Читать книгу Lillian - Straße der Sünde - Christopher Crane - Страница 12
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Frank und Sophie arbeiteten sich gerade durch den Großmarkt, als Lillian in Shuus erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch den Rollladen und kündigten den nächsten Tag an. Lillian hatte in den vergangenen Stunden die letzten Kissen aus dem Bett geworfen und lag jetzt alle vieren von sich gestreckt auf dem Bauch. Sie gähnte und schob ihre Bettdecke beiseite.
„Frank?“, sagte sie und hob den Kopf leicht an.
Keiner antwortete.
Stimmt ja, er ist mit Sophie auf dem Großmarkt. Dann hab ich ja heute das Haus für mich alleine. Auch nicht übel.
Sie ließ ihren Kopf zurück auf die Matratze sinken. Was sollte ihre erste Amtshandlung sein, so ganz allein zu Haus?
Lillian lugte über die Bettkante, schnappte sich ein Kissen, legte es ans Kopfende des Betts und sich der Länge nach hin. Als Nächstes strampelte sie ihren Slip von sich und kickte ihn zur Seite.
Erster Punkt auf der Tagesordnung ... Ich.
Langsam fuhr Lillians Hand an ihrem Becken hinab. Sie streichelte ihre Seite nur kurz, denn ihre Hand fand gierig den Weg zwischen ihre Beine. Dort bewegte sie sich auf und ab und begann sanft zu streicheln. Jetzt kam auch ihr Kopf ins Spiel. Vor ihrem inneren Auge erschien ein muskulöser Miles O’Keeffe, gekleidet in nichts als einen Lendenschurz, der sich durch den Dschungel hangelte und sie im Arm hielt. Zwischen ihnen konnte sie spüren, dass Tarzan an ihr Gefallen fand, denn etwas regte sich. Die Hand zwischen ihren Beinen wurde feucht und Lillian griff instinktiv mit der anderen nach ihrer Brust.
Ob Tarzan wohl genauso gut lecken konnte wie Frank?
Ihr war, als konnte sie Franks Zunge an ihren empfindlichsten Stellen spüren. Sie züngelte immer wieder auf und ab und trank Lillians Honig. Der Griff um ihre Brust wurde schlagartig enger. Die kreisenden Bewegungen hörten auf und wurden von einer berauschenden Bewegung abgelöst. Franks Zunge musste sich mit dem begnügen, was sie abbekommen hatte. Ihr Zeige- und Mittelfinger drangen in sie ein und bewegten sich eilig vor und zurück. Lillian entfuhr ein Stöhnen. Sie ließ von ihrer Brust ab. Die Hand wurde an einer anderen Stelle gebraucht und verschwand abwärts, hielt über ihren stoßenden Finger an und begann zu massieren. Lillian bäumte sich auf, wie sie es immer tat, wenn sie kurz vor dem Orgasmus stand. Ihre Hand schnellte empor und quetschte ihre Nippel, sanft genug, um sie mit einem kleinen Zucken ins Ziel zu treiben. Da war sie, die lange herbeigesehnte Ekstase.
Auf dem Laken zwischen ihren Beinen bildete sich ein kleiner, feuchter Fleck. An ihren nassen Schenkeln perlte noch mehr herab und der Fleck wurde größer. Erst jetzt bemerkte Lillian, dass sie beim Erreichen des Höhepunkts die Luft angehalten hatte. Sie atmete tief aus und streckte alle Glieder von sich.
In völliger Entspannung überlegte sie, wie der Tag weiter verlaufen sollte. Die Entscheidung wurde ihr von einem knurrenden Magen abgenommen und sie beschloss, eine Kleinigkeit zu essen. Munter hüpfte sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Lieblings-Jogginghose und eines von Franks T-Shirts (das ihr viel zu groß war), zog den Rollladen nach oben und öffnete das Fenster. In der Einfahrt erkannte sie Karla Putz, die ihre Hunde spazieren führte und zu Lillian aufblickte. Die beiden wünschten sich einen freundlichen, aber belanglosen „Guten Morgen“, wie man es eben zwischen Nachbarn tat, wenn man sich kaum kannte und auch nicht wirklich miteinander zu tun haben wollte. Lillian bemerkte die drei roten Tüten, die Karla mit sich herumtrug, und bildete sich ein, den Inhalt bis hinauf ins Schlafzimmer zu riechen. Schnell verschloss sie das Fenster und ging hinab in die Küche. Ihr Frühstück bestand aus drei Scheiben Wassermelone und einem Pfirsichjoghurt. Als sie den letzten Löffel aus dem Becher kratzte, knurrte ihr Magen. Na gut, dann eben noch etwas Herzhaftes.
Lillian schlurfte zum Küchenschrank, hob die kleinste Pfanne zwischen fünfen hervor und stellte sie auf den Herd. Sie goss etwas Olivenöl hinein und drehte das Gas auf. Binnen Minuten brutzelte es in der Pfanne und die Küche erfüllte sich vom Duft des Frühstücksspecks. Lillian gähnte und hielt sich den Bratwender vor den Mund. Jetzt sollten die Schweinchenstreifen aber fertig sein.
Sie hob den Speck auf einen Teller und stellte die heiße Pfanne in das Spülbecken. Einen Fuß vor den anderen schlurfte sie zurück zum Frühstückstisch und setzte sich. Fast schon gelangweilt knabberte sie an einem der Speckstreifen. Wann Frank wohl zurück sein würde? Hoffentlich hatte er Erfolg mit diesen drei ...
