Читать книгу Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek - Christopher Ross - Страница 11

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Knappe zwei Stunden waren sie im Kleinbus unterwegs. Julie saß hinter dem Steuer, neben sich Carol, die mit dem linken Arm auf der Lehne über den Nationalpark erzählte und anscheinend große Erfahrung darin besaß, eine Gruppe mit so unterschiedlichen Teilnehmern bei Laune zu halten. »Dieses Gebiet wurde vor allem wegen der vielen Tiere unter Naturschutz gestellt«, sagte sie, »es gibt Grizzlybären, Elche, Wölfe und kleine Mäuse, die sich im Winter unter dem Schnee verkriechen und dort in ihren Höhlen wohnen. Ich hoffe, keiner von Ihnen hat Angst vor Mäusen, denn manchmal graben sie sich auch nach oben und sehen nach, ob es die Welt noch gibt. Sie sind sehr neugierig.«

Julie lauschte den Worten der Rangerin nur mit halbem Ohr. Ihre Aufmerksamkeit galt der Straße, die von Schneeverwehungen überzogen war. Selbst der Allradantrieb des Kleinbusses richtete dort nur wenig aus. Wie schon mit dem Hundeschlitten musste sie teilweise Slalom fahren und konnte froh sein, dass sie in den zwei Stunden nur einem einzigen Fahrzeug begegnete. Ranger Erhart, der Polizeichef der Rangertruppe, hielt direkt neben ihr, und sie ließen beide die Fenster herunter. »Morgen, Ranger.«

»Morgen allerseits. Alles klar bei euch?«

»Ich glaube schon. Haben Sie die beiden Jungen verhaftet?«

Er lächelte. »Wir sind keine Unmenschen. Aber sie bekommen eine Anzeige und wahrscheinlich eine heftige Geldstrafe. Ihre Eltern waren nicht gerade erfreut, als sie kamen. Ich glaube nicht, dass die Jungs wiederkommen.«

»Wie sieht das Wetter am Denali aus?«, fragte Carol.

»Heute Mittag soll es aufklaren. Vielleicht habt ihr Glück.«

Sie verabschiedeten sich und fuhren weiter. »Sieht so aus, als bekämen wir heute den Gipfel zu sehen«, gab sie die gute Nachricht weiter. »Das können nur die wenigsten Wanderer im Winter von sich sagen.«

»Wie dicht kommen wir an den Berg ran?«, wollte Jacobsen wissen.

»Ungefähr zwanzig Meilen«, antwortete Carol, »aber bei klarer Sicht reicht das. Sie werden staunen, wie mächtig und gewaltig der Mount Denali ist.«

Josh sagte während der ganzen Fahrt kein Wort. Er saß auf der Rückbank und gab vor zu schlafen, hatte aber die Augen geöffnet, als Julie in den Innenspiegel blickte, und lächelte, als sich ihre Blicke begegneten. Er sieht wirklich gut aus, dachte sie, und wenn er sich nicht gerade damit brüstet, das nächste Iditarod zu gewinnen, könnte man ihn glatt sympathisch finden, sich vielleicht sogar auf ein Date mit ihm einlassen. Ich hätte ihn nicht so hart angehen sollen. Ich hatte ihm schließlich einen Korb gegeben, und es war sein gutes Recht, mit einer anderen auszugehen. Obwohl … wenn er seine Einladung zu einem Date wirklich ernst gemeint hätte, wäre er nicht in derselben Nacht mit dieser Frau ausgegangen. Ach was, ich mach mich noch verrückt!

Julie schüttelte den Kopf, um sich von ihren Grübeleien zu lösen, und konzentrierte sich wieder allein auf die Straße. Wenige Meilen vor dem Wonder Lake parkte sie den Kleinbus am Straßenrand, und sie stiegen aus. Noch war es dunkel, nur der Mond und die Sterne waren noch zu sehen, doch die mächtigen Massive des Mount McKinley, der am Horizont aus dem verschneiten Land ragte, waren auch in dem blassen Licht, das sich auf seinen Gletschern und Schneehängen spiegelte, deutlich zu erkennen. Selbst die Clarke-Brüder, die unterwegs ständig mit ihren Snowboard-Abenteuern angegeben hatten, waren bei seinem Anblick sprachlos und starrten schweigend auf den gewaltigen Berg. »Wow!« war das einzige Wort, das während der ersten Minuten fiel, und jedes weitere Wort hätte die andächtige Stimmung dieses Augenblicks nur unnötig gestört.

