Читать книгу Allein am Stony Creek / Schutzlos am Red Mountain - Christopher Ross - Страница 6

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Julie feuerte ihre Hunde mit lauten Zurufen an. Beinahe wütend rief sie: »Schneller, Chuck! Verdammt, könnt ihr denn nicht schneller laufen?«, als ginge es um Leben oder Tod. Sie lenkte die Hunde über die Park Road nach Westen, sprang alle paar Schritte mit Tränen in den Augen von den Kufen und schob den Schlitten an, wütend auf sich selbst und unsagbar traurig, den Tag auf diese Weise begonnen zu haben.

Wie fast immer, wenn sie von Schmerz oder Wut übermannt wurde, reagierte sie sich auf ihrem Hundeschlitten ab, fuhr so schnell, dass der Fahrtwind an ihrer Kleidung zerrte, und hoffte darauf, dass die eisige Kälte ihre Tränen vertrieb und sie zur Vernunft brachte. Weder die Dunkelheit, die im Februar bereits am frühen Nachmittag über der Alaska Range hing, noch die Einsamkeit im Denali National Park hinderte sie daran, die Hunde immer schneller anzutreiben und so rasant in die weiten Kurven zu gehen, dass sie von Glück sagen konnte, nicht in den Tiefschnee geschleudert zu werden.

Erst am Savage River, ungefähr zehn Meilen westlich der Park Headquarters, hielt sie an. Sie lehnte sich mit beiden Unterarmen auf die Haltestange und weinte leise, rieb sich aber rasch die Tränen vom Gesicht, als sie einen Ranger zwischen den Bäumen hervortreten sah. Paul Short, besser bekannt als Shorty, obwohl er zu den größten Rangern der Truppe gehörte, war seit einigen Tagen mit Reparaturen auf dem einsamen Campground am Savage River beschäftigt und anscheinend froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

»Hey, Julie«, begrüßte er sie. »Wieder mal auf Patrouille?«

»Hallo, Shorty. Die Hunde brauchen Bewegung.«

»Mit deinen Huskys bist du ein Herz und eine Seele, was?« Es klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage. »Ich hab noch keinen Ranger gesehen, der so gut mit Hunden kann. Auf so eine Spezialistin kann der Park Service nicht verzichten. Ich bin ziemlich sicher, du bekommst die feste Anstellung.«

Diese Hoffnung hatte Julie auch. Im November hatte sie als Praktikantin im Denali National Park angefangen, mit der Hoffnung, im Frühjahr als Park Ranger übernommen zu werden. Ihre Chancen standen nicht schlecht, wie sie glaubte. Sie hatte mehrmals ein Lob vom Superintendent bekommen und war an einigen Rettungsaktionen beteiligt gewesen. Dagegen standen die roten Zahlen des National Park Service. Die Regierung besaß eigentlich nicht genügend Geld, um neue Planstellen zu schaffen. Es hing alles von der Überzeugungskraft von Superintendent John W. Green ab, dem langjährigen Chef des Nationalparks. Wenn er der Regierung glaubhaft machen konnte, dass sie unentbehrlich für Denali war, würde sie den festen Posten auch bekommen.

»Mal sehen«, sagte sie. Sie hoffte, dass Shorty ihre roten Augen nicht sah. »Wie kommst du auf dem Campground voran? Stehen die neuen Hütten schon?«

»Bis zum Wochenende bin ich fertig.« Er ahnte wohl, dass sie nur gefragt hatte, um irgendetwas zu sagen, und blickte sie nachdenklich an. »Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so … so nachdenklich. Du hast doch keinen Kummer?«

»Nein, alles okay.« Julie blickte an ihrem Kollegen vorbei. »Ich muss los, Shorty.«

Sie verabschiedete sich von dem Ranger und stieg wieder auf die Kufen. Die Huskys wurden nervös, wenn sie zu lange stehen blieb, und warfen sich schon ungeduldig in ihre Geschirre. Das Laufen lag ihnen im Blut. »Heya! Vorwärts, Chuck! So eine geräumte Piste bekommt ihr nicht alle Tage. Lauft endlich!«

Julie hatte keine Lust, ihr Gefühlsleben vor Shorty auszubreiten, und war froh, aus seinem Blickfeld zu kommen. Sie war mit den Hunden aufgebrochen, um für ein paar Stunden allein zu sein und darüber hinwegzukommen, dass sie Josh wie einen aufdringlichen Highschool-Schüler abserviert hatte.