Ein hohes, dünnes Krächzen schreckte sie hoch. Sie spitzte die Ohren und senkte die Gabel. Es klang wie der qualvolle Schrei eines kleinen Lebewesens, dem schreckliche Dinge angetan wurden. Mit einem Mal war Frank aus ihren Gedanken verschwunden und jegliche Gelassenheit war von ihr abgefallen. Langsam drehte Lillian den Kopf zur Seite und erstarrte. Woher kam es? Was war es?
Das Geräusch klang genau wie die Würmer, die vor Spencers Haus Flammen gefangen hatten.
Der Todesschrei wurde immer lauter und die Qualen des kleinen Wurmes hinter ihr schienen bis ins Unermessliche zuzunehmen.
Gleich platzt der Wurm hinter mir. Und dann drehe ich mich um und dieser Unbekannte in Schwarz steht wieder hinter mir.
Es knallte und das Quietschen verstummte. Rums! Lillian fuhr herum. Hinter ihr war niemand. Weder Würmer noch ein Unbekannter in Schwarz.
Lillian atmete auf, doch der Schreck saß ihr in den Knochen. Bisher hatte sie das Erlebnis aus ihren Gedanken verbannt, es einfach zur Seite geschoben. Jetzt war ihr, als wäre es gestern passiert. Der Gestank der verendenden Würmer war wieder da und mit ihm die Erinnerung und dieser merkwürdige Typ in Schwarz. Was hatte er noch zu mir gesagt? Ich sei ein kleiner Sünder und er würde mit mir tanzen? Der Schreck wich einem zunehmenden Gefühl der Angst und Lillian wurde vom Drang überkommen, davonzurennen. Sie wollte weg. Raus aus dem Haus. Im Schlafzimmer zog sie sich rasch um, schnappte sich ihr Smartphone und machte sich auf den Weg.
Die Haustür knallte hinter ihr zu, und in der Küche quietschten die anderen vier Pfannen im Schrank, bis sie endlich ineinander gerutscht waren. Ein Tropfen Wasser fiel aus dem Hahn und verdampfte mit einem zischenden Quietschen auf der letzten heißen Stelle der Pfanne.
Lillian lief die Auffahrt hinunter und bog rechts in einen kleinen Weg ab, der in den angrenzenden Wald führte. Ein gepflegtes Holzschild mit handgeschriebener Gravur brachte sie zum Stehen:
Wald-Stadtpark Shuus. Verwaltung: Glenn Clark
Lillian war sich gar nicht bewusst, dass Shuus einen Park besaß. Nach der kleinen Spazierfahrt bei ihrer Ankunft hatten die beiden nur noch wenig Zeit damit verbracht, die Stadt zu erkunden. Sie pendelten lieber zwischen den Orten hin und her, die sie auf Anhieb gefunden hatten.
Sie ging weiter und betrat den Park. Das Erste, was ihr auffiel, war die Ordnung. Lillian kannte bisher nur den Park vor ihrer alten Wohnung und der war ein reines Durcheinander. Dieser Waldpark hingegen erschien ihr auf Anhieb geradezu paradiesisch. Der Weg war für einen Wald ordentlich und sauber gehalten. Kleine Steine rechts und links grenzten ihn von den Grünflächen ab und rahmten ihn geradezu ein. Mülleimer waren aufgestellt und die erste Bank wartete schon zehn Meter nach dem Parkeingang auf einen Besucher. Lillian nahm die Gelegenheit dankbar an und setzte sich. Langsam sog sie die leckere Waldluft ein, die nach Tannenadeln und Erde duftete. Hier war es friedlich, und das war jetzt genau das, was sie brauchte.
Lediglich ihr Smartphone mischte sich mit einem Vibrieren in die Waldatmosphäre. Sie erhielt eine Textnachricht von Spencer, der sie und Frank zum Abendessen einlud. Er schrieb, dass er so viele Gäste brauchte wie möglich, denn er wolle eine neue Kreation ausprobieren. Sie und Frank könnten gerne noch jemanden mitbringen.
Nach einem kurzen Nachrichtenwechsel mit Frank bestätigte sie die Einladung und wollte ihr Smartphone wieder in die Hosentasche stecken. Doch sie verfehlte und das Gerät glitt ihr aus der Hand.
Als sie auf den Boden blickte, um es aufzuheben, sah sie eine Maus. Sie stand auf ihren Hinterbeinen und schien sie anzustarren. Lillian starrte zurück. Das Wippen der Baumwipfel im Wind verstummte, und wie sie die Maus anblickte, öffnete das Tier den spitzen Mund. Die Maus schrie und kreischte, als würde sie von innen heraus verbrennen. Der Nager warf sich zur Seite und wälzte sich vor Schmerzen hin und her. In ihren Windungen starrte sie Lillian noch ein letztes Mal direkt in die Augen. Dann zerplatzte sie mit einem lauten Splosh in viele kleine rote Teile. Ihre winzigen Gedärme verteilen sich direkt über Lillians Smartphone.
Lillian blieb der Schrei im Hals stecken. Sie sprang auf und wollte losrennen, doch sie trat ausgerechnet auf die blutige Masse, die gerade noch eine Maus gewesen war. Sie geriet ins Schlittern und taumelte vorwärts, konnte den Sturz aber gerade noch so mit ihren Händen abfangen. In ihrer panischen Eile nahm sie die Kieselsteine, die sich in ihre Handflächen bohrten, gar nicht wahr, sondern rappelte sich auf und rannte davon, immer tiefer in den Park hinein. Während sie davonrannte, lachte die schwarze Gestalt, die sie aus der Ferne beobachtet hatte.