Nachdem sich alle an dem Berg sattgesehen hatten, räumten sie die Backpacks aus dem Kleinbus, und Carol verteilte Schneeschuhe an diejenigen Wanderer, die keine eigenen mitgebracht hatten. Kati Wilcott, die Frau mit den verweinten Augen, tat sich etwas schwer mit dem Anschnallen und nickte dankbar, als Julie ihr half. Auch Scott Jacobsen stellte sich nicht gerade geschickt an. Die Linakers und die Clarke-Brüder hatten ihre eigenen Schuhe dabei.

»Wir wandern im Gänsemarsch«, sagte Carol, »und bleiben möglichst beisammen. Ich weiß, dass wir erfahrene Wintersportler unter uns haben, die vielleicht auch allein in der Wildnis zurechtkämen …« Sie blickte die Linakers und auch die Clarke-Brüder an. »Aber der Denali National Park ist ein besonders tückisches Naturschutzgebiet mit Gefahren, auf die Sie vielleicht nicht vorbereitet sind. Das Wetter wechselt hier oft von einer Minute auf die andere, und die alten Jagdtrails der Indianer sind im Winter gar nicht und im Sommer nur für geübte Augen sichtbar. Ich arbeite schon seit einigen Jahren hier und sehe viel, was Sie nicht sehen können, auch wenn Sie routinierte Wanderer oder Sportler sind. Also bitte keine Alleingänge!« Sie sah einige besorgte Mienen und lächelte. »Keine Angst, wir sind hier nicht beim Militär, und ich werde keine Befehle brüllen. Wir wollen schließlich alle unseren Spaß haben. Außerdem würde ich vorschlagen, dass wir uns mit dem Vornamen anreden. Ich bin Carol, und meine Kollegin heißt Julie. Noch Fragen?«

Gary Clarke grinste frech. »Was ist mit Ihrer jungen Kollegin? Kennt die sich auch in der Wildnis aus? Mir scheint sie noch grün hinter den Ohren …«

Julie wollte schon antworten, doch Carol kam ihr zuvor: »Wenn Sie gesehen hätten, wie sie mit einem Hundegespann umgeht, würden Sie anders reden. Julie ist definitiv nicht grün hinter den Ohren, sonst hätten wir sie nicht eingestellt.«

»Ich hab gesehen, wie sie einen Hundeschlitten steuert«, mischte sich Josh ein. »So wie sie in Form ist, könnte sie beim Iditarod mitmachen. Und auf Schneeschuhen laufen kann sie auch.« Er blickte ein wenig abfällig auf die brandneuen Schneeschuhe der Brüder hinab, wahrscheinlich die teuersten, die es in den großen Sportgeschäften gab. »Die Dinger sind keine Snowboards.«

»So schlau sind wir auch«, erwiderte Gary, »aber glaub bloß nicht, dass wir damit nicht umgehen könnten.« Er war sichtlich eingeschnappt. »Pass lieber auf, dass du nicht im Schnee landest. Oder bist du der Wildnis-Guru?«

Josh gefiel der Ausdruck. »Und was für einer! Ich bin jeden Tag in der Wildnis unterwegs. Und falls es dir noch niemand gesagt hat: Ich werde das nächste Iditarod gewinnen. Du sprichst mit einem angehenden Champion!«

»Ach nee …«

Wie die streitsüchtigen Jungen in der Junior High, dachte Julie, jeder will der Größte und Beste sein. Und in Gruppen waren solche Jungs noch schlimmer. Wie ihre Huskys versuchte jeder der Leithund zu sein und die anderen auf die Plätze zu verweisen. Julie war dankbar, dass Josh und Carol für sie Partei ergriffen und sie sich nicht selbst mit Gary anlegen musste. Aber was war in Josh gefahren, dass er dabei gleich so von ihr schwärmte, noch dazu vor allen anderen? Und was dachte er sich dabei, hier schon wieder seine selbstverliebten Reden zu schwingen? Glaubte er vielleicht, sie würde das cool finden?

Carol machte dem Geplänkel ein Ende, indem sie über die Böschung kletterte und als Erste in den Tiefschnee stieg. Mike und Ruth Linaker folgten ihr, dahinter Scott Jacobsen, die Clarke-Brüder, Josh und Kati Wilcott. Julie bildete den Schluss der kleinen Gruppe. Sie beobachtete schon nach wenigen Schritten, wie sicher und gleichmäßig sich die Linakers bewegten, und dass auch die Clarke-Brüder eine gute Figur machten, sehr zum Leidwesen von Josh, der sich sichtlich schwertat und von Glück sagen konnte, dass er hinter den Brüdern lief. Jacobsen strengte sich an, wirkte beinahe verbissen, und Kati Wilcott stolperte mehr, als dass sie lief, und stürzte schon nach ein paar Schritten.