Bereits um sieben Uhr früh war sie aufgewacht. Der schrille Klingelton ihres Handys hatte sie aus dem Schlaf gerissen und sie war nur widerwillig drangegangen. »Ranger Wilson.« Ihre Stimme klang heiser und verschlafen.

»Hey, Julie«, antwortete die vertraute Stimme ihres Freundes. Josh war bester Stimmung und klang ausgesprochen fröhlich. »Hab ich dich geweckt?«

Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Weißt du, wie spät es ist, Josh?«

»Kurz nach sieben. Ich denke, du stehst immer so früh auf.«

»Nicht an meinem freien Tag«, erwiderte sie missmutig. »Und nicht, wenn ich am Abend vorher beim Volleyball verloren habe und bis kurz vor Mitternacht mit Freunden zusammen war.« Sie seufzte leise. »Ich bin hundemüde, Josh, also ruf gefälligst später wieder an. Am besten kurz vor Mittag, okay?«

Er überhörte ihre Bitte, tat so, als hätte sie nichts gesagt. »Ich hab heute auch frei. Wie wär’s, wenn wir uns treffen? Du könntest doch nach Fairbanks kommen; bei Luigi eine Pizza essen, mal wieder ins Kino gehen, ein bisschen in der Gegend rumfahren. Du weißt schon, mal wieder richtig abschalten.«

Im Grunde hatte er recht. Sie brauchte tatsächlich ein bisschen Abwechslung, und ein Pizzaessen mit anschließendem Kinobesuch klang gar nicht so schlecht. Doch noch viel wichtiger war es ihr, beim Superintendent und den anderen Rangern einen guten Eindruck zu machen. Für eine feste Stelle im Nationalpark wollte sie sich so richtig ins Zeug legen. »Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren«, erwiderte sie. Es hörte sich wie eine schlechte Ausrede an. »Ich muss mich ranhalten, wenn ich die feste Stelle bekommen will. Einer der Denali-Huskys hat sich den linken Vorderlauf verstaucht, und heute Nachmittag wollte ich eine Runde mit dem Schlitten drehen. Die Huskys brauchen Auslauf, das weißt du doch.«

»Aber an deinem freien Tag darfst du ja wohl auch mal deinen Spaß haben. Du willst mich einfach nicht treffen, gib’s doch zu: Du magst mich nicht mehr.«

»Unsinn!« Sie ahnte, dass sie sich aufs Glatteis begab. »Es gibt gerade nur besonders viel zu tun. Ich melde mich, wenn ich wieder Zeit habe, okay?«

»Du willst mir den Laufpass geben?«

Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, mit ihm Schluss zu machen. Es war einfach so passiert. Vielleicht, weil sie sich innerlich schon längst von ihm entfernt hatte. Ein halbes Jahr waren sie zusammen gewesen, doch gesehen hatten sie sich selten. Josh machte sein Praktikum bei den State Troopern und sie arbeitete für den National Park Service, beides Jobs, die vollen Einsatz verlangten. Die Tage, an denen sie mit Josh ausgegangen war, konnte sie an einer Hand abzählen, und so richtig romantisch war es nur ein paarmal gewesen. »Wenn du an den Richtigen kommst, sieht das ganz anders aus«, hatte ihre Freundin Brandy dazu gesagt.