Nichts konnte Lillian jetzt mehr aufhalten. Sie rannte. Den erdigen Weg entlang, einen kleinen Hügel hinunter und vorbei an einem dicken Baumstamm. Hätte sie ihre Geschwindigkeit auch nur für einen Moment verringert, wäre ihr vielleicht auch das Schild aufgefallen, das darauf befestigt war:
BAUSTELLE IN 50 METER
Aber Lillian war auf der Flucht. Sie sprang über eine Wurzel, die ihr im Weg war, und rutschte über ein paar nasse Blätter. Fast wäre sie wieder gestolpert, doch der weiche Mulch, der den Blättern folgte, stabilisierte ihre nächsten Schritte und ermöglichte ihr das erneute Beschleunigen. Alles rauschte an ihr vorbei, sogar die Furcht, die sie ursprünglich hatte flüchten lassen. So hatte sie sich seit dem Studium nicht mehr gefühlt. Damals war sie regelmäßig einmal die Woche mit Bea joggen gewesen. Ihr Körper erkannte sofort, was gerade passierte, und schickte die nötige Energie an ihre Muskeln. In ihrem Hirn breiteten sich bereits die ersten Endorphine aus und verjagten ihr Angstgefühl. Der verängstigte Gesichtsausdruck verschwand. Ein Gefühl von Glück hatte sie vollkommen übermannt. Sie rannte ziellos vor sich hin, bis ihr Körper sich daran erinnerte, dass ihm die nötige Übung fehlte, um derartige Sprints länger durchzuhalten. Umgehend meldeten ihre Muskeln die Kapitulation an und sie wurde langsamer. Das Atmen wurde mühsamer und sie bemerkte, dass sie viel mehr Zeit damit verbrachte, ein- als auszuatmen. Schon bald würde sie zum Stehen kommen und dann würde das Seitenstechen einsetzen. Entkräftet blickte sie zu Boden und verlangsamte ihr Tempo. Als sie endlich wieder aufschaute, erfasste sie innerhalb eines kurzen Augenblicks zwei Dinge: Erstens, direkt vor ihr lag ein zwei Meter tiefes Loch, das die Form einer Niere hatte, und zweitens, hinter dem Nieren geformtem Loch stand der Unbekannte in Schwarz. Er lehnte gegen eine Schaufel und winkte ihr mit einer Hand zu, wobei er lediglich seinen Finger auf und ab bewegte. Sie bremste ab.
STOP!
Sie wollte sich umdrehen, um in die andere Richtung zu rennen. Lillian spürte den Schmerz in ihren untrainierten Muskeln und wusste, dass sie es nicht mehr weit schaffen würde. Ihre bremsenden Schuhe schleuderten Dreck in das Loch vor ihr, doch trotzdem gelang ihr die Wendung.
Sofort riss sie den Kopf herum und blieb stehen. Sie taumelte rückwärts. Wenige Zentimeter vor ihr stand der Unbekannte in Schwarz und grinste. „Lillian, so schön, dich zu sehen! Komm her!“ Er nahm sie bei der Hand und verhinderte ihren drohenden Absturz in das Loch. Seine Hände waren eisig kalt und sein Griff fest. „Lillian ... Lillian ... Lillian“, sagte er und schüttelte grinsend den Kopf. „Weißt du, du machst es mir zu einfach. Du wachst morgens auf und das Erste, was du tust ...“ Er grinste sie schamlos an, als hätte er direkt neben ihr gestanden.
Lillian wollte ihre Hände losreißen, aber es gelang ihr nicht. Er hatte sie fest im Griff, und hinter ihr ging es einige Meter weit abwärts.
„Willst du etwa, dass ich dich loslasse?“, fragte er höhnisch.
„JA VERDAMMT UND VERSCHWINDE, DU VERRÜCKTER! GEH DORTHIN ZURÜCK, WO DU HERGEKOMMEN BIST“, schrie Lillian und versuchte sich aus seiner Umklammerung zu lösen.
Anstandslos ließ er sie frei. „Weißt du, Lillian, manchmal reicht es, nett zu fragen. Ich bin nicht hier, um dir irgendetwas anzutun.“ Er lehnte sich nach vorne und blies Lillian seinen schwefeligen Atem ins Gesicht. „Noch nicht“, sagte er grinsend, zwinkerte ihr zu und lehnte sich wieder zurück. „Ich kann nicht dorthin zurück, wo ich hergekommen bin, aber wie wäre es, wenn du an meiner Stelle dort mal vorbeischaust?“
„Was?“, fragte Lillian. Nichts von dem, was er sagte, ergab für sie irgendeinen Sinn.
Der Unbekannte in Schwarz holte mit seiner rechten Hand aus und stieß Lillian in das Erdloch. Und während sie fiel, rief er ihr hinterher:
„Weißt du, es ist wirklich ein sehr schöner Perserteppich. Du solltest ihn dir einfach nehmen, meinst du nicht? Spencer hätte sicherlich nichts dagegen.“
Lillian stürzte rückwärts in das Loch und erwartete den schmerzhaften Aufprall. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Aber der Aufprall blieb aus und der Schmerz auch. Lillian öffnete ihre Augen und schaute nach oben. Sie befand sich nicht länger im freien Fall, nein, sie stand auf festem Boden. Und was war das dort oben? Das war nicht der Himmel. Waren das Stalaktiten?
