Читать книгу Rheinlandstöchter - Clara Viebig - Страница 5
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ОглавлениеNelda Dallmer stand vom Piano auf, an dem sie gesessen hatte — die Mutter blieb immer lang auf solch einem Kaffee wie bei Frau Doktor Schmidt — aber halt, da ging doch die Gittertür am Vorgärtchen!
Ihr scharfes Ohr hatte knisternde Tritte vernommen, sie schob den Fenstervorhang zur Seite und schaute hinaus. Nichts zu sehen. Doch! Jetzt eilte eine weibliche Gestalt, kaum erkennbar, über die Chaussee. Das musste Frau Hauptmann Xylander sein, keine andere trug solch grellrote Kapuze!
„Gut, dass sie nicht herein gekommen ist,“ sagte das Mädchen laut und liess den Vorhang zufallen, „das hätte mir gefehlt!“
Sie schob den Stuhl vor den Tisch, auf dem ein halbfertiger Tüllrock lag, und fing an, unten herum eine Falbel festzunähen. Eine Weile nähte sie emsig, der blonde Kopf neigte sich tief über die Arbeit; die bescheidene Hängelampe goss ein mildes Licht darüber hin. Es war sehr still in der engen Stube. Eine Winterfliege glitt auf der Lehne des altmodischen grünen Sofas hin und her, der Regulator an der Wand tickte, Staubatome sanken lautlos auf die Visitenkarten in der Alabasterschale unterm Pfeilerspiegel. Die Nähende atmete gleichmässig; jetzt wurde der Atem plötzlich hastig, unruhig rückte sie hin und her. Als brenne der Rock, so liess sie ihn aus den Fingern fallen und reckte beide Arme hoch empor.
„Ha — — —!“ Sie dehnte sich. Ihre Blicke glitten durch das stille Zimmer mit seinen peinlich geordneten Möbeln, den schlohweissen Gardinen und dem buntgeblümten Sofateppich; mit einem Ausdruck des Unmutes liess sie die Arme sinken.
„Der verflixte Ball,“ murmelte sie und schob den Tüllrock achtlos weiter von sich. „Wenn ich nur nicht hinzugehen brauchte! Schön tanzen kann ich doch nicht. Ich mach mir auch gar nichts draus!“ Sie stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf zwischen die Hände. „Ich wünschte, ich könnte einmal sein, wie ich wollte, mich ordentlich ausrennen und dann —!“ Sie stiess mit den Ellenbogen fest auf die Platte und presste die Lippen zusammen. So sass sie scheinbar regungslos, aber ihre Nasenflügel zitterten, und der Blick der grauen Augen hatte etwas Unterdrücktes, heimlich Brennendes.
Dumpf und hohl klang jetzt anhaltendes Husten durch die Zimmerdecke, mit einem Satz war sie auf den Füssen und zur Tür hinaus. Sie liess diese hinter sich offen und sprang eilig die Treppe hinan; oben, vor der Stube des Vaters, stand sie einen Augenblick still, ängstlich horchend. Wie er hustete! Leise öffnete sie, noch war es dunkel drinnen.
„Nelda, bist du’s?“ fragte eine heisere Stimme.
„Ja, Papa!“ Sie antwortete sehr heiter. „Kann ich dich ein bisschen besuchen? Wart, ich zünde Licht an!“
Das Streichhölzchen sprühte auf, die Lampe brannte und zeigte die durchaus einfache Einrichtung von Regierungsrat Dallmers Arbeitszimmer. Da war ein Stehpult, daneben ein kleines Tischchen mit Akten bedeckt; an der andern Wand ein Bücherregal, darüber in Lithographie Kaiser Wilhelm I., rechts von ihm Bismarck, links Moltke. An dem Fenster Häkelgardinen; vor dem lederbezogenen Sofa ein schmaler gestickter Teppich — karmoisinrote Rosenbuketts, blaulila Veilchengirlanden, giftgrüne Füllung. Das war alles.
Mit einem behaglichen „So“ kauerte sich Nelda auf dem gestickten Teppich nieder und legte die Arme auf den Schoss des Vaters. Der Regierungsrat hatte sich aufs Sofa gestreckt, er sah sehr müde und erschöpft aus; die Hand, mit der er jetzt zärtlich der Tochter die Haare aus der Stirn strich, war heiss und trocken.