»Nein, ich will nicht mit dir Schluss machen«, erwiderte sie, um gleich darauf zu sagen: »Aber ich weiß nicht, ob …« Sie suchte nach den passenden Worten. »Ob du der Richtige bist«, hatte sie eigentlich antworten wollen. Stattdessen sagte sie: »Wir sollten uns eine Auszeit nehmen, Josh.« Auszeit, eigentlich ein Wort, das auf ihrer privaten schwarzen Liste stand, aber was hätte sie sonst sagen sollen? »Im Augenblick passt es einfach nicht, Josh.«

»Also doch«, sagte er.

»Tut mir leid.«

Ihre Antwort hatte auch Carol Schneider mitbekommen, die erfahrene Rangerin, mit der sie ihr Blockhaus teilte. »Josh?«, fragte sie nur und nickte verständnisvoll, als hätte sie schon lange gewusst, dass es so kommen würde.

»Hab ich wirklich mit ihm Schluss gemacht?«

»Das war doch nur eine Frage der Zeit«, sagte Carol. Sie war sieben Jahre älter als Julie und hatte selbst erfahren, wie schwer es war, in einem anspruchsvollen Job zu arbeiten und gleichzeitig eine Beziehung zu beginnen. »Josh ist ein netter Kerl, aber er war wohl nicht der Richtige für dich, sonst hättest du anders reagiert. Du wirst schon darüber hinwegkommen. Und wer weiß? Vielleicht taucht schon bald dein Mr. Perfect auf.«

»Und warum fühle ich mich dann so mies?«

»Das vergeht wieder«, erwiderte Carol, während sie Kaffee aufsetzte. »Es fühlt sich nie gut an, einen Freund zu verlassen und … na ja, für einen selbstbewussten Typen wie Josh ist es ziemlich schwer, eine Trennung zu akzeptieren.« Sie holte zwei Becher aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. »Jetzt klinge ich schon wie deine Mutter, was?«

»Keine Ahnung. Meine Mutter lebt in Kalifornien und wir sprechen nicht so oft über Liebesangelegenheiten.«, hatte sie Carol schulterzuckend geantwortet.

Julie fuhr weiter bis zum Sanctuary River und trieb die Huskys auf den zugefrorenen Fluss. Es hatte über Nacht geschneit, und eine dünne Schneeschicht bedeckte das feste Eis. Wie übergroße Skelette ragten die entlaubten Birken und Espen am Ufer aus dem Schnee. Am östlichen Himmel zog arktisches Zwielicht herauf, die einzige Helligkeit, die man in diesen Breiten an einem Wintertag zu sehen bekam. Die Gipfel der nahen Berge leuchteten in einem zarten Rosa. Wie ein steinerner Riese ragte der Kegel des mächtigen Mount McKinley empor.

An einer windgeschützten Biegung hielt sie den Schlitten an. Sie rammte den Holzpflock, der als Anker diente, zwischen zwei Eisbrocken am Ufer und ließ ihren Blick über das verschneite Land schweifen. Sie mochte den Winter. Auch wenn es manchmal empfindlich kalt wurde und es vor allem am Denali heftige Stürme gab. Wenn die Flüsse und Seen zufroren und eine feste Schneedecke den Boden bedeckte, strahlte das Land selbst in den dichter besiedelten Gegenden eine ungewöhnliche Ruhe aus und schien im düsteren arktischen Dämmerlicht wie ein geheimnisvolles Reich aus einem Märchen oder Fantasyroman. Julie mochte diesen Zauber und genoss ihn auch jetzt, beobachtete staunend, wie sich die verschneiten Gipfel der Berge immer stärker verfärbten und diese wie stumme Vulkane am Horizont leuchteten.

Aus der Besorgnis, vielleicht falsch gehandelt und ihrem Freund unnötig wehgetan zu haben, wurde in dieser Abgeschiedenheit zunehmend Erleichterung. Wie eine schwere Last fiel die Sorge um ihre Beziehung von ihr ab und ließ sie die eisig kalte Luft befreit einatmen. Das beste Zeichen dafür, wie notwendig ihre Aussprache mit Josh gewesen war. Sie konnte sogar schon wieder lächeln und fand es an der Zeit, sich endlich um ihre Huskys zu kümmern, die sie beim überhasteten Einspannen sträflich vernachlässigt hatte.

