Paar jeden Monat bezahlte. Der Park war nicht das Einzige, das mit den Jahrzehnten an Glanz verloren hatte. Die Häuser darum herum schienen sich am Verfall des Parks angesteckt zu haben. Die sich selbst überlassene Grünfläche bot einen erbärmlichen Anblick: Der Rasen war diesen Sommer wieder verbrannt. Der Spielplatz war eine Todesfalle aus morschen Geräten und umgefallene Bäume machten den Park zu einem Labyrinth. Vorsichtig kletterte Frank über mehrere heruntergefallene Äste und achtete darauf, sich nicht im Efeu zu verheddern, das wild über den gesamten Boden kroch.

Am Parkausgang blickte er noch schnell nach links und rechts und huschte über die Straße Richtung Haustür. Gerade als er nach der Türklinke griff, donnerte ein Lkw hinter ihm vorbei und erschütterte die gesamte Fassade des Altbaus. Hastig verzog sich Frank ins Innere. Der Lichtkegel des 16-Tonners erhellte für einen Moment das karg beleuchtete Erdgeschoss und gab die vollen Ausmaße des kläglichen Zustands preis, in dem sich das alte Gebäude befand. Dicke Risse in den Wänden zogen sich bis in den obersten Stock. Im Winter pfiff der Wind durch das ganze Haus und heulte gespenstisch durch das Treppenhaus. Dort hatte man bei jedem Schritt auf der alten Holztreppe das Gefühl, das Gemäuer bettele um den baldigen Abriss. Die Treppenhausbeleuchtung war stellenweise ausgefallen. Gewartet oder gar repariert wurde hier gar nichts, denn die Verantwortung über das Gebäude hatte man vor wenigen Monaten mit dem Tod des Hausmeisters den Bewohnern überlassen. Folglich blieb es zwischen Stockwerk eins und drei dunkel.

Frank wollte nur noch einen kurzen Blick in den Briefkasten werfen und es sich dann mit seiner Liebsten gemütlich machen. Müde steckte er den Briefkastenschlüssel in das Schloss und drehte ihn um.

Keine Rechnungen, bitte keine Rechnungen, hoffte Frank und entnahm einen Stapel Post. Eifrig durchsuchte er den kleinen Papierberg und verschaffte sich dabei mit seinem Smartphone Licht.

Werbung, noch mehr Werbung. Rechnungen ...

Frank seufzte entrüstet. Noch mehr unbezahlte Forderungen, denen sie nicht nachkommen konnten. Er blätterte weiter und fand etwas, das in ihm gute Laune aufkommen ließ.

Die monatliche Ausgabe von Blumenliebe! Hey, das war ja immerhin etwas.

Er schlug die Zeitschrift auf. Zwei Briefe fielen ihm entgegen und landeten unbeachtet auf dem Boden. Er überflog das Inhaltsverzeichnis nach seinem Artikel und blätterte rasch zu Seite 25. Da war er, sein Artikel! Mit sich und der Welt zufrieden grapschte er die beiden Briefe vom Boden, nahm sie zusammen mit der Werbung unter den Arm und huschte alle vierundachtzig knarzenden Stufen hinauf in seine Wohnung, um die großartige Nachricht zu überbringen.

Die Veröffentlichung war genau das, was er jetzt brauchte. Sie gab ihm neue Energie und spornte ihn an, wie es nur eine gute Nachricht konnte, auf die man schon zu lange gewartet hatte. Ein neuer Artikel bedeutete Geld, und zumindest für einen Moment fühlte er sich von der Fachwelt ernst genommen.

Oben angekommen blieb er vor einer nur allzu vertrauten Haustür stehen. Er steckte die Post in seine Jackentasche und blickte an sich hinab. Er trug dieselben Klamotten wie immer. Frank hielt nicht viel von Mode und wollte schon gar nicht jeden Morgen Zeit damit verschwenden, darüber nachzugrübeln, was er anziehen sollte. Er besaß genau drei Outfits und heute trug er seine normale Arbeitskleidung: Schwarze Schuhe mit einer blauen Jeans, einem Hemd, über das ein Pulli gestreift war, und weil ihm danach war, eine Fliege, die ihm das Gefühl gab, wie ein echter Wissenschaftler auszusehen. Ungewöhnlich für einen jungen Menschen seines Schlages, aber dafür umso gepflegter.

Er rückte seine Fliege zurecht und klopfte dreimal laut gegen die Holztür.

