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Ferdinand von Ramer und Paul Xylander kannten sich von Jugend an. Sie waren im Kadettenkorps zusammen gewesen; wenn auch der ältere Xylander dem anderen um mehrere Klassen vorauf war, gemeinsames Turnen, gemeinsame Spiele und Spaziergänge hatten sie doch mit einander bekannt gemacht.

Nach Jahren traf man sich in der gleichen Garnison wieder, der eine als Sekond-, der andre als Premierleutnant. Dem liebenswürdig-herzlichen Wesen Xylanders war schwer zu widerstehen, selbst Ramer, der allezeit Zurückhaltende, fühlte sich lebhaft angezogen. Man frischte Kindheitserinnerungen auf, man lachte über längst Vergangenes, man erzählte von diesem alten Lehrer und jenem; es war gerade kein warmes, intimes Zusammensein, dazu neigte der Jüngere nicht, aber es war eine gegenseitige Achtung, ein aufrichtiges Wohlwollen, was man im Leben so allgemein Freundschaft nennt.

Sie kamen dann auseinander; Xylander wurde versetzt, heiratete, wurde dahin und dorthin geworfen, lebte als Hauptmann in Koblenz und hörte kaum mehr von dem früheren Kameraden. Immer hatte er schreiben wollen, eigne Freuden, eigne Sorgen nahmen ihn in Anspruch; da gelangte eine Kunde an sein Ohr, die ihn tief erschütterte.

Ramers Vater war Militär, ein Mann von Meriten, die Brust voller Orden; er lebte als Kommandant von Hannover auf einer Art Ruheposten, aber immerhin in einer Stellung, die die Blicke auf sich zog. Wenn der alte Herr mit dem eisgrauen Schnurrbart, das schöne, noch frische Gesicht in vornehmer Ruhe, seinen Morgenritt durch die Promenaden der Stadt machte, zogen die Bürger ehrfurchtsvoll den Hut. Er grüsste freundlich mit leutseligem Lächeln; er war beliebt bei jung und alt.

Kein Diner ohne den alten Ramer; er führte stets die Hausfrau zu Tisch, die schönsten Mädchen gaukelten mit kindlicher Schmeichelei um ihn herum. Papa Ramer, Papachen Ramer, ach, das reizende Papachen! Sie küssten die zierlichen Fingerspitzen und warfen ihm die schmelzendsten Blicke zu.

Der Kommandant machte ein sehr angenehmes Haus. Wie er’s fertig brachte, ohne persönliches Vermögen, war freilich unklar; nun, er musste es doch können. Die drei Töchter hatten sich verheiratet, sie waren nicht besonders hübsch; allen dreien musste er Zulage geben, sonst wäre nichts aus den Partien geworden. Der Sohn als Leutnant brauchte doch auch etwas — aber wen ging’s was an? Haus, Dienerschaft, Reitpferde, alles elegant; den dunklen Gerüchten, die plötzlich auftauchten, um ebenso plötzlich zu verschwinden, schenkte kein Mensch Glauben.

Da brach es eines Tages herein mit Donnergekrach, dass den guten Bewohnern von Hannover die Ohren gellten und die schönen Bewundrerinnen des ‚reizenden Papachens‘ entsetzt in alle Winde flatterten. Die Polizei hob eine Spielhölle auf im Haus der berühmten und berüchtigten Stadtschönheit, Madame Adrienne Gwiazdowska.

Dies exotische Gewächs war, Gott weiss woher erschienen, fuhr in eigner Equipage, schmachtend hingegossen, täglich durch die Strassen, mit ihren grossen schwarzen Augenrädern und Similibrillanten einen Haufen Verehrer an sich lockend. Manchen war diese ‚Dame aus der Fremde‘ bald verdächtig; man munkelte und wusste doch nichts Bestimmtes. An einem späten Abend stieg der Polizeichef selbst, mit der nötigen Begleitung, die teppichbelegten Stufen zu Madame Adriennes Wohnung hinauf, schob die erbleichenden Diener zur Seite und überraschte die Spielgesellschaft in flagranti, neben der schönen Exotischen im zärtlichsten Einverständnis — den hochgeehrten allbeliebten Kommandanten von Ramer!

