Читать книгу Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek - Christopher Ross - Страница 7

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Die Happy Loon Lodge von »Queen« Elizabeth McCormick lag ungefähr zehn Meilen östlich von Fairbanks an einer Seitenstraße des Chena Hot Springs Highway. Das zweistöckige Blockhaus ragte am Ufer eines kleinen Sees zwischen den Bäumen empor, weit genug vom Highway entfernt, um den Gästen das Gefühl zu geben, ihren Urlaub in der Wildnis zu verbringen.

Queen Elizabeth war um die fünfzig und joggte jeden Morgen eine Stunde durch den Wald, auch im Winter, wenn die Temperaturen weit unter null lagen. Selbst jüngere Gäste, die sich ihr beim Frühsport anschlossen, hatten manchmal Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Sie war gerade vor dem Haus und nahm einige Holzscheite von dem Brennholzstapel neben der Tür, als Julie den Schlitten bremste und von den Kufen stieg. »Beeil dich!«, rief sie mit gedämpfter Stimme, damit man sie im Haus nicht hörte. »Wir haben einen Gast, einen jungen Mann aus Chicago, der fragt mir schon den ganzen Nachmittag ein Loch in den Bauch. Ob er die richtige Kleidung für eine Wintertour dabeihat, ob er Angst vor Wölfen haben muss, ob es schwer ist, auf Schneeschuhen zu laufen, was Touristen so fragen. Wäre nett, wenn du mich ablösen könntest, während ich das Essen fertig koche. Den Tisch hab ich schon gedeckt.«

Julie verspürte keine große Lust, sich mit einem Fremden zu unterhalten, sie hätte lieber ihren Koffer gepackt und den Schlitten auf ihrem Pick-up festgeschnallt, konnte ihrer Wirtin aber schlecht einen Wunsch abschlagen. »Mache ich«, versprach sie. »Sobald ich mit den Huskys fertig bin, nehme ich mir den Knaben vor.« Sie verwöhnte Chuck mit einem freundschaftlichen Klaps und befreite die Hunde von ihren Geschirren. »Gibt’s heute wieder Elcheintopf?«

Elizabeth lachte. »Mit viel Fleisch und wenig Kartoffeln, wie du ihn magst. Und gegen ein Glas Limonade hast du sicher auch nichts einzuwenden.« Auf ihre selbst gemachte Limonade war die Wirtin besonders stolz.

»Ganz nach meinem Geschmack.«

Die Aussicht auf ein schmackhaftes Abendessen ließ sie noch schneller arbeiten. Sie fütterte die Hunde mit dem Futtermix, den sie am liebsten mochten, mischte ordentlich Wasser unter den getrockneten Lachs und den Reis, damit sie genug Flüssigkeit bekamen, und redete ihnen gut zu, bevor sie ins Haus ging: »Dass ihr mir keinen Ärger macht! Keine Streitereien und keine Jaulkonzerte, hört ihr? Wir müssen morgen früh um vier Uhr los, und wer weiß, was uns im Nationalpark noch alles erwartet.«

Nachdem sie ihren Parka, die Mütze und die Handschuhe ausgezogen und sich ein wenig frisch gemacht hatte, ging sie ins Esszimmer und begrüßte den Gast. Er stand mit einem Glas Limonade am Fenster und stellte sich als Scott Jacobsen vor, ein schlanker Mann um die dreißig, in dessen Augen eine wilde Entschlossenheit zu erkennen war. Aber vielleicht sahen alle Männer in Chicago so aus, dachte Julie. Er trug Jeans, Sweatshirt und Laufschuhe und sprach mit jenem nasalen Dialekt, den sie aus alten Gangsterfilmen kannte.

»Sie sind eine … wie sagt man? Eine Musherin?«, begann er die Unterhaltung.

