Читать книгу Verschollen am Mount McKinley / Die Wölfe vom Rock Creek - Christopher Ross - Страница 14
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Julie warf zwei Holzscheite ins Feuer und hielt beide Hände über die heiße Ofenplatte. Nach einer anstrengenden Wanderung spürte man besonders, wie wohltuend ein wärmendes Feuer sein konnte. Sie hatte ihre Winterkleidung gegen Trainingshose und Sweatshirt vertauscht und lief in dicken Socken herum. Schneeschuhwandern war anstrengender, als die meisten Leute dachten.
Sie schenkte sich heißen Tee nach und rührte etwas Zucker hinein. Mit dem Becher in einer Hand ging sie zu den Nachtlagern und blickte nachdenklich auf die leise schnarchende Carol hinab. Sie schlief sehr unruhig, als würde sie schlecht träumen, und ihr Gesicht war gerötet, aber das konnte auch von der Hitze kommen, die inzwischen den ganzen Raum ausfüllte. Julie ging neben ihr auf die Knie und legte eine Hand auf ihre Stirn. Auch wenn Carol kein Fieber hatte, sah es doch so aus, als würde sie an mehr als einer leichten Magenverstimmung leiden. Vielleicht Gastritis oder ein Magengeschwür?
Julie hoffte, dass es nicht so war. Von ihrem Vater wusste sie, wie gefährlich eine solche Krankheit sein konnte, besonders wenn kein Arzt in Reichweite war. Wenn sich die Schmerzen der Rangerin verschlimmerten, waren sie vielleicht sogar gezwungen, die Wanderung abzubrechen und umzukehren. Dann würde sie auch nicht zögern, einen Hubschrauber anzufordern. Die Teilnehmer würden sicher Verständnis für diese Maßnahme haben. Sie hatten den Gipfel des Mount McKinley gesehen, das war schon mehr, als die meisten Besucher des Nationalparks von sich sagen konnten, und würden auch einen Teil ihres Geldes zurückbekommen, wenn sie umkehren mussten.
Sie trank einen Schluck und vertrieb die düsteren Gedanken. Bis jetzt war doch alles gut gegangen. Sie hatten die verzweifelte Kati rechtzeitig zurückgeschickt, und auch der Sturz der Clarke-Brüder war glimpflich verlaufen. Der Unfall hätte auch anders ausgehen können. Sie wagte sich gar nicht vorzustellen, was passiert wäre, wenn sich Gary und Chris ernsthaft verletzt hätten. Man hätte Carol und sie dafür verantwortlich gemacht. Zumindest wäre es zu einer nervigen Verhandlung gekommen, die an Carols und ihrem Ruf gekratzt hätte. Ihre feste Anstellung als Rangerin wäre danach in weite Ferne gerückt.
Wieder diese trüben Gedanken, dabei hätte sie doch fröhlich sein sollen. So wie Josh, der immer noch am Fenster stand und ihr liebevoll zulächelte. Er kam dem Prinzen auf dem weißen Pferd, von dem sie manchmal träumte, schon verdächtig nahe. Ein gefühlvoller Mann, wie man sie nur ganz selten traf, schon gar nicht auf dem College, an dem Julie ihren Abschluss gemacht hatte. Dort hatte es keinen gegeben, der ihr Interesse geweckt hatte. Besonders schlimm fand sie den Eishockey-Captain. Ein selbstverliebter Typ, den fast alle Schülerinnen anhimmelten, weil er der Starspieler des Teams war. Julie hatte sich gewundert, als er versucht hatte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Obwohl sie weder zu den Cheerleadern noch zu den It-Girls ihres Jahrgangs gehörte, wartete er nach ihren Kursen auf sie und begleitete sie nach Hause. Als er sie zum Abschlussball einlud und keines der beliebteren Mädchen, die ihn umschwärmten, danach fragte, fing sie an, ihn zu mögen. Vielleicht war er doch anders als die anderen, einer, der sich ernsthaft für sie interessierte und mit dem man reden konnte. Doch der Abschlussball wurde nicht so märchenhaft, wie sie es sich schon als kleines Mädchen erträumt hatte. Irgendwie wirkte er abgelenkt und kümmerte sich kaum um sie. Nach dem Ball hatte er auf einmal keine Zeit mehr und fand ständig eine Ausrede, wenn Julie sich mit ihm treffen wollte. Einige Tage später hatte sie ihn dann mit einem anderen Mädchen im Arm gesehen und sich ihren Teil gedacht.