»Ich weiß, ich hätte euch schon früher richtig begrüßen sollen«, sagte sie zu den Hunden, die ungeduldig darauf warteten, dass es endlich weiterging. Sie beugte sich zu ihrem Leithund hinunter, einem kräftigen Rüden mit weißem Fleck im Gesicht, und kraulte ihn hinter den Ohren. »Aber ich war heute Morgen nicht besonders in Form. Manchmal läuft es einfach nicht so, wie man sich das wünscht. Ihr seid mir doch nicht böse?« Sie tätschelte Apache, der als Leithund einsprang, wenn Chuck nicht auf der Höhe war, den starken Bronco und Curly, der an seinen weißen Ohren leicht zu erkennen war und sich immer noch wie ein Lausbub benahm. Gegen ihn wirkten Blacky und Nanuk beinahe wie ältere Herren, obwohl sie es mit jedem anderen Husky im Gespann aufnehmen konnten. »Zu Hause gibt’s was Anständiges zu fressen, großes Ehrenwort.«

Aus der Ferne drang leises Motorengeräusch über den Fluss. Ein nerviges Brummen, ungefähr fünf Meilen entfernt, wie sie inzwischen abzuschätzen wusste. Sie griff nach ihrem Funkgerät, das sie aus Sicherheitsgründen auch auf Privatfahrten mit sich führte, und rief Greg Erhart, den Chef der Polizeitruppe. Der Law Enforcement Ranger meldete sich sofort. »Ranger Erhart.«

»Ranger Wilson. Ich bin mit dem Hundeschlitten am Sanctuary River, ungefähr eine Meile südlich der Park Road. Ich höre ein Motorengeräusch, wahrscheinlich ein Snowmobil. Kommt aus westlicher Richtung. Was soll ich tun?« Das Fahren mit Snowmobilen war im Nationalpark streng verboten.

»Sehen Sie nach«, sagte Erhart. »Sicher nur ein dummer Junge, der sich auf unseren Trails austoben will. Nehmen Sie seine Personalien auf und lassen Sie ihn laufen. Ich kümmere mich um ihn. Aber seien Sie vorsichtig. Sagen Sie Bescheid, falls es sich um einen Erwachsenen handelt und er ein Gewehr dabeihat. Könnte sein, dass wir es mit einem Wilderer zu tun haben.«

»Aye, Sir. Wird gemacht.«

Julie stieg auf die Kufen und trieb die Hunde an. Sie witterten den Fremden anscheinend schon und hatten die Ohren aufgestellt. An einer flachen Stelle lenkte sie das Gespann ans Ufer und kämpfte sich durch den knietiefen Schnee. Sie musste sogar die Schneeschuhe anschnallen, um nicht einzusinken und den Weg für die Hunde ebnen zu können. Dies war die anstrengendste Aufgabe, wenn man mit einem Hundeschlitten unterwegs war: sich über einen verschneiten Hang ohne Trail und festen Grund vorwärtszukämpfen.

Auf einem lang gestreckten Hügelkamm, den der böige Wind glatt gefegt hatte, und wo der Schnee gerade mal knöcheltief lag, konnte sie die Schneeschuhe wieder abschnallen. Sie verstaute sie in dem wasserdichten Schlittenbeutel unter der Haltestange und fuhr weiter. Über den vereisten Hügelkamm lenkte sie den Schlitten auf den dunklen Waldrand zu, der noch ungefähr eine halbe Meile von ihr entfernt lag. Sie stand mit einem Fuß auf den Kufen und versuchte mit dem anderen, die schlingernden Bewegungen des Schlittens auf dem eisigen Schnee auszugleichen. Es war so glatt, dass selbst die Huskys öfter den Halt verloren und auf dem Bauch landeten.