»Ich fahre einen Hundeschlitten«, bestätigte sie, »das tun einige Frauen hier oben im Norden.« Sie lächelte. »Wir sind nicht so zart besaitet wie die Frauen in Chicago, und zum Shoppen gibt es hier auch wenig Gelegenheit.«

Jacobsen lächelte, und für einen Moment verschwand sogar die Entschlossenheit aus seinen Augen. »Die Frauen in Chicago sind auch nicht gerade zimperlich, weder im Büro noch im Einkaufscenter, aber wenn es um Sport geht, klettern sie auf Laufbänder oder Ergometer oder joggen am See entlang. Mit Hundeschlitten haben die wenig im Sinn. Obwohl wir Schnee genug hätten.«

»Fitnesscenter brauchen wir hier nicht«, erwiderte Julie, »wir haben Natur genug. Jedes Mal, wenn ich mit meinen Hunden losziehe, denke ich, wir sind im Paradies gelandet. Wer hier nicht vor die Tür geht, ist selbst schuld.«

»Bei vierzig Grad minus?«

»So kalt wird es nur an wenigen Tagen. Im Winter sind es meist zwischen zwanzig und dreißig Grad minus, aber wenn man sich richtig anzieht, können die einem wenig anhaben. Ich bin auch im Winter die meiste Zeit draußen.«

Er nahm einen Schluck von seiner Limonade und blickte sie forschend an. Plötzlich war auch wieder dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen, als würde er von irgendetwas getrieben. Um seinen Mund zuckte es nervös. »Ist es eigentlich schwer, auf Schneeschuhen zu laufen?«, fragte er unvermittelt.

»Ein wenig Übung braucht man dazu schon«, antwortete sie. »Das ist so wie beim Radfahren. Ein paarmal fällt jeder hin, bevor es einigermaßen klappt.« Sie wusste nicht so recht, was sie von dem Mann halten sollte. »Sind Sie deswegen nach Alaska gekommen? Um auf Schneeschuhen zu laufen?«

Er lächelte wieder. »Langlaufen kann ich nicht, mit einem Hundeschlitten kann ich auch nicht umgehen, und Snowmobile sind im Nationalpark nicht erlaubt, also werde ich mir wohl oder übel Schneeschuhe anschnallen müssen, wenn ich den Mount McKinley aus der Nähe sehen will. Ich habe mich für eine Schneeschuhwanderung angemeldet, am kommenden Wochenende.«

»Sie wollen nach Denali?« Elizabeth war mit dem Eintopf im Zimmer erschienen und hatte die Antwort von Jacobsen mitbekommen. »Dann wird Ihnen wohl Julie das Schneeschuhlaufen beibringen. Sie fängt morgen als Rangerin in Denali an.« Sie stellte die Schüssel mit dem Eintopf auf den Tisch. »So, und jetzt setzen Sie sich bitte! Es gibt Elcheintopf mit Kartoffeln.«

Jacobsen staunte. »Sie arbeiten als Rangerin? Am Mount McKinley?«

»Wir nennen ihn Denali«, verbesserte ihn Julie, während sie sich setzte, »wie die Indianer. Sogar den Nationalpark haben sie umbenannt, schließlich gehörte das ganze Land mal den Indianern.« Sie schob ihm die Schüssel hin. »Ich mache ein Praktikum im Park. Ob ich dauerhaft dort arbeiten kann, wird sich noch klären. Denali ist ein begehrter Park, da wollen viele Ranger hin.«

»Kommt man auf der Wanderung nahe an den Berg ran?«

Julie wartete, bis sich Elizabeth genommen hatte, und griff nach der Schüssel. »So richtig nahe kommen nur Bergsteiger an den Denali ran«, erklärte sie, »und auch die tun sich schwer. Der Berg mag nicht so hoch wie der Mount Everest sein, aber er kommt einem wesentlich größer vor, sagen die Bergsteiger, die am Himalaya gewesen sind, weil er wie ein einsamer Riese über der Alaska Range thront. ›Wie ein König im weißen Mantel‹, hat mal jemand geschrieben. Das Wetter dort oben ist unberechenbar, und selbst unterhalb des Berges wechselt es so schnell, dass man sogar im Sommer jederzeit von einem Schneesturm überrascht werden kann. Dann bleibt wenig Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.« Sie kam sich plötzlich wie eine Lehrmeisterin vor. »Nein, auf einer Wanderung halten wir Abstand zum Berg. Viel wichtiger ist, ob man ihn überhaupt sehen kann. Zurzeit sieht das Wetter gut aus.«

»Und bleibt hoffentlich so bis Samstag.« Er aß von dem Eintopf und nickte der Wirtin anerkennend zu, wandte sich aber gleich wieder an Julie. »Ich habe gelesen, die Wickersham Wall wäre die schwierigste Route auf den Berg.«