Der Stadtpark war verschwunden. Lillian befand sich in einer Höhle. Ein kalter Wind pfiff ihr um den Hals und ließ sie frösteln. Der Geruch von Metall lag in der Luft. Nach allem, was sie wusste, gab es in Shuus keine unterirdischen Höhlen. Es könnte höchstens sein, dass sie durch den weichen Erdboden gesunken und in einen Hohlraum gefallen war. Aber wieso dann die sanfte Landung, ganz ohne Schmerzen oder ... Aufprall?
Der Metallgeruch wurde stärker und hinter einer Felswand flackerte ein Feuer auf. Flüssiger Stahl ergoss sich aus einem kleinen Vorsprung, rann den Stein hinunter und zwischen Lillians Füßen hindurch. Verdutzt blickte Lillian auf die Flüssigkeit. Ein nackter Mann schritt an ihr vorbei und lief auf die Felswand zu. In seiner rechten Hand hielt er einen Schädel, dem bereits ein paar Zähne fehlten. Auf der Stirn prangte ein großes Loch. Sie wollte ihm etwas zurufen, aber er schien sie gar nicht zu beachten.
Der nackte Mann drückte den Schädel in eine Furche an der Felswand. Es begann zu knirschen und zu knacken. Die Augen des Schädels fingen an zu glühen und die Felswand begann sich zu verformen und zu bewegen. Die Front bewegte sich zur Seite und gab einen Schlüssel preis.
Der nackte Mann schlug auf den Schädel und in der Höhle wurde es hell. Ein rotes Feuer erhellte das Dunkel, während überall ringsum kleine Flammen entfacht wurden. Die Temperatur schoss in die Höhe und Lillian trat der Schweiß auf die Stirn.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auf einem Gitter stand. Eine Hand griff nach ihrem rechten Schuh und sie schrie auf.
„Ruhig. Die sind unter uns, sie können dir nichts anhaben“, sagte der Nackte vor ihr.
Das Gesicht eines alten Mannes starrte Lillian durch das Gitter an. Sein Körper war überzogen von klaffenden Wunden, aus denen Eiter quoll. Am Rand seines Mundes klebte getrocknetes Blut und mindestens zwei seiner Rippen ragten aus seinem mit grünem Schimmel überzogenen Brustkorb hervor. Der Alte öffnete den Mund und Lillian erwartete, dass er sie um Hilfe bitten würde. Doch er hatte keine Zunge. Nur einen abgeschnittenen Lappen, der in seinem Rachen hing. Sein Zahnfleisch war blutig und mehrere Zähne waren miteinander verschmolzen. Er schwitzte noch schlimmer als sie.
„Was ist mit ihm passiert?“, fragte sie wie in Trance.
„Was glaubst du, ist mit ihm passiert?“, gab der Nackte zurück.
„Hat man ihn gefoltert?“
„Nein, man hat ihn bestraft. Und seine Bestrafung ist noch lange nicht abgeschlossen.“
Lillian erstarrte. Sie versuchte sich vergeblich, zu rühren. Es war, als hätte die Hitze sie mit dem Gitter verschmolzen, doch als sie herabblickte, erkannte sie, dass der Alte sie festhielt. Lillian wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie konnte nicht vom Fleck, hatte keine Ahnung, wo sie war. Also suchte sie das Gespräch.
„Du bist nicht der Mann, den ich zuvor gesehen habe, richtig?“
„Das stimmt, ich bin ... wichtiger.“
„Was bist du?“
„Ich bin ... der Schlüssel für jedes Schloss. Schon bald wirst du mir helfen, eines der wichtigsten Schlösser überhaupt zu öffnen.“
„Ich? Wie?“
„Du und ich, wir werden eine Verbindung eingehen. Hab keine Angst. Oder hab all die Angst, die in dich hineinpasst, was immer du bevorzugst.“
„Welches Schloss? Was für eine Verbindung? Wo bin ich?“
Sie versuchte, sich vom Griff des alten Mannes zu befreien. Es gelang ihr, einen Fuß zu heben. Sofort schoss eine weitere Person aus dem rotschwarzen Abgrund hinter dem alten Mann hervor und griff nach ihrem freien Fuß. Es war eine Frau. Eines ihrer Augen hing aus der Höhle und an ihrer rechten Hand fehlten zwei Finger. Sie umklammerte Lillians Fuß und hielt sie fest.
„Der Schlüssel für uns liegt in zwei ... Punkten. Sex und Gewalt. Sag an, Lillian Wilkee, was weißt du über Gewalt?“
Lillian gab keine Antwort.
„Mach dir keine Sorgen. Er wird dich führen.“
„Wobei?“ Lillian schlug auf die Hände ein, die sie festhielten, und schaffte es endlich, sich zu befreien. Sie spurtete auf den nackten Mann zu, entschlossen, sich ein paar Antworten zu holen. „Wo bin ich hier? Und wer bist du? Ich will wissen, was ihr los ist oder ich ...“
Der nackte Mann hob erneut die Hand. Haken schossen unter dem Gitter hervor und bohrten sich durch Lillians Füße. Augenblicklich schoss Blut aus der Wunde und Lillian schrie auf. Sie wollte sich den schmerzenden Fuß halten, aber da schoss eine zweite Kette hinter ihr aus der Dunkelheit und hakte sich in ihre Hand ein. Die Kette straffte sich und Lillian wurde gerade nach oben gerissen. Zwei weitere Ketten schossen hervor. Die eine bohrte sich durch ihre Handfläche und die andere durch ihren Rachen. Alle Ketten spannten sich an und Lillian stand kerzengerade da. Blut strömte aus den Wunden und ein Wimmern kroch aus ihrem Mund.