Am Waldrand ließ sie die Hunde für einen Moment halten. Sie befahl ihnen, so leise wie möglich zu sein, und lauschte angestrengt in das arktische Zwielicht hinein. Das Motorengeräusch des Snowmobils war immer noch zu hören, allerdings so weit entfernt, dass es sofort verstummte, wenn der Wind auffrischte und in den Fichten rauschte. »Weiter!«, rief sie den Hunden zu. »Das ist bestimmt einer dieser Idioten, die sich mit Shorty angelegt haben.« Erst vor knapp zwei Wochen war ein junger Mann aus Cantwell auf seinem Snowmobil über den Campground am Savage River gerast und hatte Ranger Short wütend beschimpft, als der ihn zurechtgewiesen und aus dem Park vertrieben hatte.

Auch in dem lichten Wald lag der Schnee nur knöcheltief, und sie kam schnell voran. Auf Kommandos konnte sie ganz verzichten. Chuck fand beinahe instinktiv durch das natürliche Labyrinth, und der Schnee reflektierte genug Helligkeit, um ihnen den Weg zu weisen. Sie erinnerte sich noch an ein Märchen, das sie als kleines Mädchen gehört hatte. In der Geschichte hatte die Sonne während des farbenprächtigen Indianersommers einige ihrer Strahlen verloren, genug Helligkeit, um den Menschen im Winter den Weg zu zeigen und das flackernde Nordlicht an den Himmel zu zaubern.

Sie blieb in dem Wald, der sich über zahlreiche Hügel erstreckte und ihr auf den Steigungen alles abverlangte. »Nicht nachlassen, Chuck!«, rief sie ihrem Leithund zu. »Curly! Sieh zu, dass du nicht zurückfällst! Blacky, Nanuk, so ist es recht, immer schön gleichmäßig!« Sie selbst stieg auf den Steigungen von den Kufen und schob den Schlitten an, half den Hunden, den Hügelkamm zu erklimmen, und legte oben jedes Mal eine kurze Pause ein, um wieder zu Kräften zu kommen. »Da haben wir uns wieder was eingebrockt«, stöhnte sie.

Nach ungefähr zwei Meilen stieß sie auf einen Jagdtrail, den die Indianer schon vor einigen Hundert Jahren benutzt hatten. Er zog sich in zahlreichen Windungen in ein schmales Tal hinab, das durch einen Nebenfluss des Sanctuary River gebildet wurde. Sie fuhr in die Nebelschwaden, die über dem Eis hingen, und bremste mit einem lauten »Whoaa!« ihr Gespann, als sie die Abdrücke am Flussufer bemerkte. Eine breite Spur, die in den Jagdtrail mündete und ihm weiter nach Südwesten folgte. Ein Snowmobil, das ungefähr vor einer Stunde auf den Trail gefahren sein musste, so frisch sahen die Abdrücke aus.

»Weiter«, rief Julie und folgte dem Snowmobil. Mit seinem breiten Antriebsband hatte das Gefährt den Schnee platt gedrückt und den Trail so präpariert, dass sie wesentlich zügiger vorankam. Die Spur führte durch den lichten Wald am Flussufer, bog dann mit dem Trail nach Süden ab und erklomm eine Anhöhe, von der aus man die Ausläufer des Double Mountain sehen konnte, eines fast zweitausend Meter hohen Bergriesen, dessen Gipfel in den tief hängenden Wolken kaum zu sehen war. Das Wetter hatte sich verschlechtert, die Luft roch nach Schnee, und dunkle Schatten lagen in den Tälern.