Ein Entsetzensschrei, eine Panik sondergleichen. Die Spannung aller Kreise ging ins Unglaubliche. Von Tag zu Tag entrollten sich schwärzere Bilder, wunderbare Dinge gelangten plötzlich in die Öffentlichkeit; Personen, deren Unantastbarkeit über allen Zweifel erhaben gewesen, wurden mit hineingezogen, die Zeitungsschreiber allerorten hatten überwältigenden Stoff. Majestät mischte sich persönlich ein. In dem eleganten Haushalt des Herrn Kommandanten wurde alles versiegelt; man munkelte von unterschlagenen Geldern, Kassendefekten. Die arme Frau von Ramer, die stets schüchtern und gedrückt neben dem glänzenderen Gatten dahingelebt hatte, brachte man in eine Irrenanstalt. Mit einem markerschütternden Getöse brach der ganze stolze Bau von Ehre, Reputation, Wohlanständigkeit zusammen. Was blieb dem ‚reizenden Papachen‘, dem unglücklichen Menschen übrig —?! Nur der Mut der Verzweiflung, der die Pistole in die gekrallten Finger drückt und mit eisig kaltem Flüstern ins Ohr raunt: „Schiess — schiess!“ Kommandant von Ramer schoss sich tot. Er hinterliess seinen Kindern nichts als ein Gefühl unauslöschlicher Schande — seinem Sohn einen gebrandmarkten Namen. Majestät waren sehr gnädig. Als Leutnant von Ramer in bitterster Verzweiflung seinen Abschied einreichte, kam ein huldvolles Handschreiben:

‚Es sei ferne von uns, den Sohn für den Vater verantwortlich zu machen. Wir wünschen nicht, einen braven Offizier unsrer Armee zu verlieren.“

O diese Huld — und doch diese Pein! Tage, die dahinschlichen! Nächte, Nächte, die das verstörte Gemüt an die Grenze des Wahnsinns hetzten!

Er griff nicht zur Todeswaffe, wie die Kameraden fürchteten, die sorglich alles aus dem Wege räumten; er rang sich durch. Aber ein innerstes Verzagen blieb, eine unauslöschliche Bitterkeit, ein krankhaftes Sichverschliessen. Am liebsten hätte sich Ramer in einen Winkel verkrochen, den nie ein Lichtstrahl trifft; alles, jedes tat ihm weh, das gutgemeinte Mitgefühl, die zarte Rücksichtnahme der Kameraden — ah, was hatten sie, was wollten sie, warum taten sie behutsam wie mit einem Kranken?! Misstrauen packte ihn. Er fühlte sich getroffen von jeder harmlosen Bemerkung, er zuckte zusammen, wenn ein Fremder ihm gegenübertrat und er seinen Namen nennen musste — den schrecklichen, schmachvollen Namen. Der Name war sein Fluch; es ging ihm ein Zittern mitten durchs Herz, wenn jemand ‚Ramer‘ sagte. Die fixe Idee setzte sich in ihm fest: du bist ein Gebrandmarkter, du hast zu verzichten auf alle Freuden von Leben und Liebe. Nur nicht den Namen fortpflanzen, nur nicht noch andere mit hineinziehen in die unauslöschliche Schande — allein, zu Ende!

Ferdinand von Ramer stand seit wenigen Wochen in der Garnison Koblenz. Mit offenen Armen hatte ihn sein alter Kamerad Xylander empfangen. Bald nach der Katastrophe hatte ihm dieser einen wahrhaft freundschaftlichen Brief geschrieben, Ramer hatte sich nicht entschliessen können, zu antworten; diese Versäumnis tat der Herzlichkeit des Wiedersehens keinen Abbruch.

„Willkommen, alter Junge!“ hatte der Hauptmann gesagt. „Siehst du, hier ist meine Frau, hier sind meine Kinder, komm zu uns, so oft du magst! Und nun, lieber Freund, musst du wieder heraus in die Welt; es geht nicht anders!“

Paul Xylander konnte trefflich zureden mit seiner angenehmen Stimme; es war noch gerade wie früher, der Jüngere mochte und konnte sich den ruhigen, herzlichen Worten nicht verschliessen. Keine sechs Wochen waren verstrichen und Leutnant von Ramer besuchte den Kasinoball. Schwer war es ihm angekommen, er tat’s dem Freund zuliebe; aber ein Gefühl grenzenloser Vereinsamung überkam ihn inmitten des Trubels. Da war keins unter diesen lachenden, kokettierenden Geschöpfen, das ihn hätte erheitern können; sie waren auch gar nicht begierig darnach. Leutnant von Ramer — Ramer — puh! Nur das Mädchen mit den klaren Augen und der freimütigen Sprache nötigte ihm einiges Interesse ab. Diese Nelda Dallmer! Bei jedem Tanz holte er sie zu einer Extratour, er klammerte sich in seiner Vereinsamung an sie wie ein Ertrinkender an den Strohhalm; als es zu Tisch ging, war sie seine Dame.