Im Inneren der Wohnung war ein Quietschen zu hören. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und jemand stand auf. Das dumpfe Trampeln von Füßen in Socken war zu hören. Jemand kam näher und blieb dann stehen. Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein blinzelndes stahlblaues Auge schaute zu Frank auf.

„Ja?“, fragte das stahlblaue Auge.

Frank drückte die Tür nach innen auf. Die Frau im Inneren leistete keinerlei Widerstand und machte sogar noch einen Schritt zurück, um es ihm leichter zu machen. Frank machte einen Schritt nach vorne und stand direkt im Türrahmen.

Die Frau war ein wenig kleiner als er und alles an ihr strahlte eine Gemütlichkeit aus, die Frank gerne mit einem Geborgenheitsgefühl verband. Sie trug ein paar graue Jogginghoses und ein rotes Tanktop. Und mit ihrer blonden Bobfrisur sah sie richtig süß aus.

„Ich hab dir was mitgebracht, Lilly.“

„Oh, was ist es denn? Wird es mir gefallen?“, antwortete sie mit übertrieben gespielter Neugier.

Er machte noch einen Schritt auf sie zu und stand nun direkt vor ihr.

„Es ist wichtig, dass du es sofort bekommst“, säuselte Frank und legte einen Arm um ihre Hüfte.

Sie rollte mit den Augen und Frank küsste sie auf den Mund. Dann hob er sie von den Füßen hoch. Seine Hände wanderten hinab zu ihrem Po und fanden Halt.

„Huch“, entfuhr es ihr kichernd, als sie in die Höhe schwebte.

„Jetzt hab ich dich.“

„Das hast du“, sagte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Wo warst du so lange?“

„Ich war alleine im Laden, Melly wollte heute früher weg. Sie hatte ein Date.“

„Ein Date?“

„Ein Date!“

„Na, dann wünsche ich Melly viel Glück, denn meinen Franky kann sie nicht haben.“

Diesmal küsste sie ihn und tastete dabei mit ihrer Zunge nach seiner.

„Ich ...“, setzte Frank an.

„Bin noch nicht fertig“, würgte sie ihn ab und setzte den Zungenkuss fort. Nach einer Minute gab sie sich zufrieden.

„Nun?“ sagte sie und schmatzte mit ihren Lippen. „Was willst du so Dringendes loswerden?“.

„Wäre es dir recht, wenn wir das Geknutschte auf das Sofa verlegen?“

„Standortwechsel genehmigt. Ab zum Sofa.“

Voller Vorfreude streifte Frank seine Schuhe von den Füßen und lief schwankend mit Lillian in den Armen hinüber zu ihrem durchgesessenen Sofa.

„Soll ich dich absetzen?“

„Nö, ich will bleiben, wo ich bin.“

Mit Lillian auf seinem Schoß ließ sich Frank in das alte, aber bequeme Sofa fallen. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und lehnte sich zurück.

„Erzähl mir was Tolles, ich hab den ganzen Tag diese blöden Holzhütten entworfen. Heute Hütten, gestern ein Parkhaus. So habe ich mir das als Architektin nicht vorgestellt. Ich will ein Zuhause entwerfen und nicht immer diesen Krempel. Mir ist so langweilig, wenn du noch später nach Hause gekommen wärst, würde ich jetzt schlafend auf meinem Zeichen-Tablet hängen.“ Sie seufzte und er spürte ihren warmen Atem in seinem Gesicht.

Sie war sein Ein und Alles. In einer Welt, in der seine Karriere als Biologe stagnierte und er in einem Blumenladen versauerte, war Lillian für jeden Funken Glück verantwortlich, der täglich in ihm aufkam. Und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch für Lillian hätten die Dinge inzwischen besser stehen sollen, aber immerhin hatte sie Frank.

Und Frank hatte Lillian.

„Lilly, schau her.“

„Was denn?“, fragte sie, ohne aufzuschauen.

„Mein Artikel, sie haben ihn veröffentlicht. Ungekürzt, soweit ich das beurteilen kann.“ Eine ordentliche Prise Stolz lag in seiner Stimme, als er die Zeitschrift aus seiner Jackentasche zog.

„Tatsächlich?“, sagte sie und hob ihren Kopf. „Lass mal sehen. Die Chamäleon-Blumen von Frank Wilkee“, las sie vor. „Bravo. Das ist schon dein dritter Artikel, so langsam kann ich dich schon fast ernst nehmen“, sagte Lillian liebevoll, stieg von seinem Schoß und setzte sich neben ihn.