„Genug“, sagte der nackte Mann, „Du solltest eigentlich gar nicht hier sein. Ich werde ihn bestrafen müssen ...“ In der Felswand vor ihm zeichnete sich ein Gesicht ab. Ein Mann, dessen Mund von einem Bart eingerahmt wurde. Der Nackte streichelte das Steingesicht. „Bald wirst auch du zu tun bekommen“, sagte er. „Der Mann, der seinen Meister getötet und mir so eine Botschaft geschickt hat. Ich stehe tief in deiner Schuld, Richard. Aber in welcher Schuld kann ich schon bei einem Menschen stehen?“, er drehte den Kopf und bemerkte Lillian, die immer noch hinter ihm stand.
Der nackte Mann schnippte mit den Fingern und die Ketten rissen Lillian in drei Richtungen. Ihr rechtes Bein riss am Knie auseinander und fiel zu Boden. Ihre Hand verschwand mit der Kette in die Dunkelheit. Blut spritzte in einer Fontäne aus ihrem Armstumpf und das Letzte, was sie spürte, war ein pochender Schmerz. Der nackte Mann drehte sich zu ihr um, doch bevor sie sein Gesicht erkennen konnte, riss ihr die Kette im Rachen den Kopf von der Schulter.
Doch der pochende Schmerz blieb.
Pfarrer Glenn Clark hörte auf zu graben. Seit heute Morgen um sechs war er im Park zugange. Er verbrachte viel Zeit mit der Pflege der Anlage, denn sie war sein Ein und Alles. In Shuus was es allgemein bekannt, dass er die Kollekte dafür verwendete, den Park auszubauen und zu verschönern. Heute Morgen wollte er die neuen Teichgruben ausheben. Er hatte die Plastikwannen für die Teiche gestern noch erhalten und wollte heute zumindest eine davon einsetzen. Die erste Grube hatte er verbockt. Sie war zu tief geworden. Er hatte den steinigen Boden unter dem Wald freigelegt und jetzt ragte eine Felsspitze daraus empor. Anstatt das Loch zuzuschaufeln, hatte er einfach wenige Meter daneben ein neues gegraben.
Erschöpft rammte er den Spaten in die Erde, stieg aus der zweiten Grube und stampfte sich den Dreck von den Schuhen.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang zu ihm hinüber. Glenn machte einen Schritt zur Seite und sah Lillian. Sie lag auf dem felsigen Boden und hielt sich den blutigen Kopf. Er hatte sie, ganz in die eigenen Gedanken vertieft, gar nicht wahrgenommen. „Frau Wilkee?“, sagte er und sprang in das Loch. „Ist alles in Ordnung?“
„Nein, mein Kopf ... und bitte sagen Sie nicht Frau Wilkee zu mir. Ich bin Lillian. Da komm ich mir vor wie ...“
Lillians Augen stellten langsam wieder scharf, und sie sah den Pfarrer, der eine Soutane trug, die er geschickt für den Sommer modifiziert hatte.
Pfarrer Glenn half Lillian auf die Beine.
„Geht es?“
„Ich glaube schon“, sagte Lillian und hielt sich den Kopf.
Er half ihr aus dem Loch und unterzog sie eines kritischen Blicks.
„Sie sind Lillian Wilkee. Sie haben uns bei Sarah Wilkees Beerdigung fast eine Stunde warten lassen.“
„Ja“, gestand Lillian und bemerkte das Blut an ihrer Hand. „Tut mir echt leid, wir waren ... verhindert.“
„Natürlich“, sagte Glenn ernst. „Wie bist du in das Loch gestürzt? Nicht aufgepasst?“
„Ich ... Ich werde verfolgt.“
„Von wem?“
„Von Tieren und Ungeziefer, das vor meinen Augen leidet und dann explodiert. Und gerade hatte ich entweder einen Traum oder bin für einen kurzen Trip zur Hölle gefahren.“
„Wow“, machte Vater Glenn, „soll ich dir einen Krankenwagen rufen? Könnte aber etwas dauern.“
„Nein, es geht schon“, sagte Lillian und tastet vorsichtig ihre Stirn ab.
Glenn schmunzelte. Dann schaute er sich das Loch genau an. An der Felsspitze war ein kleiner Blutfleck. „Das muss doch scheußlich schmerzen. Ich hab genau das Richtige für dich. Komm, setze dich zu mir.“
Vater Glenn setzte sich an den Rand des Lochs und Lillian nahm neben ihm Platz.
„In einem Fall wie diesem“, sagte er und griff hinter sein Ohr, „ist es wichtig, Ruhe zu bewahren.“ Spielerisch knetete er die spitz geformte Tüte in seinen Fingern und steckte sich den Joints in den Mund. Unter seiner Soutane zog er ein metallenes Kreuz hervor, an dem Jesus prangte. Er klappte den Kopf des Erlösers nach hinten und gab dem Joint Feuer. Vater Glenn inhalierte tief und hielt dann inne.