Frau Rätin Dallmer war nicht zufrieden mit dem erklärten Herrn ihrer Tochter, sie winkte sie heimlich beiseite. „Nelda,“ flüsterte sie, „lass den Menschen etwas abfallen! Ist ja gar keine Partie — ich bitte dich, und dann dieser Name! Alle sprechen sie schon darüber. Ich finde es direkt unverschämt, sich mit dem Namen in die Gesellschaft zu drängen. Alle sagen —“

„Wer sagt?“ unterbrach Nelda laut und hart, eine glühende Blutwelle schoss ihr ins Gesicht. „Deine Frau Zänglein und Konsorten!“

„Pst, pst, Nelda, nicht so laut — um Gottes willen!“

Ohne weiteres Wort, mit einem Zucken der Schultern, wandte sich das Mädchen ab und schritt quer über den Saal auf Leutnant von Ramer zu, der mit untergeschlagenen Armen finster dastand. Sie legte ihm die Hand auf den Ärmel:

„Bitte, wollen wir jetzt zu Tisch gehen?“ Dabei lächelte sie ihn freundlich an.

Frau Dallmer war ausser sich; sie gebärdete sich wie eine Henne, die Enteneier ausgebrütet hat und der nun die Brut auf dem Wasser schwimmt, anstatt sich unter die schützenden Flügel zu ducken. Sie rannte unruhig hin und her, ihr armes kleines Gesicht trug einen verängstigten Ausdruck, der schlecht zu dem Seidenfähnchen, der Spitzenhaube, dem Lichtglanz und der Musik passte.

„Beste,“ raunte ihr die Oberkonsistorialrätin zu, „leiden Sie es doch nicht, dass Ihre Nelda sich so ausschliesslich dem einen Herrn widmet. Das fällt auf!“

„Mama!“ Milchen kam gelaufen und schmiegte mit zarter Kindlichkeit ihr Finnengesicht an die stattliche Wange der Mutter. „Denke, wie entzückend! Herr Emil Bovenhagen hat mich zum Souper engagiert!“ Sie kicherte verschämt in sich hinein.

„Ah — ah!“

Die Stimme der Oberkonsistorialrätin erstarb in eitel Wonne; der armen Dallmer gab es einen Stich durchs Herz. Bovenhagen war der reichste Hüttenwerkbesitzer im Lahntal — diese Partie! Und den sollte Milchen mit dem Finnengesicht ergattern und ihre Nelda leer ausgehen?! Wie gern hätte die kleine Rätin geweint, aber das durfte sie doch nicht; sie rappelte sich auf und zwang sich zu einem Lächeln.

Es ging schon auf Mitternacht. Das Scharren und Stühlerücken hatte endlich aufgehört, man sass gemütlich beim Souper. Der Wein löste den Herren die Zungen, die jungen Damen hatten glänzende Augen; Neckereien und Komplimente flogen über den Tisch. Was bei nüchternem Tageslicht eine fade Bemerkung war, hier wurde es zum Witz. Ballsaalbeleuchtung, Ballsaalatmosphäre!

Die schöne Anselma von Koch hatte einen ganzen Hofstaat um sich; sie verteilte jetzt die Blitze ihrer grossen Augen gerechter, ihr Landrat hatte plötzlich eine Schwenkung nach rechts gemacht, wo die allerliebste kleine Röhling sass. Fräulein Anselma mass beide, den sicher Geglaubten wie die teure Freundin, mit spöttischem Lächeln. „Metall zieht Metall an,“ lächelte sie boshaft und senkte die langen Wimpern ihrer strahlenden Augen sanft auf die Wange.