Nichts konnte den neugierigen Wissenschaftler in Frank jetzt noch aufhalten. „Stell dir nur vor, Blumen, die in allen Farben blühen und dabei ihre Kelchfarbe verändern, abhängig von Wetter, Wind und Sonnenschein. Vielleicht kann ich heute Abend schon anfangen, mithilfe des Artikels neue Kontakte zu knüpfen. Die Veröffentlichung ist wie eine Legitimation meiner Arbeit. Aber zuerst ...“, sagte er, stand auf und stellte sich direkt hinter Lillian.

„Essen wir zwei etwas.“

Wie auf Autopilot drehte Lillian den Kopf nach hinten und ließ sich von Frank auf den Mund küssen. Dabei ging sie die Post durch.

„Hm, Hm“, machte sie und unterbrach damit den leidenschaftlichen Kuss.

„Ja?“, fragte Frank. „Gibt es einen Wunsch, der deine süßen Lippen in Anspruch nimmt? Wenn ja, raus damit!“, sagte er und küsste sie sanft.

„Du hast einen Brief von einem Anwalt bekommen ...“

Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, Frank rechtlich an den Kragen zu gehen. Wie viele große Forscher war auch Frank in der Lage, mit seinen Entdeckungen großen Konzernen die Kundschaft wegzunehmen. Und damit den Umsatz zu schmälern. Auch wenn die Entdeckung noch so groß war, für jeden, der vorhatte viel Geld zu verdienen, gab es jemanden, der drohte, genau dieses Geld einzubüßen.

Vorsichtig öffnete er den Brief und fuhr mit einem hastigen Blick die Zeilen entlang.

„Mach dir keine Gedanken“, ermutigte ihn Lillian. „Selbst wenn man dich für schuldig befindet und in den Knast steckt. Ich komm dich besuchen. Vielleicht darf ich ja sogar deine Zelle entwerfen. Dann bekommst du ein extra großes Fenster zum Rausgucken. Ich werde uns mal ein paar Toastbrote machen. Diese Architektin braucht jetzt was zu futtern“, verkündete Lillian, fuhr sich durch die Haare und tappte gähnend Richtung Küche davon.

Frank überflog den Brief und seufzte erleichtert auf.

„Entwarnung!“, rief er. „Es ist weder eine Vorladung noch ein Inkassobüro noch sonst irgendwer, der unser Geld oder Seelenwohl pfänden will.“

„Um was geht es denn dann?“, schallte es aus der Küche.

„Es scheint, jemand ist gestorben. Jedenfalls kann ich das hier so rauslesen. Hör dir das mal an.“

Er begann vorzulesen.

Sehr geehrter Herr Wilkee,

bitte entschuldigen Sie das unsanfte Eindringen in Ihr Heim in Form dieses Briefes. Es ist weder meine Absicht, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, noch, Sie mit verlogener Werbepost zu belästigen.

Mein Name ist Rudolpho Santiago Mendoza Ramirez Handuselá. Ich war und bin der Rechtsanwalt Ihrer Großmutter.

Leider muss ich Ihnen hiermit mitteilen, dass Ihre ehrenwerte Großmutter, Sarah Wasserstein-Wilkee, am 30. September ihren letzten Atemzug nahm und aufgrund eines Herzversagens mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Reling eines Kreuzfahrtschiffs kippte, woraufhin sie im Wasser ertrank. Da ich in Verbindung mit der Küstenwache und dem Kapitän keine sterblichen Überreste ausfindig machen konnte, habe ich beschlossen, sie ab heute, dem 12. Mai, für tot erklären zu lassen.

Hiermit tritt der Wille von Frau Sarah Wasserstein-Wilkee in Kraft. Da ihr Ehemann (und räudiger Schuft) Basil Wasserstein-Wilkee nach wie vor nicht ausfindig zu machen ist, sind Sie der alleinige Erbe.

Die Beerdigung findet am 19. Mai in Shuus statt. Aus oben beschriebenem Anlass wird es keinen offenen Sarg geben (dafür aber ein offenes Büfett und Bar).

Im Rahmen ihrer Beerdigungszeremonie werde ich ihren Willen verlesen, so wie sie es gewünscht hat.

Um Ihre Anwesenheit wird gebeten.

In ehrfürchtigem Mitleid verbleibt

Rudolpho Santiago Mendoza Ramirez Handuselá

Lillian hatte inzwischen bei Frank auf dem Sofa Platz genommen und kicherte vor sich hin.

„Wer schreibt denn bitte so einen Brief?“, fragte sie lächelnd.