An dem Abend auf dem verschneiten Jagdtrail, als sie Josh zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie schmerzhaft an diesen miesen Typen erinnert. Josh war nicht so laut wie die Clarke-Brüder, hatte aber die gleiche große Klappe, ohne die wohl kein Mann auskommen konnte. Wenn man sie nicht für die Schönsten und Besten hielt, waren sie eingeschnappt, und wenn beim Iditarod eine Frau vor ihnen ins Ziel ging, wie es schon oft passiert war, mussten sie sich schwer zusammenreißen, um vor den Fernsehkameras nicht auszurasten. Wenn sie nur kapieren würden, dass man nicht unbedingt der Schönste und Beste sein musste, um einer Frau zu gefallen. Wo war er denn gelandet, das Eishockey-Ass? Weder in der National Hockey League noch bei einem anderen Top-Team. In der Werkstatt seines Vaters arbeitete er, und der Blaumann stand ihm wesentlich schlechter als die modischen Jeans, die er auf dem College getragen hatte. Keine der Cheerleader drehte sich mehr nach ihm um.
Julie setzte sich auf die Matratze neben Carol und trank von ihrem Tee. Die Linakers und die Clarke-Zwillinge saßen am Tisch und unterhielten sich angeregter, als man es am Morgen für möglich gehalten hätte. »Sie waren kalifornische Meisterin?«, fragte Gary, und Ruth antwortete: »Zwei Mal sogar, und wenn ich nicht gestürzt wäre, hätte es vielleicht sogar zur US-Meisterschaft und den Olympischen Spielen gereicht. Leider war ich genauso leichtsinnig wie Sie. Hab mich kopfüber in die Tore gestürzt, obwohl die Piste stark vereist war, und flog schon beim sechsten Tor aus der Bahn. Gebrochener Knöchel. Jetzt fahre ich nur noch zum Spaß.« Gary hatte wohl eine bissige Bemerkung auf Lager, wurde aber von seinem Bruder gestoppt: »Und Snowboarden? Können Sie das auch?« Ruth schien zu wissen, wie man mit geltungssüchtigen jungen Männern umging. »Haben Mike und ich ein paar Mal versucht, aber besonders gut waren wir nicht. Vielleicht bringen Sie’s uns bei. Rufen Sie uns an, wenn Sie in der Gegend sind.« Sie kramte ihren Geldbeutel aus dem Anorak, zog eine Visitenkarte heraus und reichte sie ihm.
Scott Jacobsen saß etwas abseits auf seiner Matratze und las im Schein einer Kerze, die er in einer Schublade gefunden hatte, in einem zerfledderten Buch. Es musste spannend sein, denn er blickte nicht einmal auf und schien vollkommen versunken in seine Lektüre. Besonders gesellig war er nicht, der Werbefachmann aus Chicago, obwohl er doch gerade in seiner Branche viel mit Menschen zu tun hatte. Es sei denn, er gehörte zu den Kreativen, die den ganzen Tag im stillen Kämmerlein saßen und an einem neuen Logo oder Slogan bastelten. Er unterhielt sich kaum mit den anderen Wanderern, sprach nur, wenn er gefragt wurde, und begnügte sich auch dann meist mit Allgemeinplätzen. War er nur etwas seltsam? Oder hütete er ein Geheimnis?
Sie ging früh zu Bett, noch vor den anderen, und empfand das Gemurmel der Linakers und Clarkes so beruhigend, dass sie schon bald einschlief. Im Traum glaubte sie zu erkennen, wie Josh sich auf die Matratze neben ihr legte, so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte. Seine Hand suchte nach der ihren und berührte sie sanft, sie zog ihre Hand verdutzt zurück, ließ aber zu, dass er sie erneut berührte, und lächelte sogar dabei. Seine Hand fühlte sich gut an, sein Griff war behutsam und doch entschlossen, die Berührung eines Mannes, der genau wusste, was er wollte, und nicht mit ihr spielte. Sie seufzte glücklich. Und dabei sah sie gerade wie eine Landstreicherin aus.
Ob es an ihrem Traum oder ihrem festen Schlaf lag, wusste sie später nicht mehr zu sagen, doch auch Carol und die anderen Wanderer merkten nicht, wie einer von ihnen leise aufstand, in seine Winterkleidung schlüpfte und mit dem Backpack in der Hand zur Tür ging. Ruth seufzte leise, und Carol drehte sich stöhnend auf die andere Seite, als er die Tür öffnete, und ein Schwall kalter Luft in die Hütte zog, doch gleich darauf schloss er sie leise, und die wohlige Wärme kehrte zurück. »Hey! Was ist?«, rief Gary im Halbschlaf. Er stand auf, legte Holz nach und kehrte auf seine Matratze zurück, ohne zu merken, dass einer der Wanderer verschwunden war. Nur das Buch, in dem er so angestrengt gelesen hatte, lag noch neben seinem Nachtlager.
