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IM KELLER DES UHRMACHERS

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Es war einmal ein kleines Märchen, das lebte mit seinen Eltern in einem prächtigen Haus in der Hauptstadt des Reiches. Wie bei allen jungen Märchen war seine Handlung verworren: Es handelte, so viel war gewiss, von einer schönen Prinzessin, die sich in zahlreichen Prüfungen bewähren muss, um als Belohnung einen tapferen Prinzen zum Gemahl nehmen zu dürfen. Allerdings war die Art der einzelnen Prüfungen unklar (das Märchen war ja noch sehr klein) und der tapfere Prinz war nicht einmal aufgetreten. Aber die Zeit, wussten die Eltern des Märchens, würde alles zum Guten wenden, denn so war das immer schon gewesen. Das Haus, in dem das kleine Märchen lebte, hatte keine Fenster (so wohnen Märchen am liebsten, weil sie so ganz bei sich sind), doch aus einem Grund, den keiner kannte oder kennen wollte, gab es gleichwohl ein Zimmer mit einem Fenster zur Straße. Natürlich war die Tür dieses Zimmers stets verschlossen. Der Vater des Märchens, ein sehr strenges Märchen mit religiöser Moral, und seine Mutter, ein eher weitschweifiges Märchen voller unlogischer Wendungen und alberner Rätsel, liebten ihr Kind so sehr, dass sie ihm verboten hatten, den Raum mit dem Fenster zu betreten. Aber eines Tages, als die Eltern Mittagsschlaf hielten, nahm das kleine Märchen den Schlüssel vom Haken, schlich sich hinauf, öffnete die Tür und sah aus dem Fenster. Draußen kämpften zwei Bettelknaben um eine Rübe. Erst schubsten sie sich, dann schlug der eine den anderen nieder, entwand ihm die Rübe und schritt triumphierend von dannen, wobei er mit Genuss das Diebesgut verzehrte. Am nächsten Tag schlich sich das Märchen erneut hinauf, um aus dem Fenster zu schauen: Draußen fuhr gerade ein Karren vorbei, auf dem mehrere in Lumpen gekleidete Gestalten lagen. Sie schliefen nicht, begriff das Märchen plötzlich, sondern sie waren tot und der Schinder brachte sie zum Anger. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sich die Eltern beim Tee. „Sie wirkt noch verworrener als sonst.“ Und Tag für Tag schlich sich das kleine Märchen von nun an zum Fenster und allmählich begann es sich zu verändern. Erst wuchs der schönen Prinzessin eine lange Nase, dann wurde sie dick und unförmig und schließlich war sie so hässlich, dass keiner sie mehr heiraten wollte. Nur ein entfernter Verwandter machte ihr noch den Hof, denn er war habgierig und wollte die Mitgift. Nach vielen weiteren Besuchen in dem verbotenen Raum mit dem Fenster zur Straße wurde die Prinzessin jähzornig und trat nach dem greisen Freier, der vor ihr kniete, und hatte nur Augen für den bösen Zauberer, der mit listigem Frettchenblick hinter dem Thron des Vaters hervorspähte. Und Tag für Tag schaute das kleine Märchen aus dem Fenster und schließlich wurde die Prinzessin sehr krank und lief lauthals Lieder singend, deren Texte allen Angst machten, durch das baufällige Schloss, in dem allerorten der Schimmel wucherte. Den Eltern blieb die Veränderung nicht unverborgen. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sie sich beim Tee. „Findest du nicht auch, dass sie immer weniger wie ein echtes Märchen aussieht?“ Doch als die Eltern das kleine Märchen zur Rede stellen wollten, floh es mit dem Schlüssel die Treppe hinauf und sprang, als man an die Tür des verbotenen Raums klopfte, mit einem Satz hinunter auf die Straße, um nicht ausgeschimpft zu werden. Beim Sprung brach es sich beide Beine. Zum Glück kam ein betrunkener Uhrmacher vorbei, nahm es mit zu sich nach Hause, schiente notdürftig die Schenkel und kettete es im Keller an. Hier musste es Tag und Nacht schwerste Arbeiten verrichten: Kartoffeln schälen, Kessel polieren und noch vieles andere, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Längst hatte das kleine Märchen keine erkennbare Handlung mehr. Eine fette, böse Frau (wohl die ehemalige schöne Prinzessin) prügelt sich mit einem fetten, bösen Mann (wohl der ehemalige tapfere Prinz) um eine gestohlene Rübe, ein dunkler Zauberer reitet auf seinem Mantel durch die kochende Zeit, ein Schloss oder eine Scheune stürzt ein, Blut strömt statt Wasser in den Flüssen des Reiches – und Kartoffeln wurden geschält und Kessel wurden poliert und noch vieles andere wurde getan, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Fast jeden zweiten Abend war der Uhrmacher so betrunken, dass er zügellos auf das Märchen einprügelte und es wegen seiner schief und krumm zusammengewachsenen Beine verhöhnte, auf denen es sich kaum zum Wassereimer schleppen konnte. Und so vergingen die Jahre. Längst hatten die Eltern das Märchen vergessen – und noch schlimmer: Keiner wusste, dass es angekettet im Keller des Uhrmachers sein kärgliches Dasein fristete. Und weitere Jahre vergingen. Als der Uhrmacher sich endlich totgesoffen hatte, blieb das Märchen weiterhin angekettet im Keller und wurde von Tag zu Tag dünner und dünner. „Wäre ich doch bloß nicht aus dem Fenster gesprungen“, sagte es mit schwacher Stimme und rang die Hände, „dann wäre ich heute ein schönes Märchen und man würde mich erzählen, aber nun kennt mich keiner und es ist mein Schicksal, hier in diesem Kellerloch elendigst zu verhungern und zu verdursten. Ach, hätte ich doch nie aus dem Fenster geschaut!“ Kaum hatte es das gesagt, kam der Tod und breitete mit einem Lächeln seinen Mantel aus. Und so starb das Märchen. Aber hätte es jemand gelesen oder erzählt bekommen, es wäre ohnehin nicht mehr verstanden worden.

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