Lillian war fassungslos.
„Ein kiffender Pfarrer?“, sagte sie entsetzt.
„Natürlich, Gott hat alles erschaffen. Auch Marihuana. Ich genieße gerne alle von Gottes Gaben, hier, nimm.“ Er reichte ihr den Joint. „Tief einatmen. Dann geht’s der Stirn gleich besser.“
Lillian folgte und inhalierte. „Gibt es zwischen uns so etwas wie eine Schweigepflicht? Du weißt schon, bleibt, was ich sage, unter uns?“
„Klar. Versprochen“, sagte Glenn und lehnte sich auf seinen Ellenbogen zurück.
„Das ist gut zu wissen.“ Lillian zog ein zweites Mal an dem glimmenden Joint und inhalierte tief. Die Wirkung der Droge begann sich bereits zu entfalten. Eine angenehme Wärme lullte sie ein und sie hatte das Gefühl, ein klein bisschen leichter zu werden. Den Schmerz von ihrer Stirn spürte sie schon kaum mehr. Und nach dem dritten Zug fühlte sie sich wohler als in ihrem eigenen Bett an einem kalten Wintermorgen. Glenn warf einen Blick auf ihre Kopfwunde. Sonderlich groß war die nicht und nähen musste man sie wohl auch nicht.
„Du solltest daheim die Wunde mit etwas Wasser ausspülen und eine Wundsalbe auftragen.“ Er begutachtete die Wunde weiter und griff dann nach dem Joint. „Das wird schon wieder werden.“ Er nahm ihr den Joint aus der Hand. Die weiße Tüte war inzwischen halb heruntergebrannt, Lillian hatte einen guten Zug drauf.
„Sag mal, was macht eigentlich ein Pfarrer in seiner Freizeit?“
„Lesen, jede Menge lesen“, erklärte Pfarrer Glenn. „Am liebsten über alles, was mit Theologie zu tun hat. Von längst verstorbenen Päpsten über Luther und anderen Weltreligionen bis hin zu Dämonologie. Bist du ein gläubiger Mensch, Lillian?“
Lillian grinste ihn doof an. „Nicht wirklich. Ich hab mich noch nie wirklich mit Religion beschäftigt.“
Glenn stutzte und senkte den Joint. „Tatsächlich? Würdest du behaupten, dass du glücklich bist?“
„Wieso? Spielt das eine so große Rolle?“
„Gibt es etwas, das eine größere Rolle spielt als Glück und Zufriedenheit? Warum glaubst du denn, dass sich Leute der Kirche anschließen? Sie suchen Geborgenheit und jemanden, der sie beruhigt, der sich ihre Probleme anhört und ihnen sagt, dass alles gut wird. Jetzt erzähl aber mal, wie bist du in meiner Teichgrube gelandet? Wer hat dich verfolgt?“
„Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Ich ... äh ... sagen wir einfach mal, dass sich in letzter Zeit Dinge ereignet haben, aus denen ich nicht ganz schlau werde.“
Glenn zog die Augenbrauen hoch und deutete an, dass sie weitererzählen sollte.
„Als wir in Shuus angekommen sind, ist mir ein Typ begegnet. Das erste Mal habe ich ihn vor Spencers Haus gesehen.“
„Wie genau sieht dieser Mann denn aus?“
„Er ist komplett in Schwarz gekleidet.“
„Und wie sah sein Gesicht aus?“
„Schwer zu sagen, er hat ein ziemliches Allerweltsgesicht. Glatt rasiert, kurze schwarze Haare und schlank war er auch. Er muss so in meinem Alter gewesen sein.“
„Als örtlicher Pfarrer kann ich dir sagen, dass es in deinem Alter niemanden in ganz Shuus gibt. Du und Frank, ihr habt den Altersdurchschnitt schwer gesenkt. Ich war mit meinen vierzig bisher immer der Jüngste. Und was ist an dem Mann so komisch?“
Sie erzählte ihm von den Geschehnissen bei Spencer und von dem, was ihr am Eingang des Parks passiert war. Glenn hörte gespannt zu und nahm hin und wieder kleinere Züge von seinem Joint. Als sie fertig war, herrschte für einen Moment Stille.
„Was hat denn Frank zu alldem gesagt?“, fragte Glenn.
„Ich habe mit ihm noch gar nicht darüber gesprochen ...“
„Und dann schüttest du mir dein Herz aus?“, Glenn klopfte ihr auf den Schenkel. „Du bist mir eine, jetzt gehst du nach Hause und redest mit Frank. Vielleicht ist es ein Kumpel von ihm oder ein Exfreund von dir, der dir einen Schrecken einjagen will. Fällt dir da vielleicht jemand ein?“
„Da gibt es tatsächlich jemanden. Tim, den Sandkastenkumpel von Frank. Manchmal weiß er nicht, wann genug ist. Er ist zwar ein netter Kerl, aber ihm kann man alles zutrauen.“
„Na siehst du“, sagte Vater Glenn und stand auf. „Es wird sich alles aufklären. Ich muss jetzt mein Loch zu Ende schaufeln. Und zwar bevor die Wirkung dieses wundervollen Krautes nachlässt. Gartenarbeit nüchtern ist nämlich äußerst langweilig.“
Lillian grinste.