„Papa, du hast wieder zu viel gearbeitet,“ sagte das Mädchen und haschte nach der Hand auf ihrem Scheitel. „Lass da liegen, Papa, es tut mir gut!“
Er liess die Hand auf dem blonden Kopf ruhen; sie schwiegen alle beide, bis Nelda plötzlich unvermittelt hervorstiess: „Nimm doch deinen Abschied, Papa; was quälst du dich? Ich mag gar nicht auf den Ball gehen. Wir wollen in die Berge ziehen, am liebsten nach Manderscheid, wo der Onkel wohnt. Es ist herrlich da! Wenn du den ganzen Tag im Wald bist und der Eifelwind dir um die Ohren saust, dann wirst du gesund, Papa, so wahr ich Nelda Dallmer heisse! Lass doch die Schinderei!“ fuhr sie heftig fort. „Siehst du, ich mag gar nicht auf den Ball gehen — nein, ich mag nicht!“ Sie warf den Kopf zurück. „Wenn ich mit dir in den Bergen herumstreifen könnte, das wär mir tausendmal lieber! Weisst du, Papa, wie ich noch ganz klein war und ihr Gesellschaft hattet, und ich mich unter unsern Küchentisch verkroch? Und als du mich da hervorholtest, weil ich drinnen ‚Händchen geben‘ sollte, schrie und strampelte ich — ‚ich wollte nicht bei die Affen‘ — haha, Papa, akkurat so ist mir’s heut noch!“
„Nelda, Nelda!“ Der Vater klopfte leise den Scheitel der Tochter. „Das ist ein harter Kopf!“
Zugleich lächelte er aber, und es war Stolz in seiner Stimme.
„Hab ich nicht recht, Papa?“ nickte sie.
„Freilich, ganz unrecht hast du nicht — doch erörtern wir das nicht weiter!“ Regierungsrat Dallmer hustete wieder. „Als ich jung war und kräftig, dachte ich auch so wie du, aber seitdem ich alt und marode bin, heule ich mit den Wölfen. Sieh zu, wie weit du kommst im Leben, Nelda! Den eignen Weg zu gehen, ist für eine Frau noch zehnmal schwerer als für einen Mann. Du wirst dir die Seele blutig stossen und zuletzt mit geknickten Flügeln unterliegen. Mir ist bange um dich, Nelda! Ich wünschte, ich lebte so lange, bis ich dich wohl versorgt weiss. Ich bin oft sehr müde“ — ein schmerzliches Lächeln huschte um seine schmalen Lippen — „aber ich darf es nicht sein. Wenn ich meine Stellung aufgebe, was sind wir dann? Gar nichts! Das Gehalt fällt weg, Vermögen keins — wie soll es mir dann gelingen, dich standesgemäss zu versorgen? Es muss sein! Sowie du dich verheiratest, quittiere ich den Dienst.“
„Sowie ich mich verheirate,“ wiederholte die Tochter mit eigentümlicher Betonung. Sie hatte sich so hastig aufgerichtet, dass die liebkosende Hand von ihrem Scheitel glitt; nun kniete sie auf den karmoisinroten Rosen und sah ihrem Vater unruhig forschend in die Augen, die Arme über der Brust gekreuzt.
„Ich bin nicht beliebt, Papa!“ sagte sie kurz und trocken. „Ausser dir hat mich kein Mensch lieb, und ich liebe auch ausser dir keinen so, wie ich lieben könnte!“ Ihre Augen flammten auf. „O, ich könnte lieben — ja!“ Sie biss die Zähne aufeinander und schüttelte den Kopf. „Doch sie sind mir alle egal — ja, das sind sie! Sie sind Puppen mit beweglichen Gliedern und beweglichen Zungen, aber das Herz liegt tot wie ein Klumpen in ihnen.“ Sie machte eine Pause und setzte tonlos hinzu: „Ich bin oft sehr unglücklich, Papa!“
Der Kopf sank ihr auf die Brust.
Über des Vaters Gesicht huschte ein leichtes Lächeln und verschwand dann unter dem Ausdruck besorgter Liebe.