„Göttlich! Famos!“

Die Leutnants erstickten fast vor Lachen und massen doch den Zivilisten mit neidischen Blicken: erst die anerkannteste Schönheit weggeschnappt, und nun auch den kleinen Goldfisch gekapert! Die Herren vom zweierlei Tuch waren nicht dumm, sie wussten sich ganz gut die plötzliche Liebenswürdigkeit der schönen Koch zu erklären.

Das war ein Courmachen, Gelächter, Gläserklingen, Schwadronieren sondergleichen.

Nelda Dallmer und ihr Herr hatten lange keinen Platz gefunden; überall hockten die Cliquen beisammen oder die Plätze waren für gute Freunde belegt. Ramer hatte gar keine Art sich Geltung zu verschaffen, mit einer stummen Verbeugung trat er jedes Mal zurück. Nelda blickte starr vor sich hin; vor ihren Augen schwamm ein zorniges Rot, sie sah nichts, sie fühlte nur eine glühende Empörung in sich aufwallen. Trotzig kehrte sie sich ab, da — es zupfte sie jemand, eine freundliche Stimme sagte heiter: „Nelda — du — wollt ihr nicht hier Platz nehmen? Hier sind gerade noch zwei Stühle!“

Wie einen warmen Hauch fühlte Nelda die freundliche Stimme; sie sah sich um — richtig, da waren noch zwei Stühle!

„Wie ich mich freue,“ sagte Agnes Röder herzlich, „erlaube, dass ich dir meinen Bräutigam vorstelle! Ah, richtig, ihr kennt euch ja wohl schon, das ist schön! Nicht wahr, Carlo, ich habe dir doch oft aus der Schule von Nelda Dallmer erzählt? Sie war immer so drollig!“

Der Bräutigam in der tadellosen Gardeuniform verbeugte sich artig:

„Ah, sehr erfreut, gnädiges Fräulein, ausserordentlich erfreut! Heute so voll hier, dass man gar nicht alle Bekannten findet. Darf ich bitten, Platz zu nehmen — gestatten!“

Herr von Osten hatte Manieren; da der andere gar keine Anstalten traf, sich vorzustellen, musste er doch — eigentlich lächerlich, er, Garde! — dem von der Linie!

„Von Osten.“

„Von Ramer,“ murmelte der andre.

Man setzte sich; die beiden Mädchen nebeneinander, die Herren zu den Seiten.

„Weisst du,“ plauderte die kleine Braut, „der reine Zufall, dass hier noch Platz war. Wir hatten uns mit der Cousine von Carlo und ihrem Mann verabredet, nun weiss ich nicht, wo sie geblieben sind. Ich freue mich viel mehr, dass du hier sitzest,“ flüsterte sie. „Es ist dir doch recht, wenn wir uns noch ‚du‘ nennen?“

„Ja!“

Nelda blickte verwirrt auf das zarte Geschöpfchen an ihrer Seite. War das die Agnes Röder von früher? Merkwürdig, wie die sich verändert hatte! Ob das die Liebe machte?

Nelda hatte die einstmalige Schulgenossin lange nicht gesehen. Zwei Jahre war Agnes in einer hochfeinen Pension Brüssels gewesen, kaum zurückgekehrt und eben in der Gesellschaft aufgetaucht, verlobte sie sich. Das ging Schlag auf Schlag; man sprach sogar von anderen Bewerbern, die schon abgewiesen worden wären. Röders waren dann verreist, erst mit dem Brautpaar an die Riviera, zuletzt mit der Tochter allein nach Paris, um den ‚Trousseau‘ anzuschaffen; ganz Koblenz sprach von der Pracht. Agnes Röder war immer hübsch gewesen, aber hübsch wie die süssen Frätzchen auf Broschen und Dosen in den Schaufenstern, so ein sanftes Madonnengesichtchen mit nichtssagendem Lächeln und ewiger Freundlichkeit, das Ideal aller Welt.

‚Agnes Röder — engelhaft — höchste Weiblichkeit‘ — wie oft waren diese Worte an Neldas Ohr vorübergeglitten. ‚Schaf‘ hatte sie kurz und bündig das Weiblichkeitsideal tituliert.

