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KÜHLES GLAS
ОглавлениеZu meinem Fünfzigsten erschien ein von verhaltenem Wohlwollen getragener Geburtstagsartikel in der hiesigen Lokalzeitung, etwa achtzig weitgehend kenntnisfreie Zeilen, die ein Porträtfoto verunstaltete, auf dem ich wie ein feister Hamster aussah. Am Tag danach rief sie zum ersten Mal an. Ich meldete mich, wie ich es seitdem nicht mehr tue, mit Vor- und Nachnamen, wartete eine Weile ab. Schließlich sagte eine Stimme, die ich einer jungen – und attraktiven – Frau zuordnete: „Ich wollte Ihre Stimme hören.“
Ich versuchte, die Sache von der humoristischen Seite zu nehmen, und erwiderte lachend: „Zumindest das ist Ihnen ja jetzt gelungen!“
„Was?“, fragte sie.
„Was?“, fragte ich zurück.
„Was“, sie schrie fast, „ist mir jetzt gelungen?“
Mir wurde bewusst, dass ich die Situation weder beherrschte noch durchschaute. Ich legte die Hand flach auf die Rauputztapete, dachte nach. „Nun“, begann ich großväterlich (und fühlte mich dabei wie der fette Hamster auf dem Foto in der Zeitung), „Sie sagten mir doch eben, Sie hätten meine Stimme hören wollen. Und ich … äh … wies Sie sodann lediglich darauf hin, dass Sie sie jetzt hören.“
Am anderen Ende der Leitung wurde leise geatmet. Dann nach einem Seufzer fragte die Frau mit leicht schneidendem Unterton: „Waren Sie 1994 mal mit einer Frau aus Trier befreundet? Bitte antworten Sie ehrlich!“
Ich unterbrach die Verbindung. 1994, nach einer Vernissage, war es, wie soll ich es ausdrücken, ohne den fürchterlichen Begriff „One-Night-Stand“ zu verwenden … also nach dieser Vernissage in Trier hatte ich die Nacht mit … was, fragte ich mich, wenn es sich bei der Anruferin um meine zwanzigjährige Tochter handelte, von deren Existenz ich bisher weder geahnt noch gewusst hatte?
Zwei Tage später rief sie wieder an. Und wieder eröffnete sie das Gespräch mit der Feststellung, sie habe meine Stimme hören wollen.
„Woher haben Sie diese Nummer?“, fragte ich.
„1994“, sagte sie. „Nach der Eröffnung Ihrer Ausstellung in Trier. Die Ausstellung, in der Sie zum ersten Mal Ihre Arbeiten aus Gips …“
Ich unterbrach die Verbindung, ging ins Wohnzimmer, schenkte mir einen Likör ein, dann einen weiteren und machte mich, nach einem Kontrollblick in beide Kinderzimmer, wieder an die Arbeit. Längst arbeitete ich nicht mehr mit Gips. Das war ein Irrweg! Sowieso ist alles Dreidimensionale ein Irrweg, weil kein Künstler versuchen sollte, die Natur zu übertreffen. Seit vielen Jahren zeichnete ich nur noch und auch das erschien mir inzwischen zu kompliziert. Mir schwebte eine Kunst vor, die sich in ihrer völligen Schlichtheit der Natur Untertan macht und sie so durch, nennen wir es mal, Bescheidenheit, übertrifft. Damals in Trier … ich wünschte, ich könnte alles, was damals passiert ist, ungeschehen machen!
Die folgenden Tage verliefen ohne Belästigung. Fast erleichtert fiel ich in den üblichen dumpf-betäubenden Trott zwischen Atelier und Kinderbelustigung zurück, aber am Samstagabend, als ich mich längst in Sicherheit wiegte, klingelte zu einer Unzeit das Telefon. Ich wusste sofort, dass sie es war.
„1994“, sagte sie.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte ich und beinahe hätte ich entschuldigend hinzugefügt: „Damals in Trier war ich sehr betrunken gewesen.“
„1983“, sagte sie.
Ich ließ den Hörer sinken, merkte, dass mein Mund offen stand, hob den Hörer langsam ans Ohr. „Was meinen Sie mit 1983?“
Sie antwortete: „Eine Wohnung ohne fließendes Wasser über einer Autowerkstatt.“
Mir stockte der Atem. Das, worauf sie, und da gab es keinen Zweifel, anspielte, hatte ich nur einem einzigen Menschen erzählt und der war seit Jahren tot. Ich zog mit der Fingerkuppe die sich verzweigenden Grate des Rauputzes nach. Dann fragte ich mit einer Stimme, die seltsam hohl klang: „Wer sind Sie?“
„Schau’n Sie aus dem Esszimmerfenster!“, sagte die Frau.
Draußen, auf der anderen Straßenseite, unter einer Laterne, stand jemand. Ich setzte die Brille auf, die vor meiner Brust baumelte. Unten auf dem Bürgersteig stand eine ältere Frau. Eine Frau in meinem Alter. Sie sah zu mir hoch. Sah hoch zu einem dicken, erschrockenen Nagetier, das am erleuchteten Fenster stand. In der einen Hand hielt sie ein Mobiltelefon, in der anderen ein großes Küchenmesser. Ich vollführte eine beschwichtigende Geste. Doch schon legte die Frau die Klinge an ihre Kehle und zog sie mit einer raschen, fast triumphierenden Bewegung zur Seite. Ich hörte, wie ihr Handy aufs Pflaster schlug, dann unterbrach ich die Verbindung, als ob das zu diesem Zeitpunkt noch Sinn gehabt hätte. Mit einer Behutsamkeit, als würde ich ein Ei in kochendes Wasser senken, legte ich den Hörer hinter mir auf die Anrichte, nahm die Brille ab und presste die Stirn an das Glas der Fensterscheibe.
Oft vergisst man, wie angenehm kühl Glas sein kann.