„Der spanische Anwalt meiner verstorbenen Oma. Bei dem Mann zerfließen Taktgefühl und Humor zu einem merkwürdigen Gemisch.“

„Also Leute gibt es ... gehen wir da hin?“

„Natürlich. Schon allein weil ich dann eine Möglichkeit habe, meinen Opa wiederzusehen. Und außerdem interessiert mich, was es so zu erben gibt.“

„Ach, du bist unmöglich“, sagte Lillian und zog Frank eins mit dem Sofakissen über.

„Das verstehst du nicht. Das ist meine Oma. Die war schon steinalt, als ich noch jung war. Es ist mir ein Rätsel, wie es die Frau bis ins nächste Jahrtausend geschafft hat. Sie muss jetzt ...“, er überlegte kurz, „ja, ich glaube, dieses Jahr wäre sie 105 geworden. Und dann bei einer Kreuzfahrt so einen Abgang hinzulegen, das hat doch was, oder?“

Lillian verkniff sich weitere Kommentare und widmete sich ganz ihrem Honigtoastbrot. Auch Frank nahm sich eins vom Teller.

„Also wenn es etwas zu erben gibt, hätte ich gerne ein Haus“, sagte Lillian mit vollem Mund. „Ein Haus oder etwas Geld. Mir stinkt diese Stadt so langsam. Seitdem wir beide mit dem Studium fertig sind, existieren wir hier orientierungslos vor uns hin. Der letzte Fortschritt war unsere Hochzeit.“

„Was soll das denn heißen?“, sagte Frank kauend.

„Das soll heißen, du erhoffst dir seit Ewigkeiten den Durchbruch für deine Pflanzensamen, und ich entwerfe Schrott, weil keine angesehene Architektenfirma gerade einstellt. Und wir leben immer noch in deiner Studentenwohnung“, fügte sie hinzu.

In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Hundegebell von draußen.

„Und dann das. Es ist zehn Uhr abends und wie jeden Abend kläfft dieser dreibeinige Mist-Hund jetzt für eine geschlagene Stunde. Und um drei Uhr mittags kommt dann das Vieh von unserem direkten Nachbar und bellt für zehn Minuten. Und um siebzehn Uhr legt der Pitbull eine Etage unter uns los. Ich hasse Hunde, wirklich. Ich wünschte, die würden alle an ihren Tennisbällen ersticken. Du kriegst das ja alles nicht so oft mit, wenn du außer Haus bist.“

„Na komm, so schlimm ist es doch auch nicht, oder?“

„Doch. Ist es. Wie soll ich in Ruhe zeichnen und du an deinen Blumensamen arbeiten, wenn wir in einem Hundezwinger leben? Wie viele Samen hast du schon zerdrückt, weil dich das Hundegebell hat hochschrecken lassen?“

„Vielleicht ein Dutzend ...“

„Und ich hab bestimmt schon ein halbes Dutzend Geräteschuppen mit Zickzackdächern entworfen, weil mich diese vierbeinigen Alarmanlagen aus der Ruhe bringen. Das kann doch auf Dauer nicht so weitergehen.“

Lillian verspeiste den letzten Bissen ihres Honigbrotes und legte sich auf Franks Brust. Er streichelte sie liebevoll am Kopf.

„Hatte deine Oma nicht vielleicht ein schnuckeliges kleines Haus, das sie uns hinterlassen könnte?“

„Um ehrlich zu sein, ja.“

„Ehrlich?“

„Ehrlich. Klein ist es jedenfalls, aber ob es schnuckelig ist, wird sich noch zeigen. Ich hab sie bestimmt seit zwei Jahrzehnten nicht mehr besucht.“

„Warum denn das?“, fragte Lillian und schaute zu ihm auf.

„Na weil sie einfach immer unterwegs war. Mein Opa war mehr so der gemütliche Typ, war gern zu Hause und hat sich mit einem Modellschiff beschäftigt. Meine Oma ist noch mit siebzig aus Flugzeugen gesprungen und hat rund um die Welt neue Erfahrungen gesammelt.“

„Wo ist dein Opa eigentlich?“

„Wenn ich das nur wüsste. Aber was ihm an neugieriger Abenteuerlust fehlt, macht er mit seinem irrsinnigen Geschwätz wieder wett. Fantastisch sag ich dir. Irgendjemand sollte den ganzen Stuss mal aufschreiben ...“

Lillian verzichtete auf eine Nachfrage und studierte lieber den Brief des Anwalts.