Eine tiefe Röte stieg ihr in die Wangen, ihr ehrliches Herz schämte sich der spottenden Bemerkungen über das ‚kleine Schaf im goldenen Stall‘. Es war Wärme in ihrem Ton, als sie, der neben ihr Sitzenden des Gesicht voll zuwendend, sagte:

„Nett von dir, Agnes, dass du dich meiner freundlich erinnerst! Ich habe es eigentlich nicht um dich verdient.“

„Ach was — lass doch die kleinen Neckereien! Ich weiss wohl, du hast dich immer ein bisschen über mich lustig gemacht, aber das tut nichts. Ich habe dich immer lieber leiden mögen, als all die andern in der Schule; ich hätte gern mit dir verkehrt, aber ich dachte, du möchtest nicht. Aber nun besuchst du mich mal, nicht wahr?“ Sie drückte Nelda die Hand.

„Jetzt in deinem Glück wirst du keine Zeit haben, du heiratest ja bald.“

„O, nein, nein, ich habe Zeit; du musst kommen! Nicht wahr, Carlo,“ wandte sie sich eifrig an ihren Bräutigam, „es wäre reizend, wenn Nelda uns besuchte?“

„Natürlich! Ausserordentlich erfreut, sehr angenehm, grosser Vorzug!“

„Siehst du, wie er sich freut!“ Und sich näher zu Nelda beugend, flüsterte Agnes Röder: „Ist er nicht schön? Und so gut und klug und liebenswürdig!“ Ein zärtliches Lächeln verklärte ihr reizendes Gesicht. „Ich bin zu glücklich!“

Sie schob ihren Arm in den der andern und drückte diesen leise.

„Weil ich glücklich bin, möchte ich auch alle Welt glücklich machen, ich bin so voll von Liebe. Magst du mich denn ein bisschen leiden, ja?“

Ihre schönen braunen Augen suchten mit schüchterner Bitte Neldas Blick. In einer plötzlichen Aufwallung beugte diese den Kopf und drückte einen raschen Kuss auf die rosige Wange der kleinen Braut.

Ramer hatte stumm gesessen, jetzt wandte sich Nelda ihm zu, und seine Züge belebten sich. Es sprach sich gut mit Fräulein Dallmer. Ihre Augen sahen ihn verständnisinnig an, sie zogen ihm förmlich die Worte von den Lippen. Er sagte mehr, als er sagen wollte. Was er noch nie getan, er berührte sein Unglück, wenn auch nur flüchtig, wie etwas als bekannt Vorausgesetztes; aber man hörte seinem Ton die Erregung an. Es war ihm ordentlich Bedürfnis, einmal aus sich heraus zu gehen und dabei das Kommen und Gehen der Farbe auf dem Mädchengesicht zu beobachten, dem teilnahmsvollen Klang ihrer Stimme zu lauschen.

Ein seltsames Gespräch für einen Ballsaal. Rund umher strahlende Gesichter — Blicke, die wie zugespitzte Pfeile fliegen — Lachen, Kokettieren ohne Ende — dazwischen die zwei, scheinbar ganz abgeschieden von der Fröhlichkeit.

Und doch war Nelda froh. Als das Brautpaar mit ihr anstiess, lachte sie: „Auf Ihr Glück — auf dein Glück, Agnes! Profit!“

„Auf dein Glück!“ erwiderte die Braut.

„Kommen Sie, Herr von Ramer, darauf stossen wir auch einmal an!“ Nelda rief es übermütig und hob rasch ihr Glas an das seine. Ihre Blicke begegneten sich — ein heftiger Ruck — kling klang — zerbrochen, der dünne Stiel durchgeknickt. Auf dem Tische lagen Scherben, und der Wein floss über das weisse Tuch. Wie unangenehm! Gut, dass Frau Rätin im Nebensaal speiste.

Die Tafel wurde aufgehoben, man schwärmte zum Kotillon aus. Nelda Dallmer und Leutnant von Ramer tanzten auch den zusammen. — — —

So ging das herrliche Fest zu Ende. In der Garderobe dasselbe Bild wie zu Anfang: rauschende Mütter, wispernde Töchter, segelnde Fregatten, geschwellt vom Gefühl des Triumphs. Aber das Gespräch der Mütter nicht mehr so flüssig, bleischwer senkte sich die Abspannung herab. Die Haare der Töchter nicht mehr so lieblich geordnet; mit gelöstem Lockengekräusel, verschwitzten, glühenden Gesichtern, zerdrückten Kleidern glichen sie Mänaden.