Julie kaute genüsslich. »Sie haben sich gut informiert, Mister Jacobsen. Ich habe in letzter Zeit auch viel über den Berg gelesen. Die Nordroute über die Wickersham Wall ist tatsächlich am gefährlichsten. Dort sind schon etliche Bergsteiger gescheitert, und manche sind in der Wand sogar tödlich verunglückt. Aber keine Angst, auf der Wanderung kommen Sie der Wand nicht allzu nahe. Auch ich habe sie nur einmal aus einem Hubschrauber gesehen.«

»Dann bin ich beruhigt«, erwiderte Jacobsen. Sein Lächeln wirkte diesmal aufgesetzt, als würde er Julie nur etwas vormachen, und sie fragte sich unwillkürlich, was einen Mann aus Chicago so am Mount McKinley interessierte. Hatte er geglaubt, die Wanderung würde auf den Gipfel führen? So naiv konnte er doch nicht sein, obwohl sie erst kürzlich einen Film über den Mount Everest gesehen hatte. Inzwischen stiegen sogar blutige Anfänger auf den Berg, auch weil Veranstalter mit dem falschen Ehrgeiz dieser Leute ihre Geschäfte machten, und im Fernsehen wurde alle paar Monate über den Tod eines dieser leichtsinnigen Abenteurers berichtet. Am Mount McKinley sorgten die Ranger dafür, dass nur erfahrene Bergsteiger auf den Gipfel stiegen.

»Warum interessieren Sie sich so für den Berg?«, fragte sie.

»Ich?« Die Frage schien ihn zu verwirren. »Ich hab mich schon immer für die Berge interessiert. Bevor meine Eltern nach Chicago zogen, wohnten sie in Montana an der kanadischen Grenze. Da gab es einige Berge, an denen man sich beweisen konnte. Mein Vater war ein begeisterter Bergsteiger, keiner, der sich an einen Achttausender wagte, aber auch kein Leichtgewicht. Leider kam er später bei einem Unfall ums Leben. Seitdem arbeite ich mich durch seine Bibliothek. Bei meiner Mutter stehen über hundert Bergsteigerbücher in den Regalen. Die Bücher über Alaska haben mir besonders gefallen. Der Mount McKinley wäre der gewaltigste Berg der Erde, steht in einem der Bücher, deshalb wollte ich ihn unbedingt aus der Nähe betrachten.«

Nach dem Essen rettete sich Julie, indem sie der Wirtin beim Abräumen half, und atmete erleichtert auf, als Jacobsen sich verabschiedete und in seinem Zimmer verschwand. »Ich dachte schon, der hört gar nicht mehr auf«, sagte sie leise. »Der klingt ja fast so, als wollte er den Denali besteigen. Das fehlte uns noch … ein Greenhorn aus Chicago, der sich in den Bergen verirrt. Bin ich froh, dass ich auf der Wanderung nicht dabei bin. Um Kindermädchen für so einen zu spielen, hab ich mich bestimmt nicht zu den Rangern gemeldet. Da bleibe ich lieber im Tal und kümmere mich um die Huskys.«

Um vier Uhr früh brach Julie auf. Sie stellte den Koffer mit den wenigen Habseligkeiten, die sie bei den Rangern brauchte, und die Plastikwanne mit den Lebensmitteln auf den Beifahrersitz ihres Pick-ups und blieb überrascht stehen, als Elizabeth im Morgenmantel aus ihrem Schlafzimmer kam und ihr eine Schachtel Pralinen und einen Umschlag in die Hand drückte. »Ich hab deinen Lohn nach oben aufgerundet, falls dich die Ranger an der kurzen Leine halten. Und die Pralinen sind aus der Schweiz … was ganz Besonderes.«

»Sie waren sehr gut zu mir, Elizabeth.« Julie umarmte die Wirtin und bedankte sich noch einmal, dann verließ sie das Haus und band ihre Huskys los. Sie warteten bereits ungeduldig, spürten natürlich, dass heute ein ganz besonderer Tag war, auch für sie. Julie lud einen Hund nach dem anderen in die vergitterten Verschläge, die auf die Ladefläche ihres Pick-ups geschraubt waren und ihn wie einen Camper aussehen ließen, nur dass in dem Aufbau keine Menschen, sondern Tiere wohnten. Den Huskys machten die engen Verschläge nichts aus. Sie wussten ganz genau, dass Julie sie bald wieder herauslassen würde und in der Freiheit eine besondere Belohnung auf sie wartete. Den Schlitten hatte Julie bereits am Abend auf den Aufbau geschnallt.