„Die Beerdigung ist schon übermorgen“, sagte sie und senkte den Brief. „Wir fahren auf jeden Fall mal hin. Eigentlich könnten wir genauso gut alles zusammenpacken und abhauen. Wir haben nichts zu verlieren außer eine Rechnungsadresse, und das könnte sogar von Vorteil sein, meinst du nicht?“

„Aber die Blumensamen ...“

„... können auch mal einen Tag warten.“

Franks Gesichtsausdruck schaffte es nicht annähernd, seine überforderte Gefühlslage darzustellen. Hier wurde eine wichtige und alles verändernde Entscheidung in wenigen Sätzen getroffen.

„Fahren wir jetzt wirklich dort hin?“, fragte er stutzig.

„Natürlich fahren wir hin. Wir haben gerade unsere Zukunftspläne mit der Post bekommen. Keiner von uns hat einen vernünftigen Job und wir haben praktisch kein Geld mehr. Wir haben nicht mal mehr genug, um Umzugskartons zu kaufen, geschweige denn, um einen Lkw zu mieten. Das bisschen Geld auf unserem Konto reicht wahrscheinlich grad so für die Tankfüllung nach Shuus. Dort kriegen wir bei der Beerdigung erst mal was zu futtern. Und überhaupt, was kann schon passieren?“

Kleine Momente wie diese erinnerten Frank daran, wie sehr er Lillian liebte. Es waren ihr Wagemut und ihre Furchtlosigkeit, die die beiden überhaupt erst zusammen gebracht hatte. Immerhin war sie eine Architektin und er ein Biologiestudent. Ihre Hobbys und Interessen waren ebenso verschieden wie ihre Persönlichkeiten. Lillian trank Tee, Frank bevorzugte Kaffee. Er blieb lieber zu Hause, sie streckte lieber den Kopf vor die Tür und lief einfach mal der Nase nach drauflos.

Lillian blickte ihm in die Augen und wartete gebannt auf eine Entscheidung.

„Und?“, fragte sie neugierig und verzog die Nase. „Wie sieht’s aus?“

„Einverstanden.“

„Ehrlich?“

„Ja, wir hauen ab. Auf Nimmerwiedersehen Großstadt. Viel haben wir wirklich nicht zu verlieren, außer uns. Und ich bin mir sicher, dass du mir noch eine ganze Weile erhalten bleibst.“

Lillian ließ ihn bei einem langen Kuss spüren, dass sie auf keinen Fall vorhatte, ihn alsbald zu verlassen.

Jedenfalls nicht aus freien Stücken.

Am nächsten Morgen fuhr gerade ein Lieferwagen vor, als Lillian hastig die letzten Kisten einräumte. Frank verpackte den Inhalt des Badezimmers. Der Umzug war in vollem Gange.

Bevor sie zu Bett gegangen waren, hatte Lillian mit einer Freundin gesprochen und sie gebeten, ihnen beim Umzug zu helfen. Frank rief Tim an. Die beiden waren zusammen im Heim aufgewachsen. Tim tat alles für Frank, und Frank tat alles für Tim. Eigentlich wollte Frank nur um seine Hilfe bitten, wenn es darum ging, ihren ganzen Plunder aus der Wohnung zu schleppen. Aber Tim hatte es sich nicht nehmen lassen und auch das passende Umzugsgefährt aufgetrieben. Es sollte sogar ein Geschenk sein.

„Frank“, rief Lillian aus dem Wohnzimmer.

Er reagierte nicht.

„Frank“, sagte Lillian und lief Richtung Badezimmer. „Lass es uns noch mal durchgehen: Wir lassen das alte Sofa hier, die durchgelegene Matratze, die hässlichen Regale, Teppiche und der kaputte Fernseher. Die Küche gehört sowieso dem Vermieter und der Schreibtisch den Holzmaden. Hab ich irgendwas vergessen?“

„Ich glaube, das war alles. Kleider, Elektronik und ein bisschen Krimskrams. Das nehmen wir mit. Ist Tim schon da?“

„Keine Ahnung, ich hab niemanden gehört. Ich kann ja mal kurz nachschauen.“

Lillian lief zu einem der großen Wohnzimmerfenster und öffnete es. Dann beugte sie sich hinaus, um nach unten zu sehen.

„Da steht ein Lieferwagen vor der Haustür. Aber ich kann Tim nirgends sehen“, murmelte sie zu sich selbst. Lillian kniff die Augen zusammen. Vielleicht war er ja irgendwo da unten und sie konnte ihn nur nicht sehen. Auf dem Gehweg gegenüber stand ein Mann in Tims Alter, der sich gegen die Wand lehnte und in eine Zeitung starrte.

Ist das Tim?, überlegte Lillian.

Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine Sonnenbrille.