Es zog furchtbar auf der Schiffsbrücke. Die dunklen Wellen des Stroms wurden vom Wind gepeitscht; am Himmel jagten sich Wolken, für Augenblicke schimmerte ein klägliches Mondlicht vor, aber es wurde gleich wieder verdeckt von neuen schwarzen Ballen. Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die Scheiben der flackernden Laternen.

Frau Rätin Dallmer liess sich von Hauptmann Xylander führen; die Chausseenachbarn hatten sich nach Schluss des Balles zusammengefunden. Ängstlich klammerte sie sich an den stützenden Arm, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen; sie sah und hörte nicht. An ihrer andern Seite stapfte mutig Frau Elisabeth; sie hatte grossmütig auf den Arm ihres Mannes verzichtet, war trotz des schlechten Wetters bester Stimmung und plauderte munter von Toiletten, Courmachereien und allem möglichen.

Hinterher wanderten noch zwei Gestalten; Nelda und ihr Tänzer vom heutigen Abend, Leutnant von Ramer. Er hatte um den Vorzug gebeten, sich den Damen anschliessen zu dürfen, er wohnte auch drüben, unweit der Brücke. Drunten auf der Strasse, entfernt vom Ballgetriebe und Späherblicken, war Frau Rätin gnädiger; schliesslich war’s doch immer nett, wenn die Tochter verehrt wurde, und angenehm, den Heimweg unter doppeltem Schutz zu machen.

Es war schon spät — zwei Uhr — das Leben vollständig erloschen. In der Häuserreihe längs des Rheins, selbst in den grossen Hotels am Landungsplatz, keine Beleuchtung mehr; oben auf dem Ehrenbreitstein noch ein einsames Licht, wie ein schwach schimmernder Stern glomm es nieder. Dunkel schaukelte die Rheinflut; die zwei, drei Laternen an den Pfählen warfen zitternde Kringel darüber hin. Ein Sausen war in der Luft, ein Rauschen im Wasser, die Brückenbohlen schütterten leicht.

„Wenn wir jetzt versänken,“ sagte Nelda plötzlich.

„Um Sie wäre es schade, um mich nicht!“ Ramers Stimme hatte einen bitteren Tonfall.

Sie blieben beide stehen, lehnten sich übers Geländer und schauten hinab. Das Wasser ging hoch. Eine bange Kühle stieg von unten herauf und machte Nelda erschauern; sie hatte den Mantel gelockert, damit er den kleinen Kamelienstrauss an ihrer Brust nicht zerdrückte, nun zog sie ihn fester um sich.

„Geht es Ihnen auch so wie mir?“ fragte die Stimme ihres Begleiters. „Wenn Sie am Wasser stehen und hineinsehen, packt Sie da nicht auch die Lust hinab zu springen und sich im Untergehen willenlos treiben zu lassen, Gott weiss wohin?“

„Nein, das kenne ich nicht,“ — sie wandte ihm das Gesicht zu — „da müsste ich sehr unglücklich sein. So unglücklich, wie ich es mir jetzt gar nicht denken kann. Ich will nicht untergehen ohne Kampf, ich würde mich wehren, ja, bis zum Letzten. Nur nicht so kraftlos versinken! Ach“ — sie lockerte den Mantel wieder und warf den Kopf zurück, mit geblähten Nasenflügeln sog sie die frische Luft ein — „so unglücklich ist niemand, dass er ganz und gar die Courage zu verlieren braucht!“

„So — meinen Sie? — — — Ich bin so unglücklich!“ Heraus war’s. Er hätte das Wort gern zurückgerufen, lautgesprochen kam’s ihm übertrieben vor. Lächerlich, einem jungen wildfremden Mädchen seine Gefühle anzuvertrauen! Es war gegen jede Form.

Sie sah ihn an, ein grenzenloses Mitleid überkam sie; ein Mitleid mit Unverstandenem, mit ihm, mit der ganzen Welt. Ihr Herz klopfte rascher, ohne Bedenken streckte sie die Hand aus dem Mantel und fasste nach der seinen.