Auf der Straße nach Fairbanks begegnete sie keinem einzigen Wagen. Über Nacht waren einige dunkle Wolken aufgezogen, und es hatte leicht zu schneien begonnen, eher ein Vorteil für Julie, weil die Reifen ihres Pick-ups besseren Halt auf der ansonsten sehr glatten Straße fanden. Das Licht der Scheinwerfer spiegelte sich auf dem Schnee und vermischte sich mit dem blassen Licht des Vollmonds, der sich zwischen zwei Wolken geschoben hatte. Julie hatte kein Radio laufen, sie gehörte nicht zu denen, die ständig berieselt werden mussten, und konzentrierte sich lieber auf das Knarren der Scheibenwischer, das dumpfe Geräusch, das die Reifen im Neuschnee verursachten, und das Jaulen ihrer Huskys, die spürten, dass ein Ortswechsel bevorstand.

Auch Fairbanks lag noch wie ausgestorben unter dem nächtlichen Himmel. Die Straßenlampen bildeten helle Tupfer in dem Schneetreiben und ließen die Flocken wie glitzerndes Konfetti aussehen, und selbst auf dem breiten Highway waren nur vereinzelte Wagen zu sehen. Ein Räumfahrzeug kam ihr entgegen und schleuderte nassen Schnee gegen ihre Windschutzscheibe, traf wohl auch einige der Hunde, ohne dass sich einer der Huskys beklagte. Die Scheibenwischer brauchten einige Takte, um ihr wieder die volle Sicht zu ermöglichen. Zum Glück hielt sich das Schneetreiben noch im Rahmen.

In der Innenstadt blickte sie an dem klobigen Bau des Fairbanks Memorial Hospitals empor. Die Fenster der Operationssäle waren hell erleuchtet, und wenn ihr Vater heute Nachtdienst hatte, beugte er sich bestimmt gerade über einen Patienten. Sie hatte sich schon vor zwei Tagen von ihm verabschiedet. In der Cafeteria des Krankenhauses hatte er sie zu einem Cappuccino eingeladen und ihr einen Schein zugesteckt, dann war er gleich wieder verschwunden, eine wichtige Operation, bei der es wie immer um Leben und Tod ging. Ihr Vater neigte zur Theatralik, wenn er über seinen Beruf berichtete. »Mach deinem Vater keinen Kummer«, sagte er zum Abschied, »pass auf dich auf!«

Ihr Vater hatte es noch nie verstanden, Gefühle zu zeigen. Vielleicht ein Grund dafür, dass Julies Mutter davongelaufen war. »In unserem Beruf musst du dich abgrenzen können«, hatte er schon mehrmals gesagt, »wenn du dich zu sehr auf deine Patienten einlässt, hast du schon verloren. So viel Schmerz könntest du nicht ertragen.« Leider übertrug er diesen Leitspruch auch auf sein Privatleben. Er brachte es nicht fertig, seine Gefühle zu zeigen, und schreckte sogar davor zurück, sie zu umarmen, obwohl er sie mehr als alles andere liebte. Nicht nur auf seinem Schreibtisch stand ihr Foto, er trug sogar eines in seinem Arztkittel spazieren. »Du bringst mir Glück«, sagte er.

Eine der wenigen Ampeln, die auch um diese Zeit eingeschaltet waren, sprang auf Rot und zwang sie anzuhalten. Sie ließ ihren Blick über die Straße wandern. Gegenüber lag eine der größten Tankstellen der Stadt, ein hell beleuchteter Flachbau mit vier überdachten Fahrspuren und einem Lokal, vor dem mehrere Trucks parkten. Doch sie hatte nur Augen für den jungen Mann im gelben Parka, der aus einem Pick-up wie ihrem stieg und seinen Wagen betankte. »Das ist Josh!«, flüsterte sie überrascht. »Was macht der denn hier?«

Sie wechselte die Fahrspur, um an der nächsten Kreuzung umdrehen und zu ihm fahren zu können, und war bereits dabei, das Fenster herunterzulassen, als die Beifahrertür seines Wagens aufsprang, und eine junge Lady in einer modischen Pelzjacke ausstieg. Unter der Jacke schaute ein rotes Kleid hervor. Sie trug pelzbesetzte Stiefel und lief geduckt durch das leichte Schneetreiben zum Tankstellengebäude, wahrscheinlich, um dort die Toilette zu benutzen.

