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DAS MUSEUM ZU KNOSSOS
ОглавлениеEr hatte die Geschichte nie niedergeschrieben. Oh, wie gut hätte sie in den Band Der Garten der Pfade, die sich verzweigen gepasst! Diese Geschichte nicht niederzuschreiben, war für ihn, wie eine Wanderung zu einem reizvollen Ort so lange aufzuschieben, bis man auf einmal feststellen muss, dass es diesen Ort seit Ewigkeiten nicht mehr gibt. Trotzdem kam es ihm vor, als hätte er die Geschichte irgendwann einmal geschrieben, in einem Traum, einem anderen Leben, als ein anderer, der doch er selbst war. Motivisch hätte sie sich nahtlos und nicht ohne Eleganz zwischen Die Lotterie in Babylon (nichts als Zufall gestaltet unser Dasein) und Die Bibliothek von Babel (die Welt ist eine Bibliothek) eingefügt. Es ist hier leider nicht der Ort, über die Gründe zu spekulieren, weshalb er nie Das Museum zu Knossos schrieb, einen im sachlichen Ton gehaltenen Bericht über jenes riesige Museum, von dem schon der Bildhauer Apollodoros in einem Fragment berichtet. Das Museum, erfährt man dort, „stellte Verschiedenes mit dem Anspruch der Vollständigkeit aus“. Offenbar kennzeichneten Tontäfelchen die Exponate. Eines Tages jedoch beschloss ein Fürst oder eine Gruppe von Fürsten, die erklärenden Tontäfelchen zu entfernen, damit „das Staunen ohne Grenzen“ sei. Von nun an war für die Besucher nicht mehr ersichtlich, wie die Künstler hießen, die für die Ausstellungsstücke verantwortlich zeichneten. Und auch das, was die Kunstwerke darstellten, befand sich von nun an im Bereich der Mutmaßung. Dennoch erfreute sich das Museum eines großen Zustroms von Besuchern, die zum Teil von weither angereist kamen. So erwähnt Apollodoros beispielsweise einen König mit Haut wie Lavagestein oder einen Krieger mit einem Bart, der „als lodernde Flamme“ vom Kinn auf den Brustpanzer hing, „ohne das Metall zu schmelzen“. Wie es zu der zweiten großen Veränderung des Museums kam, ist hingegen ungewiss. Jedenfalls tauchten plötzlich zahlreiche neue Ausstellungsstücke auf, über die niemand zu sagen vermochte, ob sie der Fürst oder ein geheimes Konsortium angekauft oder ob sie einige der Wärter absichtlich oder unabsichtlich platziert hatten. Der Gang durch das Museum war, so Apollodoros, „wie vor der Sphinx zu stehen und sie reden zu hören“, womit er bildhaft ausdrückt, dass es für den Besucher nicht mehr klar begreiflich war, ob er überhaupt ein Exponat bewunderte, wenn er staunend vor etwas innehielt. Des ungeachtet erfreute sich das Museum zu Knossos auch weiterhin größter Beliebtheit. Wir wissen von Aristoteles, dass er sich erst nach einer Reise nach Kreta reif dazu fühlte, seine Gedanken vor Publikum zu äußern. Doch die Geschichte ist hiermit noch nicht zu Ende. Ob die Wärter mit ihren Familien in die Räume des Museums einzogen und dort offene Feuer entfachten, um die sie allabendlich saßen und sangen, ist ungewiss. Ungewiss ist auch, ob das Konsortium eines Tages tatsächlich beschloss, die Mauern einzureißen. Vermutlich war es eher so, wie es bei Raimundus Lullus heißt: Die Mauern des Museums stürzten ein, die Räume wurden endlos. Was war die Folge? Der Besucher des Museums konnte seitdem nie sicher sein, ob er sich noch im Museum befand und, weitaus bedeutender, ob das, vor dem er andächtig staunend verharrte, ein Exponat war oder „etwas anderes“ (Robert Louis Stevenson). Und Reiche vergingen, Paläste wurden zu Trümmern, zu Staub, den der Wind davontrieb, dann vergessen, aber das Museum blieb bestehen. Dachte er als alter Mann an die nie aufgeschriebene Geschichte, sah er stets den letzten Satz, sah ihn so deutlich vor Augen, als hätte er ihn seiner Sekretärin diktiert: An jenem Abend im Jahr 1939 stieg ich aus der Straßenbahn, flanierte in der Müßigkeit des Ortsfremden durch die Stadt und blieb sinnend vor etwas stehen, von dem ich nicht wusste, ob es ein Mülleimer oder eine Zierurne oder etwas anderes war.