Julie half ihr auf und hielt sie eine Weile fest. Kati machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment losheulen. »Was ist los mit Ihnen, Kati?«, fragte Julie besorgt. »Haben Sie Kummer?« Und als Kati energisch den Kopf schüttelte, ihr Blick aber etwas ganz anderes verriet: »Sie haben noch nie auf Schneeschuhen gestanden, stimmt’s? Wollen Sie wirklich mitkommen?«

»Ich will weg!«, flüsterte Kati. »Ich will nur weg!«

Julie ließ sie los und wechselte einen raschen Blick mit Carol, die stehen geblieben war und besorgt auf Kati blickte. »Alles okay bei euch?«, rief sie.

»Kati muss sich erst an die Schneeschuhe gewöhnen«, antwortete Julie.

»Wir fangen langsam an«, rief Carol.

Nach einer Weile kam Kati besser zurecht. Sie war zwar immer noch etwas wacklig auf den Beinen, ging aber breitbeiniger und stieß nicht mehr mit den Schneeschuhen gegeneinander. Ihre Stimmung besserte sich nicht. Sie ging mit gesenktem Kopf, hatte kaum Augen für ihre Umgebung und zuckte lediglich die Achseln, als Julie sie fragte, ob sie ein Problem hätte und sie ihr irgendwie helfen könnte. Wie ein Fremdkörper wirkte sie in der Gruppe, ähnlich wie Jacobsen, der ebenfalls schweigend marschierte, aber mehrmals stehen blieb und in Ehrfurcht vor dem Mount McKinley zu erstarren schien. Erst wenn einer der Clarke-Brüder ihm auf den Rücken klopfte, ging er weiter, ohne sich um das Gelächter der jungen Männer zu kümmern.

Ein seltsamer Haufen, überlegte Julie. Sie hatte sich die Wanderung einfacher vorgestellt, hätte nicht gedacht, wie anstrengend es sein würde, sich um Aufschneider wie die Clarke-Brüder, eine empfindliche Frau wie Kati Wilcott und einen geheimnisvollen Mann aus Chicago zu kümmern. Auch auf Josh hätte sie gern verzichtet. Mit seinem wankelmütigen Verhalten hatte er sie vollkommen aus dem Konzept gebracht, und in ihr wuchs das beängstigende Gefühl, es könnte während der langen Wanderung noch schlimmer werden. Lediglich die Linakers verhielten sich normal, erfahrene Wanderer und Sportler, die vor allem gekommen waren, um die grandiose Natur zu genießen.

Wie großartig die Wildnis südlich des Wonder Lake war, zeigte sich nach ungefähr einer Stunde, als die Sonne aufging und die Berge und Täler in pinkfarbenes Licht tauchte. Als hätte es die Natur darauf abgesehen, sie zu Beginn ihrer Wanderung mit einem gewaltigen Schauspiel zu verwöhnen, begann der Schnee zu glühen, die Schwarzfichten leuchteten dunkelgrün, und die Felswände der fernen Berge schienen sich im rötlichen Dunst aufzulösen. Ein Adler flog krächzend über sie hinweg und suchte nach Beute, schien unbeeindruckt von dem Naturschauspiel, das die Wildnis des Nationalparks der Wirklichkeit entrückte und sie in ein flimmerndes Fantasieland verwandelte.

Die Wandergruppe verharrte auf einem verschneiten Hügel und genoss die Veränderung sprachlos, viel zu beeindruckt, um etwas zu sagen oder auch nur ein »Wow!« auszustoßen. Nur ein leiser Seufzer war zu hören, als der Wind die letzten Wolken vom Gipfel des Mount McKinley vertrieb, und sich der pinkfarbene Schleier des beginnenden Tages über die felsigen Wände legte.

Erst hier, aus ungefähr zwanzig Meilen Entfernung, wurde deutlich, was für ein gewaltiger Berg der Mount McKinley war. Nicht umsonst hatten ihn die Indianer »Denali« getauft, den »Hohen«. Majestätisch und würdevoll erhob er sich aus der Alaska Range, umgeben von zahlreichen anderen Gipfeln, die alle vor seiner Größe verblassten. Ein König und seine Diener, die ihm aber lediglich den weißen Umhang halten durften. Der Herrscher der Wildnis.

Besonders Jacobsen schien der Berg in seinen Bann gezogen zu haben. Ohne sich um die anderen zu kümmern, stapfte er davon, den Blick unaufhaltsam auf den fernen Berggipfel gerichtet, und bevor ihn einer der anderen zurückhalten konnte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte einen Hang hinab.