„Es freut mich, dass ich dich ein wenig aufmuntern konnte. Jetzt aber ab nach Hause mit dir. Rede mit Frank.“
„Das werde ich, danke, Glenn.“
Sie stand auf, winkte ihm noch einmal zu und machte sich dann, immer noch leicht betüddelt, auf den Rückweg.
Wieder zu Hause angekommen, versorgte Lillian zuerst ihre Wunde. Nachdem sie das Blut weggewischt hatte, trug sie etwas Wundsalbe auf. Der Riss war klein und ohne jegliches Blut mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen. In der Küche machte sie sich eine Tasse Schwarztee und schnappte sich einen Muffin aus dem Süßigkeitenfach. Diesmal quietschte und knirschte nichts. Zusammen mit ihrem Proviant ließ sie sich vor ihrem Zeichenbrett nieder und begann mit der Arbeit. Sie hatte das Gefühl, dass sie der Joint mit genügend kreativer Energie versorgt hatte, um eine erstklassige Holzhütte zu zeichnen.
Die Zeichnerei ging ihr leicht von der Hand und nach kaum mehr als einer Stunde war ihr neustes Werk vollendet. Ein quadratisches Holzhaus mit rundem Dach und einer Sitzbank, die sich über drei Wände erstreckte. In der Mitte stand ein großer Tisch, in den ein Grill eingelassen war. Sie versah das Modell mit dem passenden Namen „Sommernachtsgrill“ und stellte die Daten des Bauplans auf den Server. Jetzt mussten die Kunden die Pläne nur noch einsehen und ihr Feedback abgeben. Wenn es keine Änderungen gab, erhielt sie ihre Bezahlung.
Sie schloss das FTP-Programm, mit dem sie die Daten an den Server übermittelt hatte, und öffnete die Datei Traumhaus. Die Festplatte des Laptops begann zu schnurren und Illustrator baute sich auf. Mit dem Entwurf ihres Traumhauses hatte sie schon so einiges an Zeit verbracht, und immer wieder fügte sie kleine Details hinzu oder änderte Räume ab. Bald sollte der Entwurf fertig sein. Lillian fuhr mit der Maus über das zweite Schlafzimmer und überlegte.
Frank bog in die Auffahrt ein und stellte den Motor ab. Neben ihm schnarchte der junge Beagle, der auf der Heimfahrt von Sophie in den Schlaf gestreichelt worden war. Das junge Tier war am Anfang ganz begeistert gewesen, dem Zwinger entkommen zu sein, doch nach mehreren Kilometern begann es zu winseln und lief unruhig hin und her. Erst Sophies Streicheleinheiten brachten es wieder zur Ruhe.
Frank streichelte dem Beagle über den Kopf. Er wollte ihn wecken und konnte dabei nicht widerstehen, an den Ohren entlangzufahren. Sie waren warm und weich. Mit einem Gähnen erwachte das Tier und streckte sich. Frank stieg aus. Der kleine Beagle plumpste hinter ihm mit dem Kopf voraus aus dem Auto, schüttelte sich und lief zum nächsten Busch. Der Kleine musste mal dringend. Frank öffnete die Haustür und mit einem „Komm!“ war das Tier auch schon ins Haus verschwunden.
Lillian, die in ihren Traumhaus-Entwurf vertieft war, schreckte hoch und sah den kleinen Beagle, der bellend auf sie zugerannt kam.
„Ja hallo“, sagte sie und hob den kleinen Hund zu sich hoch, „wie bist du denn hier reingekommen?“
Niemand konnte einem Welpen widerstehen, nicht mal Lillian, die Hunde eigentlich nicht leiden konnte.
„Na so was“, sagte Frank lässig. „Ich komme nach Hause und finde dich mit einem anderen Kerl im Arm?“
„Och, ist der aber süß“, sagte Lillian und zog ihn ganz dicht an ihre Nase heran. Der Beagle verstand das als Zeichen, ihr das Gesicht abzulecken.
„Dein neuer Liebhaber ist ein Geschenk für Ivan Bogdanow. Er wünscht sich einen Hund und ich hoffe, dass ich damit bei ihm und seinen Brüdern ein paar Punkte sammeln kann.“
Frank trat hinter Lillian und bemerkte die kleine Wunde an ihrem Kopf. „Lilly, was ist passiert?“
„Frank, wir müssen reden. Heute ist etwas passiert, das mir große Angst eingejagt hat, und es war nicht das erste Mal.“
„Erzähl, ich will alles wissen“, sagte Frank und ging vor ihr in die Knie.
Sie setzte den Beagle auf dem Boden ab, der sich in gemütlichem Tempo aus dem Raum bewegte.
Jetzt da er DIE FRAU begrüßt hatte, konnte er endlich auf die Suche nach dem brummenden Futterkasten gehen. DER MANN hatte ihm immer noch nichts zu fressen gegeben und er war der Meinung, dass es jetzt allerhöchste Zeit war, dafür belohnt zu werden, dass er so prächtig gegen den kleinen Baum gepinkelt hatte. Dem Gespräch der beiden schenkte er keine Beachtung, als er das Zimmer verließ und sich umschaute. Irgendwo hier muss ein Brummen sein und wo das Brummen ist, ist auch der Kasten mit dem Futter. Wahrscheinlich war jemand schon dort und wartete auf ihn. Er blieb stehen und hörte. Da war das Brummen! Es kam von ... hier.
Der Beagle wuselte dem Geräusch hinterher und gelangte in die Küche.