„Hey, Tim“, schrie Lillian aus dem Fenster.

Der Mann in Schwarz blickte zu ihr empor und grinste hämisch.

Mist, das ist er nicht, dachte sie sich und erschrak sofort, als zwei kalte Hände nach ihren Schultern griffen.

„Guten Morgen, Blondie“, sagte Tim, der sie von hinten gepackt hatte.

Lillian drehte sich rum. „Guten Morgen, du Spinner.“

Sie umarmte ihn freundschaftlich und küsste ihn auf die Wange.

„Huch“, sagte Tim, „da ist jemand aber gut gelaunt.“

„Natürlich. Ich darf doch umziehen“, sagte sie und flitzte an ihm vorbei.

„Hab ich gehört. Wo ist denn unsere schlechtere Hälfte?“

Lillian griff nach der nächstbesten Zeitschrift und klopfte Tim hart gegen den Kopf.

„Autsch, Vorsicht, Lady. Mein Kopf ist mein Kapital.“

„Oh Blödsinn, Tim. Wenn dein Kopf dein Kapital wäre, würdest du jetzt umziehen und ich dir einen Lieferwagen vor die Tür stellen“, schimpfte sie mit erhobener Zeitschrift, „deine bessere Hälfte ist im Badezimmer. Die Liebe meines Lebens auch.“

Tim drehte den Kopf zur Seite und starrte ihr in die Augen. Als Antwort verpasste sie ihm noch eine mit der Zeitung, küsste ihn auf die andere Wange und machte sich daran, ihr Zeichen-Tablet in eine Kiste zu verstauen.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

„Komm ruhig rein, wer immer du bist“, schrie Tim der Tür entgegen. „Was auch immer du uns antun willst. Ich bin dir gewachsen, hab ich recht, Lillian?“, spottete Tim und grinste in ihre Richtung.

Lillian schüttelte den Kopf und machte eine abweisende Geste. Die Tür wurde aufgestoßen und eine Frau betrat die Wohnung.

„Lillian? Frank?“, fragte sie und klackerte auf ihren hohen Absätzen ins Wohnzimmer. Doch den Ersten, den sie erblickte, war keiner von beiden.

„Yuck, Tim. Pfui. Was machst du denn hier?“, fragte Bea angewidert.

„Bea, na du? Geht es dir gut?“, setzte Tim an und ging mit offenen Armen auf sie zu.

„Bleib weg von mir!“, sagte sie und schob ihn zur Seite, um zu Lillian zu kommen.

„Lilly, meine Liebe. Endlich! Ich dachte schon, ihr zwei würdet auf ewig in dieser Wohnung versauern. Gott sei Dank ist diese alte Frau gestorben und hat euch damit eine Chance verschafft.“

Beim letzten Satz war Frank gerade ins Wohnzimmer gekommen.

„Ja, sind wir nicht alle froh, dass meine Oma endlich tot ist“, sagte er entrüstet und verschränkte die Arme.

So manch andere wäre jetzt vielleicht rot geworden, aber nicht Bea. Sie behielt ihre gesunde Hautfarbe.

„Du weißt, so hab ich das nicht gemeint. Niemand erbt gerne, aber jeder ist doch froh, wenn es etwas zu erben gibt. Habe ich recht?“

Sie bekam keine Antwort und wertete die Reaktion schlichtweg als Zustimmung.

„Na also, ich kannte deine Oma zwar nicht, aber sie war bestimmt lieb und nett und ... deine Oma. Und jetzt ist sie nicht mehr da, aber wir sind noch da und können endlich aufatmen, dass es mit euch beiden wieder vorangeht und ihr endlich zu dem Erfolg gelangt, den wir alle seit Jahren von euch erwarten.“

Nach diesem langen Geständnis musste sie tief Luft holen. Bea nahm auf dem Sofa Platz. Sie kickte ihre Heels von den Füßen und schlug die Hände im Schoß zusammen.

„Also, seid ihr so weit. Ist alles verpackt?“

Tim ließ sich neben ihr auf das Sofa fallen und musterte sie. Ihre schulterlangen Haare waren zerzaust und ihr Make-up verriet, dass sie geweint hatte. Selbst ihre Strumpfhose war an einer Stelle gerissen.

„Bea, du hast aber schon mal besser ausgesehen.“

Wütend blickte sie ihm in die Augen.

„Möglich.“

„Bea, wenn ich dich jetzt fragen würde, wo du gestern gewesen bist. Und wenn ich vermuten würde, dass du den Abend mit jemandem verbracht hast, der sich als deiner unwürdig erwiesen hat. Würde ich dann richtig liegen?“

„Eventuell“, zischte Bea zwischen ihren Zähnen hervor.