„Sie dürfen nicht so unglücklich sein — nein, nein!“ Gesteigerte Erregung klang aus ihrer Stimme; der Tanz, die Musik, die einsame Nacht, die Übermüdung machten sich geltend, sie wusste selbst nicht, was ihr so unbedacht über die Lippen glitt:

„Ich kann’s nicht gut anhören!“

Er führte ihre Hand an seinen Mund, dann liess er sie fallen. — — —

„Nelda, Nelda! Herr von Ramer! Schneller, schneller!“

Wie ein Trompetenstoss klang die helle Stimme der Frau Hauptmann durch die Nacht. Die beiden Nachzügler setzten sich in Trab, stillschweigend liefen sie nebeneinander her, am Brückenende holten sie die andern ein.

„Nicht so langsam,“ flüsterte Paul Xylander verstohlen an Neldas Seite, „die Mama ist ärgerlich!“

Lächelnd zwinkerte das junge Mädchen dem guten Freund zu, ein Wort war nicht möglich, denn Frau Rätin fasste jetzt ziemlich energisch das Handgelenk ihrer Tochter: „Komm hierher, Nelda!“ Sie war wieder ungnädig.

Die schmutzige Chaussee patschte unter ihren Füssen; es wurde wenig mehr gesprochen, jeder hatte zu achten, wohin er trat. Endlich war die Tür des Dallmerschen Hauses erreicht. „Mein Gott, der Papa ist noch wach?“ Nelda wies hinauf zum Zimmer des Vaters, wo noch Licht schimmerte. „Der gute Papa, er wacht für mich!“ Sie klingelten, das Licht im Fenster verschwand, durch die Stille hörte man innen die Stiege knarren.

„Jetzt kommt er!“

„Gute Nacht, gute Nacht, meine Herrschaften, lassen Sie sich’s wohl bekommen!“

„Gleichfalls! Gute Nacht, gnädige Frau! Gute Nacht, Fräulein Nelda, lassen Sie sich bald bei uns sehen — gemütlich, ohne Ansage!“

Allgemeines Händeschütteln und Empfehlen.

„Gute Nacht,“ sagte Nelda, und ihre Hand ruhte einen Augenblick länger in der des jungen Mannes.

‚Nettes, kluges Mädchen,‘ dachte Leutnant Ramer, als er allein die Chaussee nach Ehrenbreitstein zurückschritt. ‚Aber selbst wenn sie mir noch tausendmal besser gefiele, als sie mir gefällt — für mich ist ja alles ausgeschlossen — für immer!‘

Regierungsrat Dallmer hatte lange auf seine Damen gewartet; blass und übernächtig stand er im Flur vor ihnen, die Lampe in der wachsbleichen Hand, mit den vortretenden blauen Adern. Er hüstelte.

„Nun, mein Kind, wie war’s?“

Statt der Tochter antwortete die Mutter, sie brach in einen Strom von Klagen aus. Alle hätten es gesagt — ganz abscheulich, der Mutter zum Trotz! Ein Kreuz, mit Nelda auf den Ball zu gehen! Und so weiter, und so weiter. Nelda stand in Mantel und Kapuze und liess alles ruhig über sich ergehen, sie hörte gar nicht, was da gesagt wurde.

Jetzt trat sie auf den Vater zu und schlang beide Arme um seinen Hals.

„Papa, diesmal ist’s doch ein Fortschritt,“ lachte sie fröhlich, „ich habe zwei Kotillonbuketts. Das eine von Xylander, das andre — riech mal!“

Sie nahm das kleine Sträusschen, eine rote Kamelie und wenige Veilchen, von der Brust und hielt es ihm entgegen.

„Schön, nicht wahr? Und nun gut’ Nacht, ich bin todmüde!“

Sie küsste den Vater wiederholt und strich der Mutter über die Wange.

„Solch eine grässliche Tochter! Arme Mama!“ Mit Lachen sprang sie die Treppe hinan, vom obersten Flur tönte bald ihr hüpfender Schritt.

„Sie ist vergnügt,“ sagte Dallmer zufrieden und lauschte.

„Du mein Gott,“ seufzte die Frau, „ich möchte wissen, warum? Wieder gar keine Aussichten! Aber sie ist selbst schuld daran, ein Mädchen ohne Vermögen muss doppelt entgegenkommend sein. Das arme Kind!“

Mit einem Seufzer schritt die Rätin ihrem Mann voraus in die Schlafstube.

Rheinlandstöchter

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