Er hatte recht gehabt, DER MANN war wirklich schon da. Und neben ihm war der brummende Kasten mit dem Futter. Aber da war noch ein anderes Geräusch, es klang wie Metall, das jemand gegen einen Stein rieb. Das Geräusch hatte er schon ein paar Mal gehört. Auf dem Hof seines ehemaligen Besitzers. Dort gab es Hühner, mit denen er spielte. Wenn sie über den Hof liefen, jagte er ihnen hinterher und scheuchte sie in alle Richtungen. Doch jedes Mal, wenn er in der Küche stand und das Geräusch von Metall auf Stein hörte, war wieder eines der Hühner vom Hof verschwunden. Immerhin hatte man ihm dann immer einen Knochen zugeworfen, von dem er etwas Fleisch nagen konnte. Vielleicht würde ihm DER MANN ja auch gleich einen Knochen zuwerfen?
Er bellte laut und das Geräusch verstummte. Lediglich der Kasten mit dem Futter brummte wie gewohnt vor sich hin. DER MANN drehte sich zu ihm um. Jetzt würde er gleich etwas zu fressen bekommen, und er wedelte erwartungsfreudig mit dem Schwanz.
Aber das war gar nicht DER MANN, der ihn heute Morgen aus dem grauen Zimmer befreit hatte. Dieser Mann war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine Sonnenbrille. Der Beagle legte den Kopf zur Seite und starrte. Sein Schwanz hörte auf zu wedeln. Er musste wohl einen kleinen Unfall gehabt haben, denn er sah aus, als wäre ihm eine große Hand mit scharfen Krallen über das Gesicht gefahren. Die Krallen hatten tiefe Wunden hinterlassen. Ein Ohr war abgerissen und vier tiefe, blutige Kerben zogen sich über sein Gesicht. Aber das machte ja nichts. DER UNBEKANNTE IN SCHWARZ könnte ihm doch etwas zu fressen holen. Und weil sein Gesicht so schlimm aussah, würde er ihm erlauben, sich auch etwas zu nehmen. Dann würden sie sich beide besser fühlen.
Der Unbekannte in Schwarz kniete sich zu dem kleinen Hund hinunter und packte ihn am Halsband. „Schau mich an“, sagte er in ernstem Ton. Er nahm die Sonnenbrille ab und entblößte das volle Ausmaß seines entstellten Gesichts. Krallen waren über sein rechtes Auge gefahren und hatten es zerteilt. „Das, mein Kleiner, ist, was passiert, wenn du nicht auf dein Herrchen hörst.“ Er drohte dem Hund mit dem Messer in seiner Rechten.
Wäre das Halsband nicht gewesen, wäre der Beagle davongerannt. Er zog bereits stark nach hinten und winselte. Dann pinkelte er vor Angst auf den Boden.
DER UNBEKANNTE IN SCHWARZ machte ihm Angst und zu fressen hatte er ihm auch nichts gegeben. Sein Gesicht roch nach Blut und er spürte Aggression in seiner Stimme. Er wollte jetzt nicht kämpfen oder sich verteidigen müssen, er wollte fressen. Er wandte sich hin und her und zog schon in Erwägung zu beißen, als ihn DER UNBEKANNTE IN SCHWARZ losließ und er, so schnell er nur konnte, davonhastete.
„Mach, dass du wegkommst. UND SEI EIN GUTER JUNGE“, rief der Unbekannte in Schwarz dem Beagle hinterher.
„Nicht, dass es dir bald viel nützen wird ...“
Dann steckte er das scharfe Messer zurück in den Holzblock.
Pfarrer Glenn hatte die Arbeiten an seiner zweiten Teichgrube beendet. Müde vom Marihuana und der körperlichen Arbeit schulterte er seinen Spaten und machte sich guter Dinge auf den Rückweg. Auch er hatte inzwischen eine Einladung zum Abendessen bei Spencer erhalten und freute sich auf das leckere Essen. Am Ausgang des Parks fielen ihm die roten Spuren vor einer der Parkbänke auf, und er erkannte die Maus, von der Lillian gesprochen hatte. Inmitten der Gedärme lag ein Smartphone. Er nahm es auf, putzte es mit einem Taschentuch ab und steckte es ein.
Skeptisch begutachtete er die Überreste. Dieses Ableben wurde definitiv nicht von einem Giftköder verursacht, so viel stand fest. Es konnte zwar passieren, dass sich das Gift durch die Innereien des Tiers fraß und diese als rote Paste durch ihre Körperöffnungen quoll, aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Das Tier schien wirklich explodiert zu sein, anders konnte er sich den Anblick nicht erklären. Er ging um die Maus herum. Da war noch etwas. Es schien, als ob die Einzelteile Wörter formten, nein, einen ganzen Satz. Da stand: Peccatum est ruinae clavis aeternae. Cave!
Latein? Wie verrückt. Entweder der Herr will mir etwas sagen oder ich hab einen Ballen schimmliges Gras erwischt. Glenn übersetzte den Satz in seinem Kopf. Die Sünde ist der Schlüssel, Vorsicht! Was für ein Blödsinn. Er schlenderte gemütlich pfeifend zurück zur Kirche. Erst am nächsten Morgen würde ihn das gerade Erlebte in helle Aufregung versetzen.
Am nächsten Morgen, wenn sie kämen, um Lillian zu holen und davonzuschaffen, mit einem blutigen Messer in ihrer Hand.