Julie lief ihm nach und zog ihn aus dem Schnee. »Haben Sie sich wehgetan, Scott?«, fragte sie besorgt. Er blickte an sich herunter und klopfte sich scheinbar geistesabwesend den Schnee von seinem Anorak. »Alles okay? Wo wollten Sie denn hin? Wir müssen in die andere Richtung.«

Jacobsen reagierte nicht.

»Scott? Sind Sie okay?«

Er schien aus einem Traum zu erwachen und blickte sie überrascht an. »Nein … das heißt, ja … alles in Ordnung. Ich wollte mir nur den Berg ansehen.« Er ließ sich von ihr den Hügel hinaufhelfen und lächelte verlegen. »Ich muss wohl noch ein wenig üben. Seltsame Dinger, diese Schneeschuhe …«

»Keine Alleingänge, Scott!«, empfing ihn Carol mit ernster Miene. Ihre Stimme hallte in der klaren Luft. »Stellen Sie sich einfach vor, wir würden durch die City von Chicago laufen. Da müssten wir auch zusammenbleiben.«

»Sorry«, entschuldigte er sich. »Ich wollte nur mal … sorry.«

Gegen Mittag überquerten sie den vereisten McKinley River und kämpften sich über einige vereiste Hügel weiter nach Süden. Weil es dort kaum Bäume gab, und ihnen der frostige Wind von den Bergen direkt ins Gesicht blies, kamen sie nur langsam voran. Besonders Kati hatte es schwer, das Gleichgewicht zu halten, und stürzte mehrmals, hatte jedes Mal Tränen in den Augen, wenn Julie ihr aufhalf, schüttelte aber heftig den Kopf, wenn Julie ihr anbot, sie zum Kleinbus zurückzubringen. »Noch können Sie umkehren, Kati! Niemand wird Ihnen böse sein, wenn Sie aufgeben. Viel schlimmer wäre es, wenn Sie unterwegs zusammenbrechen und wir sie tragen oder einen Hubschrauber rufen müssen. Seien Sie ehrlich, Kati! Warum quälen Sie sich so? Man sieht Ihnen doch an, wie Sie leiden. Sie sind keine Wanderin, stimmt’s?«

Kati sackte in den Schnee und begann erneut zu weinen. Wie eine Bettlerin hockte sie im tiefen Schnee, das Gesicht und die Augen von der Kälte und den Tränen gerötet, und hielt sich an Julies Beinen fest. Die anderen waren bereits weitergegangen und merkten erst jetzt, dass die beiden zurückblieben.

»Ich will nicht mehr zurück!«, schluchzte Kati. »Lieber sterbe ich hier oben, als dass ich noch mal zu diesem Scheusal zurückkehre!« Sie weinte jetzt ungehemmt, schniefte mehrmals und nickte dankbar, als Julie ein Taschentuch aus ihrer Anoraktasche kramte. Sie schnäuzte sich und heulte gleich wieder.

»Beruhigen Sie sich, Kati.« Julie nahm an, dass Kati vor ihrem Mann oder ihrem Freund davongelaufen war, und wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie blickte Hilfe suchend auf Carol, die bei den anderen Wanderern geblieben war. »Sie können nicht vor Ihren Problemen davonlaufen«, fuhr sie fort und kam sich dabei wie eine besserwisserische Mutter vor. »Schon gar nicht in dieser Wildnis! Sie bringen sich nur unnötig in Gefahr. Wir haben eine lange Wanderung vor uns, Kati, die halten Sie niemals durch, wenn Sie sich weiter so verrückt machen.« Sie zog Kati vom Boden hoch und nahm sie in die Arme. »Es wird alles wieder gut, Kati! So schlimm kann es doch gar nicht sein.«

»Ich kann aber nicht zurück.« Kati heulte wie ein kleines Mädchen. »Er … er hat mich geschlagen, und als … als ich gesagt habe, dass ich … ich mich von ihm trennen will, hat er … ich kann nicht zu ihm zurück … ich kann nicht!«

Julie fühlte sich an die Scheidung ihrer Eltern erinnert, obwohl ihr Vater ihre Mutter niemals geschlagen hatte. Dafür hatten sie Schimpfworte in den Mund genommen, die ihr heute noch die Röte ins Gesicht trieben. »Warum gehen Sie nicht zu Ihren Eltern? Oder zu einer Freundin? Haben Sie eine Freundin?«