»Ach nee!«, flüsterte sie. »Mich zur Pizza einladen, und kaum spure ich nicht so, wie du willst, hast du schon eine andere an der Angel!« Sie ließ wütend das Fenster hoch. »Wer ist das? Die Beautyqueen vom College?«

Sie duckte sich rasch, als Josh in ihre Richtung blickte, und spähte vorsichtig über das Lenkrad hinweg. Im hellen Licht der Tankstelle war sein Gesicht deutlich zu sehen. Es war Josh, daran gab es keinen Zweifel! Der Mistkerl hatte sich eine andere gesucht, eine aufgedonnerte Tussi, und mit ihr gleich die halbe Nacht durchgefeiert. Sein gutes Recht, wenn man es nüchtern sah, immerhin hatte sie ihn abblitzen lassen, aber einen besonderen Eindruck schien sie nicht auf ihn gemacht zu haben, sonst hätte er bestimmt anders gehandelt.

Die Ampel schaltete auf Grün, und sie machte, dass sie weiterkam. Im Seitenspiegel beobachtete sie, wie Josh auf die verlassene Straße lief und ihr nachblickte. Vor lauter Schreck verriss sie das Steuer und geriet ins Schleudern, prallte mit dem linken Vorderrad gegen den Bordstein und konnte von Glück sagen, dass sie allein auf der Straße war und ihr kein anderer Wagen entgegenkam. Nur mühsam bekam sie ihren Pick-up wieder unter Kontrolle und fuhr langsam weiter, den jungen Mann noch immer im Spiegel.

Als die Straße einen Bogen machte und er aus ihrem Blickfeld verschwand, atmete sie erleichtert auf. Sie beschleunigte vorsichtig und bog auf den Highway nach Süden, die Straße, die zum Denali National Park und dann weiter nach Anchorage führte. Gegen ihre Angewohnheit stellte sie das Radio an und schaltete auch nicht ab, als einer dieser unsäglichen Top-40-Hits erklang, der ihr schon seit einigen Wochen auf die Nerven ging. Immer wenn sie das Radio einschaltete oder in einen Raum kam, in dem ein Radio lief, war dieser Song zu hören: der erste Hit eines »American Idol«-Gewinners. Genau das Richtige, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

Auf dem Highway war etwas mehr Verkehr. Etliche Trucks begegneten ihr und deckten sie jedes Mal mit dem Schnee ein, der unter ihren Rädern nach oben spritzte. Ihre Scheinwerfer blendeten. Eine Weile war sie gezwungen, hinter einem Räumfahrzeug zu fahren, auch um gegen den böigen Wind geschützt zu sein, der plötzlich über den Highway blies, dann überholte sie und blieb in den tiefen Spuren, die ein Truck in den Neuschnee gegraben hatte.

Sie brauchte über zwei Stunden für die 120 Meilen und freute sich, als endlich die Lichter von Denali vor ihr auftauchten, der kleinen Siedlung, die um den Eingang zum Nationalpark entstanden war. Einige Hotels, Motels und Restaurants, eine Tankstelle, mehrere Ferienhäuser und der Bahnhof der Alaska Railroad, das älteste Gebäude der Gegend. Sie bog nach Westen ab und folgte der Straße zum Nationalpark, fuhr am Besucherzentrum vor und folgte der Park Road bis zu den drei Meilen entfernten Park Headquarters.

»Sieben Uhr an einem eisigen Wintermorgen«, verkündete eine Stimme im Radio, bevor Julie den Motor abstellte und aus dem Wagen stieg, »und ich kann Ihnen schon mal sagen, dass die Temperaturen weiter fallen werden! Arktische Kälte ist angesagt, denn wenn Sie gedacht haben, der Winter würde uns diesmal verschonen, haben Sie sich leider verrechnet. Heute braucht sogar der Wetterfrosch einen Mantel. Kein Problem, wir haben heiße Musik …«

Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek

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