Julie hatte ein schlechtes Gefühl. Übermütige Jugendliche wie der Junge, der Shorty beschimpft hatte, wagten sich selten so weit in den Park hinein. Im Hinterland war die Gefahr, bei einem Unfall ganz auf sich allein gestellt zu sein, viel zu groß; dort gab es keine Sendemasten, und man bekam selbst mit einem sehr guten Handy keinen Empfang mehr. In diesen Regionen hielten sich eher erfahrene Männer auf, und wenn sie ein Snowmobil benutzten, dann nur, um so schnell wie möglich das Weite zu suchen und keinem Ranger zu begegnen. Rücksichtslose Wilderer, die gegen das Gesetz verstießen und innerhalb der Grenzen des Nationalparks auf die Jagd gingen, weil dort leichter an Beute zu kommen war. Die Tiere dort waren es nicht gewohnt, gejagt zu werden.

Sie war sich der großen Gefahr, in die sie sich begab, sehr bewusst und schwor sich, sofort Ranger Erhart zu alarmieren, falls sich ihr Verdacht bestätigte. Einen Wilderer in die Enge zu treiben und zu verhaften, war viel zu gefährlich, auch wenn in ihrem Schlittensack ein Revolver steckte. Ein Smith & Wesson, der eigentlich nur dafür gedacht war, sich bei einem Überraschungsangriff gegen einen aufgebrachten Grizzly oder einen Elch zu wehren. Sie wäre nie in der Lage gewesen, auf einen Menschen zu schießen, und hatte sich deshalb auch nicht für die Polizeitruppe gemeldet. Law Enforcement war nichts für sie. Sie wollte sich auch als feste Rangerin um die Huskys kümmern, auf Patrouille gehen und an wissenschaftlichen Projekten mitarbeiten.

Sie lenkte die Huskys den Hang hinab und hielt überrascht den Schlitten an, als sie die plötzliche Unruhe ihres Gespanns bemerkte. Die Hunde witterten etwas, wirkten verstört und wären wohl sofort umgekehrt, wenn Julie nicht den Schlitten verankert hätte. Auch sie musste sich zwingen, nicht den Schlitten zu wenden und auf den Hügelkamm zurückzufahren. Die Gefahr, in die sie sich begeben hatte, war beinahe körperlich zu spüren. Hier stimmte etwas nicht. Der Schnee war aufgewühlt, als hätte der Fremde so plötzlich die Bremse betätigt, dass sich sein Snowmobil im Kreis gedreht hatte, und zwischen den Bäumen waren noch seine Fußspuren zu sehen. »Ganz ruhig«, beschwichtigte sie die Hunde, »er ist weg, sonst wäre sein Snowmobil noch hier.«

Sie folgte den Fußspuren durch den Wald und blieb abrupt am Rand einer Lichtung stehen, als sie einen toten Elch im Schnee liegen sah. Unter dem Kadaver war literweise Blut in den Schnee gesickert. Sie näherte sich dem toten Tier und fand keine Schusswunde, brauchte eine ganze Weile, um die Einschusslöcher von drei Pfeilen zu finden. Der Wilderer hatte den Elch mit Pfeil und Bogen gejagt, um sich nicht mit einem Schuss zu verraten, und war außerdem noch so schlau gewesen, die Pfeile mitzunehmen. Viele Jäger konnten mit Pfeil und Bogen umgehen, jagten während der Saison auch deshalb wie früher, um die Chancengleichheit zu erhöhen und die Jagd sportlicher zu gestalten. Nur hatten sich die Waffen in der Zwischenzeit weiterentwickelt und moderne Ausrüstung und Carbonpfeile erleichterten den Jägern die traditionelle Bogenjagd. Dieser Wilderer hatte aber aus purer Berechnung gehandelt und mit dem Bogen gejagt, um unentdeckt zu bleiben. Er hatte nur die besten Fleischstücke herausgeschnitten und war sicher längst über alle Berge.

Sie starrte eine Weile auf die blutigen Überreste des Elchs und griff nach dem Funkgerät. »Ranger Erhart? Ranger Wilson hier. Es war ein Wilderer.«

Allein am Stony Creek / Schutzlos am Red Mountain

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