„Arme Bea. So viel Kohle und niemand, der dich haben will.“

Diesmal schwieg Bea. Lillian setzte sich auf die freie Seite neben sie und nahm sie in den Arm.

„Ich hab dich lieb, Bea“, sagte sie und kuschelte sich an sie.

„Danke, Lilly, aber solange du nicht bereit bist, Frank zu verlassen, um mit mir durchzubrennen, wird aus uns wohl nichts werden.“

„Wer weiß, ich bin gerade dabei, all meine Sachen in einen Lieferwagen zu laden. Wenn du schneller bist als Frank, hast du vielleicht Glück.“

„Okay“, sagte Frank und würgte die Albernheiten ab. „Genug. Platz da, ich komme.“ Er legte sich geradewegs auf den Schoß der drei, sodass er Lillian in die Augen blicken konnte.

„Jetzt, da unsere Möbelpacker da sind, können wir loslegen. Was meinst du?“

Lillian nickte und küsste ihn schnell. Er warf Bea einen Blick zu, der ihr versichern sollte, dass Lillian bei ihm bleiben würde.

„Sehr gut. Und wenn die alte Jungfer und Tim fertig sind, machen wir uns gleich auf den Weg.“

„Alte Jungfer, pah. Ich wäre beleidigt, wenn es nicht wahr wäre. Ich bin 36 Jahre alt und wenn ich nicht bald jemanden finde, muss Tim als Notlösung herhalten. Und zwar nur, weil du weniger Batterien verbrauchst als mein gegenwärtiger Lebenspartner.“

„Großartige Unterhaltung“, würgte Tim hervor und schluckte, „aber sind wir nicht alle heute hier zusammengekommen, um schwere Kisten ein endloses Treppenhaus hinunterzuschleppen?“

„Richtig“, stimmte Frank von Lillians Schoß zu.

„Na dann los, Jungs“, sagte Lillian, „ihr könnt die Kisten schleppen und wir zwei packen die restlichen Sachen ein.“

„Wieso müssen wir die schweren Sachen schleppen und ihr nur verpacken?“, Frank begann zu flüstern und wusste doch ganz genau, dass ihn jeder hören konnte. „Ich hab eine Idee. Warum lassen wir nicht Tim und Bea das schwere Zeug ins Auto schleppen und verpacken weiterhin was noch da ist. Und wenn uns die Sachen ausgehen, tun wir einfach so, bis sie fertig sind?“

„Weil wir unsere Freunde nicht ausnutzen“, erklärte Lillian im gleichen Flüsterton, „und weil ihr Jungs die Drecksarbeit machen könnt, während ich Bea tröste. Sie hatte nämlich offensichtlich eine furchtbare Nacht.“

Bea und Lillian nutzten die Situation für ein schamloses High-five. Frank lachte, und Tim schüttelte den Kopf.

„Es gibt ein Wort für solche Verschwörungen“, protestierte Tim, „es fällt mir zwar gerade nicht ein, aber es gibt definitiv eins.“

„Komm, Tim“, sagte Frank und stand auf, „wir legen mal los.“

„Und wenn ich aber keine Lust habe?“

Bea hob einen ihrer Schuhe vom Boden auf und zielte mit dem spitzen Absatz auf seinen Schritt.

„Wirklich?“, fragte Tim und schüttelte den Kopf. „Na gut, ich geh ja schon.“ Er kapitulierte. Frank und Tim schnappten sich je eine Kiste und machten sich auf den Weg ins Treppenhaus. Frank hatte die Wohnung schon verlassen, als sich Tim nochmals umdrehte.

„Weißt du, Bea, es ist deine liebenswerte Art, die Männer so an dich bindet.“

Sie feuerte einen Schuh in seine Richtung, den Tim mit der Umzugskiste abwehrte. Tim glotzte dem Schuh hinterher, der klumpig zu Boden ging.

„Da fragt man sich doch, ob du überhaupt irgendwo ins Ziel kommst. Oder ob bei dir einfach alles daneben geht.“

Wütend griff sie nach ihrem zweiten Schuh und donnerte ihn mit voller Wucht genau auf Tims Kopf.

„Bea, nicht!“, rief Lillian, doch es war bereits zu spät.

Der Schuh flog in kreisenden Bewegungen auf Tim zu und hätte ihm wahrscheinlich sein Nasenbein zerschmettert, hätte Frank ihn nicht mit einem knappen „Komm jetzt, du Trottel“ in den Flur gezogen. Der Absatz des Schuhs blieb im maroden Putz hängen und baumelte unglücklich hin und her.