„Mein Kind, das sind die Stimmungen der Jugend; solche Unglücksgefühle lassen sich tragen. Wer von uns hätte in seinen jungen Jahren nicht das gleiche gefühlt?! Das wogt in uns und kommt und geht, aber das gibt sich, das legt sich alles; man wird duldsam, die Ansprüche sind nicht mehr zu hoch gespannt. Liebes Kind, was verlangst du von den Menschen? Du verlangst zuviel. Sollen sie alle immer nur das Herz sprechen lassen? Das würde ein schönes Durcheinander auf der Welt geben. Nein, mein Kind,“ — er strich wieder mit der heissen Hand über ihr Haar — „schick du dich in die Welt, dann wird sie dir gefallen, und du wirst ihr auch gefallen. Es geht nicht anders,“ schloss er mit einem Seufzer.
„Das ist nicht dein Ernst,“ fuhr sie auf. „Du redest nur so. Kannst du das nett finden, wenn sie im Kränzchen immer nur von Herren sprechen, und was der gesagt hat und jener, und wieviel Geld er hat und was er für eine gute Partie ist?! Und dann necken sie sich gegenseitig — und legen sich Karten und kichern — und werden rot wie die Krebse und beneiden sich gegenseitig — es ist mir zu erbärmlich! Selbst Milchen Zänglein, die doch voll Frömmigkeit steckt zum Platzen, macht auch mit. Ich kann das nicht, ich mag das nicht! Ja, einen mal ordentlich lieb haben, so recht aus Herzensgrund, dass einem nichts zu viel wäre für ihn zu tun — gar nichts — ja das mag ich! Aber so an jedem herumschnuppern — pfui!“
„Nelda, Nelda, wenn dich die Mutter hörte! Sie ist so glücklich, wenn du mit den andern Mädchen verkehrst. Es sind doch auch nette darunter; sei nicht gleich so schroff!“
„Ach,“ murrte sie, „da muss man mit ihnen eingepfercht sitzen und könnte statt dessen in die Berge oder den Rhein entlang laufen, wo einem die Brust weit wird und bessere Gedanken kommen. Ba!“
Dallmer sah in das unglücklich verzogene Gesicht seiner Tochter und musste lachen, aber er wurde gleich wieder ernst. Ein Ausdruck von Pein trat in seine Augen.
„Kind, ich will dich nicht belügen,“ flüsterte die heisere Stimme, „mir ist das Getue eben so unangenehm wie dir, es gehört aber nun einmal zum Leben, du hast ohne das keine Existenzberechtigung. Ich habe es nun bald sechzig Jahre durchgemacht, da wirst du mit zwanzig doch nicht die Waffen strecken? Mir wird oft vorgeworfen, dass ich mich von der Welt zurückgezogen habe; nun, ich bin müde, ich habe die Entschuldigung meiner Kränklichkeit, aber du —?! Du musst! Du musst dich versorgen! Willst du dein Lebenlang in abhängiger Stellung vegetieren?“
„Warum habt ihr mich nichts lernen lassen?“ stiess sie hervor.
„O, denkst du’s dir verlockend, fremder Leute ungezogne Kinder zu hüten? Als Gesellschafterin die Ablagerungsstätte für jede schlechte Laune zu sein? Du bist nicht geschaffen dafür — oder meinst du?“
Sie schüttelte sich. „Grässlich, Papa!“
„Siehst du!“ Die bleichen Wangen Dallmers überzogen sich auf den Backenknochen mit einer hektischen Röte. „Du tätest mir auch leid. Also, Nelda, immer en avant! Mühe dich, ein bisschen liebenswürdig zu sein; vom nächsten Ball bringst du mir gewiss mehr Kotillonsträusse nach Haus als sonst.“
„Über den lumpigen einen von Hauptmann Xylander bring ich’s doch nicht!“ murmelte sie.
„Ich bleibe auf und sehe sie mir noch in der Nacht an.“ Der Vater hob mit dem Zeigefinger das Kinn der Tochter in die Höhe. „Du machst mir die Freude, Nelda, nicht wahr?“
Sie sah ihm fest in die Augen, ganz lange, ganz ernsthaft — da tönte plötzlich unten im Flur eine klagende Stimme.
„Mein Gott, wer hat die Stubentür sperrangelweit aufgelassen? Das ganze Zimmer ist ausgekältet. Laura, Laura, wo stecken Sie, haben Sie das denn nicht gemerkt? Es ist ja rein grässlich, all die Kohlen, das ganze Holz umsonst! Das ist wirklich zum Weinen!“
Die Verteidigungsrede der Magd war nicht zu verstehen, nur undeutliches Stimmengewirr schallte nach oben.