Auch am nächsten Morgen brauchte Julie viel zu lange, um zu erkennen, dass einer der Teilnehmer fehlte. Erst als sie einige Holzscheite in den Ofen geworfen und die Petroleumlampe auf dem Tisch entzündet hatte, sah sie die leere Matratze. »Scott Jacobsen!«, rief sie verwirrt. »Sind Sie hier irgendwo?«
Sie nahm die Lampe und blickte sich in der Hütte um, weckte Carol und die anderen mit dem Lichtschein, stellte die Lampe auf den Tisch zurück, blickte aus dem Fenster und wusste nicht mehr weiter. »Scott Jacobsen ist verschwunden! Spurlos! Er ist nicht mehr hier! Und das bei dem Sturm!«
Die anderen waren genauso erschrocken wie sie und blickten sich ebenfalls in der Hütte um. Chris hob sogar die Decken auf Jacobsens Matratze hoch, als hätte er sich darunter verstecken können. »Weg! Er ist weg! Und ich hab nichts gesehen. Wie kann man sich denn anziehen und aus der Hütte schleichen, ohne dass einer von uns das merkt? Verflucht, er lag direkt neben mir!«
Carol wollte sich aufsetzen, sank aber sofort wieder zurück. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz. »Ich hab immer noch Bauchschmerzen. Ist wohl doch was Hartnäckiges. Eine Magen-Darm-Grippe oder so was.« Sie stemmte sich mühsam auf die Ellbogen und blickte Julie an. »Bringst du mir einen Tee?«
»Klar«, erwiderte Julie. »Bist du sicher, dass es kein Geschwür ist?«
»Das würde sich anders anfühlen.«
»Aber er kann doch nicht einfach verschwinden!«, verstand Josh die Welt nicht mehr. Er hatte tatsächlich auf der Matratze neben ihr geschlafen. »Ich meine … bei dem Sturm. So erfahren ist er nicht. Er ist weder ein Bergsteiger noch ein geübter Wanderer, das hat man doch gesehen. Der schafft es keine Meile weit.«
»Wir werden nach ihm suchen«, entschied Carol.
»Ich werde nach ihm suchen«, verbesserte sie Julie. »Weit kann er nicht sein. Wenn er nicht erfroren ist, ist er sicher irgendwo untergekrochen. Südlich der Schlucht soll es einige Höhlen geben. Ich sehe mich ein wenig um, und wenn ich ihn nicht finde, rufen wir Search & Rescue.« So hieß die Abteilung der Ranger, die nach vermissten Personen im Nationalpark suchte.
»Ich komme mit«, entschied Carol, »ich kenne die meisten Höhlen.«
Julie schüttelte entschieden den Kopf. »Du bleibst schön liegen und kurierst deine Magenschmerzen aus. Oder willst du irgendwo im Schnee zusammenbrechen? Ich bleibe höchstens bis Mittag weg, dann soll das Wetter besser werden, und Search & Rescue schickt einen oder zwei Hubschrauber her. Wenn sie Jacobsen gefunden haben und nach Hause fliegen, können sie uns gleich mitnehmen. Du lässt dich besser von einem Arzt durchchecken.«
»Wegen harmloser Bauchschmerzen?«
»Frag meinen Vater, der ist Chefarzt am Fairbanks Memorial Hospital. Wenn du ihn über Bauchschmerzen reden hörst, wird dir schlecht. Geh lieber auf Nummer sicher. Wenn du willst, sag ich meinem Vater Bescheid.« Trotz der ernsten Lage konnte sie lachen. »Dann macht er dir einen Sonderpreis.«
»Vielleicht hast du recht«, räumte Carol ein.
Gary hatte sich bereits aus seinen Decken geschält und griff nach seiner Hose. »Soll das etwa heißen, unsere Wanderung ist hier zu Ende? Und nur, weil dieser Verrückte aus der Hütte rennt und die Rangerin Bauchweh hat?«
»Reicht das nicht?«, fragte Julie zurück. »Solange Jacobsen vermisst wird, können wir sowieso nicht weiter, und Carol hat kein Bauchweh, sondern Magenschmerzen, da ist höchste Vorsicht geboten. Keine Angst, wie ich die Ranger kenne, bekommen Sie Ihr Geld wieder, oder Sie bekommen einen Gutschein für eine andere Wanderung.« Sie blickte in die Runde. »Tut mir leid, mit dieser Entwicklung konnte keiner rechnen. Das war höhere Gewalt.«
»Ich wusste, dass dieser Jacobsen einen an der Birne hat«, sagte Chris.
»Scheiß-Amateur!«, fluchte Gary.
Julie goss den Tee auf und brachte Carol einen Becher. »Halte durch, Carol«, sagte sie. »Und sag Search & Rescue, sie sollen einen Arzt mitschicken. Wer weiß, was sich in deinem Magen zusammenbraut. Jacobsen braucht sicher auch einen Arzt, wenn er da draußen zusammengebrochen ist.«
»Allein kannst du nicht raus … zu gefährlich!«, warnte Carol.