Tim und Frank trugen mühsam Kiste um Kiste hinunter und verstauten die Habe im Lieferwagen, der sich als Sprinter entpuppte. Auch wenn es kein Sofa und keinen Herd zu schleppen galt, stand den beiden am Ende der Schweiß auf der Stirn. Jetzt standen sie draußen, lehnten gegen den Transporter und gönnten sich eine schwer verdiente Verschnaufpause.

„Jetzt erklärt mir aber mal“, fragte Tim, „was genau hast du geerbt?“

„Was genau hat der Brief nicht erwähnt. Aber es geht um den Nachlass meiner Großmutter aus Shuus. Ein kleiner Ort mitten im Nirgendwo. Es ist recht schön dort draußen, sehr abgelegen. Soweit ich weiß, ist Shuus eine ehemalige Schmugglerstadt, die erst spät offiziell bekannt wurde.“

„Und jetzt haut ihr zwei einfach so ab, von heute auf morgen? Habt ihr euch schon mal ausgemalt, dass das alles nach hinten losgehen könnte?“

Franks Antwort ließ ein paar Sekunden auf sich warten.

„Zugegeben, lange gezögert haben wir nicht. Wozu auch? Die ganzen ausstehenden Rechnungen, unsere mickrigen Jobs und die schlechten Aussichten. Was hält uns schon noch hier? Entweder es ändert sich jetzt etwas, und zwar schlagartig, oder wir beide werden zuerst mit unserem Arbeitsleben und dann miteinander todunglücklich. Jeder Mensch braucht eine Aufgabe, bei der er sich gebraucht und geschätzt fühlt, findest du nicht?“

„Der Mensch braucht seinen besten Freund in greifbarer Nähe, du treulose Tomate“, legte Tim Widerspruch ein.

„Na komm“, sagte Frank grinsend, „du bist doch ein großer Junge mit einem eigenen Auto. Shuus ist zwar recht weit von hier entfernt, sieben Stunden, wenn mich mein Navigationssystem nicht anlügt, aber das bedeutet ja nicht, dass es damit zwischen uns beiden gelaufen ist, oder?“

„Ich will wissen, dass du gut angekommen bist“, sagte Tim in beschützerischem Ton. „Und besuchen will ich dich auch alsbald, verstanden?“

Frank antwortete ihm mit einem Grinsen.

„Komm, wir gehen wieder nach oben. Bevor die zwei Mädels feststellen, dass sie ohne uns doch viel besser dran sind“, sagte Frank und klopfte Tim auf die Schulter.

Auf dem Weg nach oben kreisten Franks Gedanken um die bevorstehende Veränderung und all ihre Folgen. Eigentlich war der Umzug das Beste, was jetzt kommen konnte. Er war nicht etwa bereit, umzuziehen, weil er sich davon eine Besserung für sich erhoffte, sondern für Lillian. In vielerlei Hinsicht war sie ihm überlegen. Sie war intelligenter und anpassungsfähiger als er. Schon seit dem Anbeginn ihrer Beziehung war er davon überzeugt, dass seine stärkste Eigenschaft darin bestand, ihr zu folgen, anstatt sich querzustellen. Tief in sich glaubte er, dass er sie gehen lassen könnte, wenn er ihrem eigenen Glück im Weg stünde. Aber woher er wissen sollte, wann dieser Punkt erreicht war, wusste er auch nicht. Eigentlich sollte er sich keine solchen Sorgen machen.

Eigentlich.

Bea schien ihre vorübergehende Lebenskrise inzwischen überwunden zu haben. Lillian hatte bereits ihre kurze Lederjacke angezogen und noch eine Tasche mit Kleinkram neben sich bereitgestellt. Die Wohnung war ausgeräumt und alles war so weit abreisebereit. Auf die übliche Kiste Bier mit Imbiss mussten die Umzugshelfer leider verzichten. Bea war todmüde und Tim musste zurück zur Arbeit.

Wenig später saßen Lillian und Frank auch schon in ihrem Umzugswagen. Sie hatten sich von ihren Freunden verabschiedet, ein baldiges Wiedersehen versprochen und wollten jetzt endlich los.

„Ready, willing Lilly?“, fragte Frank, der am Steuer saß.

„Ready, friendly Franky!“

Frank ließ den Motor an und trat aufs Gas. Die beiden kehrten ihrem alten Leben für immer den Rücken.

Lillian - Straße der Sünde

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