Jetzt knarrte die Treppe, die Tür ging auf. Frau Rätin Dallmer kam vom Kaffee. Mit kläglicher Miene stand sie auf der Schwelle, ihre zarte Gestalt verschwand fast in dem weiten Abendmantel, ihre Nase guckte spitz und weiss aus der dunklen Kapuze.
„Es ist doch schrecklich,“ jammerte sie, „kaum kommt man nach Haus, geht der Ärger los. Nelda, du hast wieder die Tür sperrangelweit offen gelassen! Wie konntest du? Ich sage ja —“
„Guten Abend, Lorchen!“ schnitt Dallmer ihr die Rede ab.
„Guten Abend, Mama!“ kam es kleinlaut von den Lippen der Tochter.
„Guten Abend, guten Abend,“ nickte Frau Dallmer hastig.
„Nun, wie hast du dich amüsiert, Mutterchen?“ fragte der Mann.
„Ach, ausgezeichnet!“ seufzte die Rätin und sank auf den nächsten Stuhl, Mantel und Kapuze lockernd.
„Was sind das für liebe Menschen! Nur die Planke ist verrückt, rein verrückt! Die passte gut zu Nelda mit ihren verschrobenen Ansichten. Wirklich ein Skandal, wie sie geredet hat! Aber mein Gott, ich hab ja gar keine Ehre, was über sie zu sagen, wenn die eigne Tochter —“
„Mutter, wie kannst du mich mit der Planke vergleichen?“ unterbrach sie Nelda brüsk. „Die schimpft auf die Männer, weil sie keinen kriegt, und hebt das weibliche Geschlecht in den Himmel — ich schimpfe ja gar nicht, ich hebe nur nicht in den Himmel. Sie sind mir alle Jacke wie Hose!“
„Um Gottes willen!“ Frau Dallmer rang die Hände. „Was sind das für unanständige Redensarten! Die Oberkonsistorialrätin hat ganz recht, wenn sie sich über Nelda aufhält und ihr Milchen am liebsten nicht mehr ins Kränzchen liesse; man muss sich schämen. Aber ihr lasst mich ja nie ausreden! An dir, Joseph, hab ich auch gar keine Unterstützung! Ich bin wirklich eine beklagenswerte Mutter!“
Sie schluchzte auf, und die Tränen begannen ihr über die Wangen zu rinnen.
Der blasse Mann auf dem Sofa rückte unruhig hin und her und machte Miene aufzustehen — da war Nelda schon bei der Mutter. Sie hatte bis dahin mit trotzigem Gesicht gestanden, die Brauen finster zusammengezogen; nun wurde sie glühend rot und kauerte vor der Weinenden nieder, wie vorher beim Vater.
„Mama, o sei wieder gut! Mama, es tut mir so schrecklich leid, dass du dich geärgert hast“ — sie drückte ihr Gesicht an das dünne grauseidne Kaffee-Staatsfähnchen — „lass doch die Zänglein reden! Und die Tür, das kam, weil ich den Papa husten hörte, da rannte ich schnell herauf. Meine goldige Mutter, sei wieder gut, weine nicht! Du sollst nicht weinen,“ rief sie lauter, mit dem Fuss aufstampfend.
„Ich weine ja gar nicht mehr.“
Frau Rätin trocknete ihre Tränen und machte ein ganz vergnügtes Gesicht.
„Nein, denkt euch, die hübsche Agnes Röder heiratet schon bald! Die Zänglein erzählte es, ihr Mann traut. Die Hochzeit muss ich sehen! Schade, Neldachen, dass du nicht eingeladen wirst; es wäre eine Gelegenheit. Übrigens, hast du deinen Tüllrock fertig? Kommt jetzt beide, es ist über neun, ihr habt noch kein Abendbrot — ich kann nichts mehr essen, bei der Doktorin war’s sehr gut. Nimm die Lampe, Kind, unten ist’s dunkel.“
Frau Dallmer trippelte eilig die Treppe hinunter. Vor der grossen, hagern Gestalt des Vaters schritt Nelda her, die Lampe mit kräftiger Hand hoch haltend. Der Schein fiel voll auf ihre weichen gesunden Wangen und spielte über die Stirn unter den widerspenstigen aschblonden Haarringeln.
Sie hatte ein tiefes Fältchen über der Nasenwurzel.