»Becky … in Fairbanks. Ich bin … bin weggelaufen …«

»Gehen Sie zurück, Kati. Sprechen Sie sich mit ihr aus. Ich war auch immer bei meiner Freundin, wenn ich Zoff mit meinen Freunden hatte. Es nützt doch nichts, vor Ihrem Mann wegzulaufen. Ihre Freundin hilft Ihnen bestimmt, das alles durchzustehen. Hier draußen quälen Sie sich doch nur unnötig. Sie haben doch gar keine Lust, auf Schneeschuhen durch die Wildnis zu stapfen. Sie wollen nur weg, oder?«

»Er ist nicht mein Mann. Er ist mein … mein Freund.«

»Gehen Sie zu Ihrer Freundin. Soll ich Sie zurückbringen?«

Sie hörte auf zu weinen und schnäuzte sich noch einmal. »Ja … ja, bitte!«

Carol hatte sich von der Gruppe gelöst und die letzten Worte mitgehört. Ihrer Miene war anzusehen, dass sie auf einen solchen Zwischenfall gefasst gewesen war. Sie wechselte einen verständnisvollen Blick mit Julie und zog ihr Funkgerät aus der Tasche. »Zentrale, bitte kommen! Ranger Schneider hier. Wir sind ungefähr zwei Meilen südlich des McKinley Rivers auf dem Indianerpfad und haben eine …« Sie suchte nach dem passenden Wort. »… eine Kranke hier. Kati Wilcott. Körperlich gesund, aber starke Erschöpfungserscheinungen. Schicken Sie uns einen Ranger. Ranger Wilson kommt Ihnen mit der Kranken entgegen. Over.« Sie steckte das Funkgerät weg und wandte sich an die noch schniefende Frau. »Keine Angst, Kati. Es entstehen keine zusätzlichen Kosten für Sie. Der Ranger bringt Sie zu Ihrem Wagen, okay?«

»Okay.« Sie flüsterte fast. »Und vielen Dank. Ich wollte nicht …«

»Schon gut, Kati. Alles Gute für Sie.« Sie legte eine Hand auf Katis linke Schulter und blickte Julie an. »Wir warten unterhalb des Felshanges auf dich.« Sie deutete auf eine keilförmige Felswand, die wie eine überdimensionale Scherbe oberhalb einiger Hügel aus dem Schnee ragte. Das Tageslicht war inzwischen noch heller geworden und ließ den Schnee glänzen, der sich in der zerklüfteten Wand gesammelt hatte. »Dort hätten wir sowieso gerastet. Wenn du dich beeilst, könntest du in zwei Stunden dort sein.« Sie klopfte auf die Tasche mit ihrem Funkgerät. »Melde dich, wenn irgendwas schiefläuft!«

»O. k.«, gehorchte Julie. »Ich beeile mich, Carol.«

Der Rückweg war weniger anstrengend, als Julie befürchtet hatte. Die Gewissheit, das ungeliebte Abenteuer bald hinter sich zu haben und auf dem Weg zu ihrer Freundin zu sein, schien neue Kräfte in Kati freizusetzen. Sie marschierte schneller und sicherer und stürzte nur einmal, als sie mit ihrem rechten Schneeschuh über einen hervorstehenden Felsbrocken stolperte. Noch waren die Spuren ihrer Wandergruppe im Schnee zu sehen, und der Schnee war teilweise so festgetreten, dass sie sich nicht mehr so anstrengen mussten wie am Vormittag. Im trüben Licht wanderten ihre Schatten über den Schnee.

Erhart erschien mit dem Hundeschlitten der Rangerstation am Wonder Lake. Er grüßte sie mit einem sparsamen Lächeln, das er sich wahrscheinlich von irgendeinem Westernheld abgeguckt hatte. »Ich hab Ihnen ein paar Decken mitgebracht«, sagte er zu Kati. Er half ihr, die Schneeschuhe abzuschnallen, und trug sie zu seinem Schlitten. »Das erinnert mich an einen alten John-Wayne-Film«, erzählte er Julie, als Kati eingepackt auf der Ladefläche saß. »›North to Alaska‹ … schon mal gesehen? Also, da packte der Duke diese schöne Lady und trug sie quer durch die Stadt zu seinem Schlitten … den Duke, so nannten sie John Wayne, den größten Westernheld von allen …«

»… der eine Lady bestimmt nicht warten ließ. So long, Ranger.«

»So long, Missy!«, ahmte Erhart die heisere Stimme des legendären Schauspielers nach. Er stieg auf seinen Schlitten. »Und grüßen Sie Carol von mir!«

»Mach ich. Alles Gute, Kati!«

Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek

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